Lieber Herr Sievert,
haben Sie vielen Dank für Ihren offenen Brief vom 3. März 2012. Ich bin mir nicht sicher, ob ich alles von dem richtig verstehe, was Sie schreiben, und schon gar nicht weiß ich, wo ich genau ansetzen soll, denn Sie schreiben ja selbst, dass Sie vor allem das aufschreiben, wo wir uns einig sein können. Dennoch hier der Versuch einer kurzen Erwiderung.
Natürlich ist Target ein Zahlungssystem, und nicht ein Finanzierungssystem. Target misst primär nur den Geldfluss zwischen Ländern, halt den Zahlungsbilanzsaldo. Sekundär misst Target aber auch Kredite, weil der Refinanzierungskredit in den beteiligten Ländern gegenläufig so verändert wird, dass sich die Geldmengenverteilung trotz des internationalen Geldflusses nicht ändert.
Das ist der Sachverhalt. Bis zur Krise floss billiges privates Kreditgeld (z.B. von Banken oder Versicherungen) vom Kerneurogebiet in die Peripherie und finanzierte den Geldrückfluss aus diesen Ländern zu uns, mit dem Waren bei uns gekauft wurden. Nach dem Ausbruch der Finanzkrise versiegte der private Kreditstrom aus dem Kern in die Peripherie. Die Länder der Peripherie holten sich das fehlende Kreditgeld aus der (elektronischen) Notenpresse der eigenen Zentralbank. Das ging, weil sich die Notenbanken auf Geheiß des EZB-Rates mit immer geringeren Sicherheitsanforderungen für die Pfänder der von ihnen vergebenen Refinanzierungskredite begnügten. So konnten die peripheren Länder unsere Waren weiter kaufen, obwohl sie keinen Kredit mehr bekamen. Â Zunehmend haben sie auch Fluchtgeld mit der Notenpresse kompensiert. Die Banken Deutschland, Luxemburgs und Hollands zogen nämlich auch ihre bereits verliehenen Kreditbestände zurück. Die Krisenländer haben also mit dem internationalen Geldfluss, der durch Target gemessen wird, Waren gekauft oder Schulden getilgt (oder, was dasselbe ist, Vermögensobjekte bei uns gekauft).
In Deutschland versuchten die Banken, das sich aufstauende Geld an die Bauherren und die Wirtschaft zu verleihen, was den Investitionsboom erklärt. Doch durch den Verleih verschwand das Geld nicht, sondern wechselte nur die Konten. Deshalb haben die deutschen Banken das überschüssige Geld bei der Bundesbank angelegt oder von dort weniger Kreditgeld für eigene Zwecke bezogen: Der Netto-Refinanzierungskredit der Bundesbank und das damit geschaffene Geld wurde eins zu eins durch das aus der Peripherie netto nach Deutschland fließende Geld verdrängt. Kurzum, Geld wurde im Süden über das Maß hinaus (elektronisch) gedruckt, das für die eigene Geldversorgung benötigt wurde, um Güter bei uns zu kaufen und Schulden zu tilgen, und dann hat die Bundesbank das hereinströmende Geld (elektronisch) geschreddert.
Also nochmal: Die Target-Salden messen direkt den Nettogeldstrom aus der Peripherie in den Kern des Eurogebietes und indirekt auch die Verlagerung der Zentralbankkredite vom Kern in die Peripherie. Sie führen zu Forderungen und Verbindlichkeiten der Notenbanken der einzelnen Länder gegenüber dem Eurosystem. Die treffendste Kurz-Heuristik für die Target-Forderung der Bundesbank ist, dass sie zeigt, in welchem Umfang die Bundesbank ihre Notenpresse verliehen hat.
Indem das Zentralbankensystem das Nachdrucken des abfließenden Geldes in der Peripherie erlaubte, wurde dort auf den Kapitalmärkten mehr und bei uns weniger Kredit angeboten, als es ohne diese Politik in der Krise der Fall gewesen wäre. Gleichwohl gab es in Deutschland natürlich per Saldo mehr Kredit als ohne die Krise, weil die Kreditverlagerung durch das EZB-System die Umlenkung der privaten Kapitalströme nach Deutschland nur bei den kurzfristigen Krediten hat kompensieren können.
