Volkswirte, ich selbst eingeschlossen, entwerfen gerne Regelwerke, nach denen die Privaten spielen sollen, das was sie „intelligentes, institutionelles Design“ nennen. Wir prognostizieren mit unserer Theorie, was bei diesem Spiel rauskommen würde, und hoffen, dass die Politik unsere Regeln implementiert und einhält. Hier und da hat dieser Ansatz funktioniert.
Doch: Wenn mir die letzten zwanzig Jahre eines gezeigt haben, dann dass es so allein nicht geht. Erstens verwässern die Politiker unsere Regeln oder machen ganz andere Regeln, die gar nicht funktionieren. Und zweitens brechen sie die selbst entworfenen Regeln, so wie es ihnen gerade passt und wie es sich aus den politischen Machtverhältnissen ergibt. Politiker sind viel zu sehr mit den Schachzügen ihrer Gegner beschäftigt, als dass sie den Sachargumenten der Volkswirte allzu viel Aufmerksamkeit schenken können. Die machen alles nur noch komplizierter. Eher lassen sich Politiker von den Empfehlungen der Medienprofis und deren politischen Marketing-Strategien überzeugen, um die öffentliche Meinung auf ihre Seite zu bringen. Auch das Nudging der Verhaltensforscher gefällt ihnen.
Politiker denken an die nächsten Züge ihrer Gegner, sie wollen Wahlen gewinnen, um viele Posten für ihr Fußvolk einzusammeln, und sie weichen dem Druck der Lobbies, die Geld und mediale Macht verkörpern. Sie sind gegenüber Ökonomen beratungsresistent, weil sie unter anderen Nebenbedingungen optimieren, als wir es tun. Man denke nur daran, wie die Kanzlerin einmal im Jahr den Bericht des Sachverständigenrates entgegennimmt, um ihn dann mit einer eleganten Handbewegung in den Papierkorb gleiten zu lassen. Das zeigt, dass wir ein Problem haben mit der Art, wie wir Volkswirtschaftslehre betreiben.
Einige würden sagen, das liege daran, dass die Volkswirtschaftslehre nichts tauge. Ich glaube nicht, dass dieser Vorwurf stimmt
Die Unwirksamkeit der Politikberatung liegt vielmehr darin begründet, dass wir Volkswirte nicht die Partikularinteressen der Parteien, das Machtinteresse der Politiker oder die Macht der Lobbies berücksichtigen.. Ein Politiker kann sagen, dass man einen Schritt in die Transferunion machen müsse, um Le Pen abzublocken. Ein Volkswirt kann das nicht.
Das heißt nicht, dass wir keine Nebenbedungen der Politik respektieren. Wir nehmen nicht nur die Ressourcenbeschränkungen der Volkswirtschaft als gegeben an, sondern optimieren gelegentlich auch unter politischen Second-Best-Beschränkungen, die wir für unverrückbar halten. Aber wir lassen all die Rivalitäten und Machtspielchen weg, die den Politikern schlaflose Nächte bereiten, weil es für die damit verbundenen Ziele der Politiker keine gesetzlichen Grundlagen oder andere Erwägungen gibt, die einen übergeordneten Zielcharakter haben .
Wegen der so begründeten Beratungsresistenz der Politik müssen wir das Volk direkt ansprechen. Wir müssen uns am öffentlichen Diskurs beteiligen. Wir müssen vereinfachen, aber nicht so, dass wir falsch werden. Die Bürger sind nicht dumm. Gerade in Deutschland gibt es wegen der Naivität unserer Vorfahren sehr viele klar denkende Menschen, die sich Sorgen machen, die die Dinge untereinander diskutieren und die nicht nur von oben gelenkt werden wollen. Sie wollen die wahren Argumente hören und am Diskurs beteiligt werden. Das ist ihr gutes Recht.
Die Public-Choice-Schule hat den Denkfehler der normativen Ökonomik und die fundamentale Beratungsresistenz der Politik lange erkannt. Doch mit ihrer Ablehnung jeglicher normativ-gestaltender Politikempfehlung ging sie zu weit. Es stimmt zwar, dass die Politik nicht zuhört, aber das heißt nicht, dass niemand zuhört. Das Volk hört zu, ja es ist geradezu begierig, die Fachargumente und Fakten zu erfahren, um sich selbst eine Meinung zu bilden.
Mit dem Volk in den Diskurs zu treten ist deshalb eine wesentliche Aufgabe des Volkswirts, eines Volkswirts, der sich der Tradition der Kathedersozialisten und der Ursprünge des Vereins für Socialpolitik verpflichtet sieht. Kathedersozialisten und Volkswirte stehen den Sophisten nahe, die als Wanderlehrer durch die griechischen Städte zogen, um das Volk zu belehren und es zu befähigen, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Dabei geht es nicht um Propaganda für bestimmte politische Maßnahmen oder gar Parteien, sondern um die Bereitstellung von Faken und wahren Argumentationsketten, die das Volk in die Lage versetzten, sich eine eigene, begründete Meinung zu bilden. Wenn das Volk etwas will, bewegt sich auch die Politik.
Und wenn die Politik vermutet, dass das Volk auf die Volkswirte hört, dann hört tatsächlich auch die Politik auf sie.
Der schöne Nebeneffekt der direkten Ansprache des Volkes ist, dass man den Samuelson-Test durchführen kann: Eine volkswirtschaftliche Theorie ist in der Regel erst dann gut, wenn man sie auch einem Nicht-Volkswirt erklären kann. Auch der theoretische Grundlagenforscher, der seinen Platz in unserer Disziplin braucht. kommt bisweilen auf ganz neue Ideen, wenn man näher an das Geschehen heranrückt und erfährt, was die Leute wirklich bewegt.
Hinweis: Der Beitrag erschien als Leitartikel in Heft 10 (2018) der Fachzeitschrift WiSt.
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Antwort auf Olaf Sievert - 6. März 2012
Ich habe jedenfalls den allergrößten Respekt vor Volkswirten – VWL war ganz am Rande Teil meines Studiums und nicht nur mir erschien der ganze Themenbereich Volkswirtschaftslehre unglaublich komplex. Wer sich einmal – und sei es noch so oberflächlich – mit der VWL auseinandergesetzt hat wird künftig auch nicht mehr pauschal die Schuld an allem wirtschaftlichen Übel bestimmten Politikern, Parteien oder Institutionen (denen da oben) zuschreiben. So einfach ist es eben nicht, war es nie, und wird es auch in der Zu7kunft nicht sein.
lg Holger
Ich habe eine Frage: Können die Volkswirtschaftler erklären, wie es zu dieser Null-Zins-Phase gekommen ist, also nicht nur beschreibend, sondern was die Ursachen sind? Wenn Kredite eine Ware sind, sind sie billig geworden, weil zuviele Kredite angeboten werden? Ist zuviel Geld im Angebot?