In den italienischen Medien und auch im Parlament wurde vor den italienischen Wahlen seit 2017 intensiv diskutiert, ob man angesichts des „Austeritätsdiktats“ der autokratischen und wegen ihrer permanenten hohen Leistungsbilanzüberschüsse merkantilistischen Deutschen nicht endlich aus der Eurozone austreten solle. Diese Diskussion findet vor dem Hintergrund einer staatlichen Rekordverschuldung, seit Jahrzehnten viel zu niedrigen Produktivität des Landes, dauerhaft geringerer Wachstumsraten als Portugal, Spanien und Frankreich und zunehmender struktureller Arbeitslosigkeit statt. Gar eine Serie zum Thema „ExItaly“ gab die italienische Zeitung Il Sole 24ore seit April 2017 heraus. Auch das italienische Abgeordnetenhaus debattierte jüngst das Thema „Italienische Staatschulden in der Eurozone“. Auch ich durfte zu dieser Debatte als Keynote Speaker einen Beitrag leisten. Mein Rat an die Italiener lautete: ein Austritt aus der Eurozone lohnt sich für das Land nicht. Was aber sind die Argumente dafür?
Zunächst lohnt ein Blick auf die europäische Währungsgeschichte Italiens. Gibt es Parallelen der heutigen „Euro“-Krise Italiens mit der Krise des europäischen Währungssystems in den 90er Jahren, die Italien letztlich aus dem Europäischen Währungssystem herauskatapultierte und auch nach 1992/93, als die Lira bereits zu einem flexiblen Wechselkurs gehandelt wurde, für Italien-bezogene Turbulenzen an den Märkten sorgte?
Ein Vergleich dieser Periode flexibler Wechselkurse mit der Eurokrise legt nahe, dass der spekulative Druck heute viel geringer als damals ist. Der „Schneeball-Faktor“, d.h. die Differenz zwischen den Zinskosten und dem Wirtschaftswachstum, bewegt sich heutzutage um 2 bis 3 Prozentpunkte, also stark unter dem Niveau der frühen 90er Jahre. Und sein Maximum, das 2012 erreicht wurde, verbleibt stark unter dem Spitzenniveau der 90er Jahre. Der „Spread“ gegenüber den „risikofreien“ deutschen Anleihen müsste sich demnach verdoppeln, damit wieder dasselbe Spannungsniveau wie fünfundzwanzig Jahre zuvor erreicht wird. Darüber hinaus belaufen sich die Zinszahlungen auf die italienischen Staatsschulden heute auf weniger als die Hälfte des Anteils während der 90er Jahre. Und es würde heutzutage mehrere Jahre dauern, bis sich höhere Zinsen in materiell höhere Zinsausgaben für den italienischen Staat übersetzen.
Der teilweise Zusammenbruch des EWS und der Ausstieg Italiens 1993 legt in Bezug auf die Frage der Sinnhaftigkeit eines Ausstiegs aus der Europäischen Währungsunion eine falsche Fährte. Er kann aus Sicht Italiens kaum als Argument für einen Austritt aus der EWU dienen. Die Tatsache, dass es sich 1992/93 für Italien als unmöglich erwies, ein System fester Wechselkurse bei freien Kapitalmärkten zu verteidigen, bedeutet nicht automatisch, dass die Wiedereinführung der Lira und flexible Wechselkurse das Land nach seinem EWU-Austritt gegen spekulative Attacken auf den Märkten für Staatsanleihen abschirmen würden. Die auf den EWS-Austritt 1993 folgenden historischen Erfahrungen Italiens, besonders im Jahr 1995, haben gezeigt, dass ein hoch verschuldetes Land selbst bei flexiblen Wechselkursen gezwungen werden kann, sehr hohe Risikoprämien zu zahlen. Aus einem Vergleich mit der EWS-Krise in den 90er Jahren lässt sich also kein gewichtiges Argument für einen Euro-Austritt Italiens ableiten.
Zudem sollte Italien in seinem Zorn auf den “Zuchtmeister“ Deutschland bei seiner Entscheidung über den Verbleib in der Eurozone Eines beachten: den sich abzeichnenden langsamen relativen Abstieg Deutschlands als politischer und ökonomischer Hegemon in Europa. Während der Finanzkrise und der europäischen Schulden- und Bankenkrise hatte Deutschland in der Tat noch eine Schlüsselposition inne. Die Wirtschaft des Landes erwies sich als stärker als andere und die Arbeitslosigkeit blieb niedrig. Nicht überraschend lautete in dieser Phase die Devise, wie es der Direktor des Brüsseler Centre for European Policy Studies, Daniel Gros, einmal treffend ausdrückte: “Cash is king“ und die Regeln der Gläubiger dominierten das Krisengeschehen. Mittlerweile aber ist Liquidität überreichlich vorhanden und die Renditen sind negativ.
Angesichts der Ersparnisüberschüsse allerorten haben Gläubiger wie Deutschland keinen strategischen Vorteil mehr. Stattdessen kommen die zugrunde liegenden Fundamentaldaten in Gestalt einer schwachen Demografie- und Produktivitätsentwicklung zum Vorschein. Ein Blick zurück und auch in die Zukunft liefert entsprechend nur wenig Hinweise auf eine deutsche Überperformance beim Wachstum. Die deutsche BIP-Wachstumsrate lag mindestens seit 1995 bis 2005, dann 2008 bis 2010 und erneut seit 2015 unterhalb der für Italien, Spanien und Frankreich gemittelten Wachstumsrate. Nach Prognosen des IWF wird das auch erst einmal bis 2020 so bleiben.