Target-Salden zu betrachten, hat auch schon vor dem Euro-Untergang seinen Sinn, weil die Salden öffentliche Kredite durch das EZB-System messen. So sind sie verbucht, so werden sie genannt („Auslandsposition der Bundesbank“), und so sind sie wegen der Kreditverlagerung zu interpretieren. Der Kreditfluss durch das Eurosystem bedeutet einen öffentlichen Geleitschutz für das deutsche Sparkapital, das sich nicht mehr in den Süden traut. Es kommt mit den großzügigen Refinanzierungskrediten, die den Südbanken gewährt werden, eine andere Allokation des deutschen Sparkapitals zustande als ohne.
Im Übrigen ist das, was beim Untergang passiert, entscheidend für das Verhandlungsergebnis bei den offiziellen Rettungsschirmen, deren Zweck es ist, genau diesen Untergang zu verhindern. Die Target-Forderungen sind ein Drohpotenzial gegenüber Deutschland. Da jeder weiß, dass Deutschland das Geld kaum wird einklagen können, wenn der Euro zerbricht, ist Deutschland bereit, hohe Kosten zur Verhinderung dieses Untergangs auf sich zu nehmen.
Alles wäre nicht so weit gekommen, wenn die EZB die Sicherheiten für Refinanzierungskredite nicht so dramatisch gesenkt hätte, wie sie es tat. Erst durch die Absenkung der Sicherheiten ist eine Situation entstanden, in der der gleiche Zins für Refinanzierungskredite nicht mehr angemessen war und es faktisch zu einer Subventionierung des Kreditflusses in den Süden kam. Wenn die Märkte falsch lagen, war die Politik der EZB vertretbar. Wenn aber die Märkte richtig lagen und den Süden aus gutem Grund gemieden haben, dann war die Politik der EZB falsch. Ich glaube, seit Lehman haben sich die Gewichte immer mehr vom ersten zum zweiten Fall verschoben.
Ich denke, wir sollten es machen wie in Amerika. Dort muss der jährliche, durchschnittliche Zuwachs der Target-Schuld einmal im Jahr ausgeglichen werden. Die Folge ist, das wesentlich kleinere Target-Salden entstehen als bei uns. Die Bundesbank hätte, würde man die Rechenregel der USA auf die Eurozone anwenden, das Recht 320 Mrd. Euro an sicheren, marktgängigen Wertpapieren von den anderen Euro-Zentralbanken als Tilgung zu erhalten. Dazu hänge ich Ihnen einen Aufsatz von mir an.
Mit bestem Gruß
Ihr
Hans-Werner Sinn
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Antwort auf Olaf Sievert - 6. März 2012
Lieber Herr Sinn,
Sie wissen, dass ich mich mit Ihrer saldenmechanisch aufgezäumten Beschreibung, Erklärung, Deutung des gesamtwirtschaftlichen Geschehens im Europa der vergangenen zehn Jahre nicht anfreunden, sie eigentlich nicht einmal nachvollziehen kann, weil darin so viele Akteure vorkommen, die es als solche gar nicht gibt (Länder, Systeme u.v.a.m.). Aber ich lasse sie einmal so stehen, um nicht auf die Schiene des Rechthaberischen zu geraten. Denn das Thema meines offenen Briefes, auf den Sie antworten, ist ja die Einschätzung des Target2-Systems. Und da kann ich alles beiseite lassen, was die Erscheinungen im Zahlungsverkehr nur als Symptome betrifft, nicht auch in einem ursächlichen Sinne. Erst im letzten Teil Ihrer Antwort kommen Sie darauf zu sprechen und damit zu dem Punkt, bei dem ein fortdauernder Mangel an Einvernehmen vielleicht eine besonders tief reichende Wurzel hat.
Die nationalen Zentralbanken schaffen das Zentralbankgeld, sammeln den daraus entstehenden Schlagschatz bei ihren Schuldnern ein und legen das Eingesammelte in die gemeinsame Kasse. Eine Zentralbank, die viel mehr Zentralbankgeld geschaffen hat, als bei ihr gehalten wird, hat besonders viel einzusammeln. Sie befürchten nun: Wenn einer von dieser Art den Verein verlässt – zum Beispiel weil er bankrott ist –, könnte es sein, dass er, weil er nicht anders kann oder weil er fies ist, mit dem Einsammeln des Schlagschatzes aufhört (seinen Landsleuten die Zahlungen erlässt) und schon deshalb nichts mehr in die bisher gemeinsame Kasse tut, oder er könnte den Schlagschatz zwar weiter einsammeln, aber trotzdem nichts mehr abliefern, weil er nicht mehr zum Verein gehört. Sie begehren deshalb: Lasst uns den Schlagschatz von denen einsammeln, bei denen das Zentralbankgeld gehalten wird, nicht länger von denen, die es geschaffen haben. Das ließe sich doch leicht bewerkstelligen, indem eine Zentralbank abfließendem Zentralbankgeld, sprich abfließenden Passiva, die zugehörigen Aktiva (aus denen der Schlagschatz gewonnen wird) nachschickt.
Ich glaube, bis an diese Stelle würde, was die Idee anbelangt, niemand Einspruch erheben müssen. Freilich, das social engineering müsste nun noch die Aufgabe erfüllen zu definieren, welche Aktiva sich zum Nachschicken eignen. Und hier gälte es aufzupassen, dass diese Definitionsmacht nicht dafür genutzt wird, Risiken zugunsten bestimmter Interessen zu verteilen. Das klingt pompös, es ist aber etwas ganz Simples, jedoch Grundsätzliches gemeint. Die Vergemeinschaftung des Schlagschatzes sowie der Grundsatz der Währungsunion „ein Euro ist ein Euro“, gleichviel wo er sich aufhält, sprich, gleichviel gegen welche nationale Zentralbank sich die in ihm verkörperte Forderung richtet, enthält meines Erachtens die Entscheidung dafür, dass auch das Risiko, dass eine Mitgliedszentralbank falliert, ein gemeinschaftliches Risiko ist. Das heißt, die nationale Zentralbank dürfte nicht unter die Auflage gestellt werden, Zentralbankgeld nur in der Form zu emittieren, dass die Partnerbanken ein Solvenzrisiko des Emittenten von dann ab und insoweit nicht mehr mittragen, als dieses Zentralbankgeld ihnen zufließt. Eine andere Regelung wäre eine diskriminierende Erschwerung (Verteuerung) der Schaffung von gemeinschaftlichem Zentralbankgeld in diesem Land. Ein spezieller Aspekt davon ist dieser: Wie stark soll die Verantwortung für das Konkursrisiko auf denjenigen konzentriert sein, dem die Finanzmärkte es attestieren? Ich weiß wohl, dass dies nicht eine Frage der Logik ist, sondern eine Frage der Interpretation der Grundsätze der Europäischen Währungsunion.
Mehr als Nachtrag, das Zusammenspiel von Peripherie-Staaten und ihren Zentralbanken betreffend: Sie machen bei der Analyse von Fehlverhalten nicht ausdrücklich einen großen Unterschied zwischen den Verhaltensrisiken bezüglich der einzelnen Mitgliedstaaten der Währungsunion und den Verhaltensrisiken bezüglich der zugehörigen nationalen Zentralbanken. Die Zentralbanken stehen rechtlich und politisch unter anderen Pflichten als die Staaten, zumal in der Währungsunion. Wir sind uns gewiss einig: Wenn man den jeweiligen nationalen Verbund zwischen ihnen zu eng findet, muss das thematisiert werden, die das Handeln jeweils leitenden Faktoren von vornherein gleichsetzen darf man nicht.