Deutschland profitierte in den letzten Jahren zwar vom Investitionsboom in den “˜BRICs’, besonders in China. Brasilien und Russland haben sich jedoch von den BRICs erst einmal verabschiedet. Und die Wachstumsabschwächung in China bedeutet weniger chinesische Investitionen. Hiervon ist besonders Deutschland betroffen, das überproportional viele Investitionsgüter exportiert. Deutschland könnte somit wie früher schon beim Wachstum unter-performen. Auf jeden Fall aber wird das Land zukünftig nicht mehr systematisch die Rolle einer Konjunkturlokomotive für Europa spielen (können).
Zu den weiteren Faktoren einer Schwächung der deutschen Rolle in Europa zählt die Flüchtlingskrise. Zum ersten Mal musste Deutschland in Europa um Unterstützung und Solidarität bei seinen europäischen Partnern nachsuchen. Nicht wenige in Brüssel sprechen dabei mit nur mühsam versteckter Genugtuung von einem ersten “asymmetrischen“ negativen Schock für Deutschland. Das Land müsse nun endlich einsehen, dass jedes europäische Land von derartigen Schocks getroffen werden könne. Zentralisierte europäische Versicherungssysteme gegen derartige Schocks machten deshalb Sinn. Das Hauptproblem der Flüchtlingskrise liegt im Mittleren Osten. Dort hat Deutschland aber nur wenig Einfluss. Schließlich verändert sich durch den absehbaren Brexit die Machtbalance in Europa. Hinsichtlich der Abstimmungsmacht rückt Frankreich an die Stelle Deutschlands als Median, denn mit Großbritannien verlässt ein marktliberales Land die EU.
Vor dem Hintergrund all dieser Faktoren muss Italien sehen, dass Deutschland zunehmend weniger in einer Position sein wird, den Partnerländern der Eurozone “Austerität“ auferlegen zu können. Die Europäische Kommission ist offensichtlich ebenfalls nicht Willens dazu, nach dem Motto “weniger Austerität bedeutet mehr Flexibilität“. Ein Beispiel hierfür sind ihr weicher Umgang mit Frankreichs und Italiens schuldenerhöhender Fiskalpolitik (“weil es Frankreich ist“) und die unterstützenden Einlassungen des EU-Kommissars Moscovicis hierzu. Die vom italienischen Parlament immer wieder breit über die Parteien hinweg beschworene Gefahr einer permanenten Austeritätspolitik für Italien in der Eurozone unter deutscher Führung ist somit stark zu relativieren.
Angesichts der weltweit hohen politischen Unsicherheit und der globalen Risiken lohnt es sich für Italien, mit einem potenziellen Austritt aus dem Euro erst einmal zu warten. Zumal die hohen Kosten für den Euro-Beitritt bereits geleistet sind und daher “versunkene Kosten“ darstellen und ein Verlassen der Eurozone zusätzliche Austrittskosten verursachen würde.
Man mag zwar bedauern, dass die Eurozone in ihrer gegenwärtigen Zusammensetzung keinen optimalen Währungsraum darstellt. Für einen italienischen Exit gibt es jedoch nur wenig Argumente. Denn Deutschland, aus der Sicht Italiens der “Autokrat und Merkantilist“, wird zukünftig in Europa tendenziell an Einfluss verlieren. Und eine von Brüssel verordnete echte Austeritätspolitik gibt es bereits gegenwärtig für größere Mitgliedsländer wie Italien nicht und wird es auch in Zukunft nicht geben.
Insgesamt gesehen ergeben sich aus italienischer Perspektive also wichtige Anreize, die für einen Verbleib des Landes in der Eurozone sprechen. Dies scheinen auch die Märkte so zu sehen, die anders als noch im Jahr 2017 nicht mehr davon ausgehen, dass die Wahl in Italien den Euroraum einen ExItaly provozieren und hierdurch den Euroraum insgesamt in Gefahr bringen könnte. Dies ist aus Sicht der Euro-Partnerländer aber nur bei hinreichender fiskalpolitischer Anpassung des Landes positiv zu bewerten. Denn es ist unwahrscheinlich, dass ein Land wie Italien angesichts der Schrumpfung seiner Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter und seinen massiven Produktivitätsproblemen aus seinen Schulden herauswachsen wird. Es sei denn, jemand anderes zahlt. Diese Konstellation ist bei den kommenden Verhandlungen um die zukünftige EU-Governance von deutscher Seite strategisch zu berücksichtigen.
Hinweis: Der Beitrag erschien am 8. März 2018 in der Börsenzeitung.
- Gastbeitrag
Italien, Deutschland und der Euro
Macht ein “ExItaly“ Sinn? - 16. März 2018 - Gastbeitrag
Aktive Wechselkurspolitik à la Hollande
Erfolgsrezept oder Ausdruck einer „Finalité politique“? - 8. Februar 2013 - Gastbeitrag
Geldschwemme und Schuldenvergemeinschaftung in der Eurozone - 13. August 2012
2 Antworten auf „Gastbeitrag
Italien, Deutschland und der Euro
Macht ein “ExItaly“ Sinn?“