Mit besten Grüßen
Olaf Sievert
Sehr geehrter Herr Sinn,
Sie als Ökonom inspirieren mich derzeit beinahe täglich bei meiner Arbeit. Bitte machen Sie weiter so. Lassen Sie sich nicht von Ihrer Linie abbringen. Am Ende wird die Gerechtigkeit siegen…
MfG
Fab Nag
OT
Andersdenkende werden mundtot gemacht
http://www.diefreiheit-nds.de/pw/?p=4250
Sehr geehrter Herr Prof. Sinn,
selbstredend ist Ihre Darstellung vollkommen richtig, allerdings scheint mir ein buchhalterisches Verständnisproblem vorzuliegen. Man sollte klarstellen, dass sich in dem System der EZB praktisch um einen Konzernabschluss handelt. Und man muss Geldflüsse (Stromgrößen) exakt von Bestandsgrößen trennen. Aus dieser Sicht ergibt sich, dass Geldabflüsse zu einem Bestand an Forderungen führen, und bei den Zahlungsempfängern ein Bestand an Verbindlichkeiten entsteht. Aus einem abgeschlossenen Liquiditätsplan erhalten wir am Ende die saldierten Nettoforderungen und Nettoverbindlichkeiten bei jeder nationalen Notenbank, – zum entsprechenden Stichtag. Es ist dabei entscheidend, dass es sich um zahlungswirksame Geschäftsvorfälle handelt, die lediglich bestandswirksam sind. Innerhalb des Konzerns EZB wird in der Schlussbilanz das saldierte Vermögen errechnet. Es können Nettoforderungen oder Nettoverbindlichkeiten, wie sie es darstellen, ermittelt werden. Und jetzt kommt buchhalterisch eine Feinheit dazu, die vielleicht der eine oder andere nicht versteht: Man hat die Forderung ohne einen Eintausch von Sicherheiten , erwirkt. In der normalen Buchhaltung gibt es das nicht, das scheint der Knackpunkt zu sein. Bilanziell kennt man in Analogie nur einen so genannten Aktivtausch: Man veräußert Vermögen (Anlagevermögen oder Umlaufvermögen nimmt ab) und erhält dafür eine Forderung (Kasse später). Bei der Bundesbank wird Liquidität statt Anlage- oder Umlaufvermögen abgegeben (Buchgeld bzw. bildlich Scheine wandern an die anderen Konzerntöchter). Der Aktivtausch wäre vollzogen, wenn, wie Sie es richtig darstellen die Sicherheiten, z.B. Werpapiere eingebucht werden. Und ohne Einbuchung der Sicherheiten hat man „für nix“ die Zahlung geleistet, und man kann nur hoffen, dass die irgendwie beglichen wird.
Und jetzt kommt der letzte Verständnisschritt: Im Normalfall des Aktivtausches ändert sich auf der Seite der Mittelherkunft (Eigenkapital- und/oder Fremdkapital) überhaupt nichts. In diesem Fall entsteht aber ein Forderungsausfall, weshalb die Auszahlung über ein negatives Eigenkapitalkonto gegengebucht werden muss. Die Vorstufe eines Teilausfalles wäre eine Unterbilanz. Und hier scheint mir das Verständnisproblem zu liegen, weil es vordergründig etwas komisch aussieht, wenn Liquiditätsströme ein nicht vorhandes, negatives Eigenkapital (Bestand) gebildet haben. Eben genauso , wie sie es erklären. Dafür müsste dann in der Tat der Steuerzahler aufkommen.
Auch wenn Sie meine Erklärungen kennen und für überflüssig halten, aber wenn man das Problem anhand einer konkreten Bilanz mit Konzernabschluss erklären würde, müsste der Groschen bei jedem der Groschen fallen.
Ansonsten denke ich, dass man aus der Target-Geschichte nur über eine Währungsreform heraus kommt. In diesem Fall kann man ohne negatives Eigenkapital die Bundesbank neu gründen. Da die Realzinsen im Franken und deutschen Anleihen negativ sind und die Konzerne Schulden und Verbindlichkeiten länderspezifisch ausgleichen, scheint man an den Kapitalmärkten eine Währungsreform in Erwägung zu ziehen. Außerdem kann man mit einem Transfersystem für die nächsten 20 Jahre (wie die Ex-DDR) die Strukturprobleme nicht beheben.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Dr. Norbert Leineweber
Sehr geehrter Herr Prof. Sievert,
sehr geehrter Herr Prof. Sinn,
die Sichtweise von Herrn Prof. Sievert ist Wunschdenken im Sinne eines zukünftigen Europa, aber sie scheitert leider gegenwärtig an der ökonomischen und insbesondere an der rechtlichen Realität.
Die Verschiebung von Zentralbankgeld über das Target2-System zwischen den einzelnen Notenbanken der Euro-Zone kann erst dann vernachlässigt werden, wenn Europa ein gemeinsames Volk hat und eine einzige europäische Institution über die gesamte Budgethoheit des Souverän verfügt.
Verrechnungspositionen zwischen rechtlich selbständigen Notenbanken und der rechtlich selbständigen EZB müssen deshalb entweder als Forderungen oder Verbindlichkeiten erfasst werden, solange unabhängige Völker über ihre Parlamente ihre eigene Budgethoheit besitzen.
Mit freundlichen Grüßen
Redaktion Inflationsschutzbrief