Gastbeitrag
Karl Marx‘ wahre Leistung
Seine Krisentheorie könnte sich bewahrheiten. Wegen der Geldpolitik der EZB

Marx wird von Ökonomen unterschiedlich beurteilt. Unter Angelsachsen genießt er eine nur geringe Wertschätzung, weil sie seine Arbeitswertlehre im Mittelpunkt seiner Analyse sehen. In der Tat kann man als Ökonom der Vorstellung wenig abgewinnen, dass der Wert einer Ware sich speziell nur durch den Gehalt an Arbeit, der darin steckt, erklärt, während die Kosten des Kapitaleinsatz nichts als ein Mehrwert seien, den die Kapitalisten den Arbeitern stehlen. Was Marx hierzu aufschreibt, ist mehr Ideologie als Erkenntnis.

Marx’ wahre Leistung liegt in der makroökonomischen Theorie, also in seinen Erkenntnissen über die gesamte Volkswirtschaft. Die wichtigsten Beiträge zur volkswirtschaftlichen Erkenntnis liefern seine Krisentheorien. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate zu, die im dritten Band des Kapital entwickelt wird. Die Profitrate nennen wir heute Ertragsrate oder Rendite. Es geht um den Gewinn der Unternehmen im Verhältnis zu ihrem Einsatz von Kapital. Nach Meinung von Marx fällt diese Profitrate im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung auf ein immer niedrigeres Niveau. Das liege daran, dass das Kapital schneller vermehrt werden kann, als die Zahl der Arbeitskräfte wächst. Es werde also immer mehr Kapital pro Arbeiter angehäuft, aber nicht proportional mehr verdient.

Marx vermutete, dass die fallende Profitrate irgendwann den Punkt erreichen werde, an dem die Rendite für die Unternehmer zu gering sei, um noch Investitionen zu wagen. An diesem Punkt komme es zu einem Investitionsstreik, der die Wirtschaft in eine Krise stürze. Denn wenn Investitionsgüter nicht gekauft würden, dann veranlasse dies die Hersteller dieser Güter, weniger Vorprodukte zu kaufen. Deren Hersteller kauften ebenfalls weniger Vorprodukte. Es komme zu einer viele Wirtschaftsbereiche umfassenden Kettenreaktion, der Krise.

Diese Marxsche Krisentheorie ist hochaktuell. Sie wird in ähnlicher Form heute wieder von führenden Volkswirten vertreten, so von Carl Christian von Weizsäcker aus Bonn oder auch von Lawrence Summers, dem ehemaligen Finanzminister der USA. Beide argumentieren, dass die Menschheit schon zu viel investiert habe, so dass die rentablen Investitionsprojekte zur Neige gingen. Es werde nicht genug verdient, um mit dem sicheren Zins von Null, den die Bargeldhaltung bietet, Schritt halten zu können. Deswegen drohe der Investitionsstreik und die Krise. Nach Alvin Hansen, einen Zeitgenossen von Keynes, nennen sie dieses Szenarium Säkulare Stagnation. Sie fordern, dass der Staat in die Bresche springt, indem er sich immer mehr verschuldet. Der Staat solle die gesamtwirtschaftliche Nachfrage so weit erhöhen, dass die fehlenden Investitionen kompensiert werden.

Weizsäcker argumentiert, dass auch eine nach dem Umlagesystem konstruierte Rentenversicherung, die eine versteckte Staatsverschuldung ist, und weitere Schattenhaushalte dabei nützlich sein könnten. Andere Ökonomen wie zum Beispiel Kenneth Rogoff von der Harvard-Universität wollen stattdessen das Bargeld abschaffen. Dann könnte man nämlich den Zins so stark negativ machen, dass die Investitionen im Vergleich dazu wieder rentabel würden. Solange es Bargeld gibt, kann der Zins freilich nicht stark negativ werden. Denn welche Bank würde ihr Geld zu negativen Zinsen – also mit Kosten für die Bank – an jemand anderen verleihen, wenn sie es einfach als Bargeld halten könnte und dann kaum Kosten hätte?

Die Theorie der Säkularen Stagnation hat insbesondere bei der Europäischen Zentralbank (EZB) viel Anklang gefunden. Sie liefert ihr eine willkommene Begründung für eine Negativzinspolitik, die in Wahrheit der Rettung überschuldeter Firmen und Staaten in Südeuropa dient. Der EZB-Rat hat den Zins auf Einlagen, die die Banken bei ihren nationalen Notenbanken unterhalten, schon vor einiger Zeit negativ gemacht und erlaubt den nationalen Notenbanken, Geld zu negativen Zinsen von bis zu minus 0,4 Prozent an die Banken zu verleihen. Das Problem des EZB-Rates ist, dass er die Zinsen wegen der Existenz des Bargeldes nur bis zur Höhe der Tresorkosten in den negativen Bereich drücken kann. Geht er weiter, behalten die Sparer lieber ihr Geld als Barbestand.

Insbesondere große Anleger wie Banken und Versicherungen haben die Möglichkeit, Bargeld zu relativ niedrigen Tresorkosten zu halten. Sie wählen deshalb schon heute in gewaltigem Umfang genau diesen Weg, um den negativen Zinsen zu entkommen. Es gibt einzelne Banken, die Banknoten von deutlich mehr als zehn Milliarden Euro lagern. In der Schweiz werden Bergwerksstollen für die Lagerung von Bargeld verwendet.

Die Hortung des Bargelds ist dem EZB-Rat ein Dorn im Auge. Um die Kosten des Hortens zu erhöhen, hat er im Jahr 2016 beschlossen, die 500-Euro-Geldscheine allmählich abzuschaffen. Damit zwingt er die Tresorinhaber, 200-Euro-Banknoten zu halten. Da die Geldhaltung in den Tresoren damit zweieinhalb Mal so teuer wird, gewinnt er etwas mehr Luft für negative Zinsen.

So gesehen hat die Marxsche Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate eine ungeahnte Relevanz bekommen. Die Profitrate des Kapitals ist derzeit offenbar so stark gesunken, dass die Firmen nur noch zu Investitionen verführt werden können, wenn man härteste Mittel wählt und ihnen das Geld beinahe hinterherwirft, ja, sie irgendwann sogar dafür bezahlt, dass sie sich Geld leihen und es investieren.

Es wäre aber überzogen, Marx direkt für die EZB-Politik in Anspruch nehmen zu wollen. Denn erstens hat er sich über Geldpolitik nicht ausgelassen. Und zweitens sprach er nur vom tendenziellen Fall der Profitrate. Das tat er deshalb, weil er beständige Gegenkräfte gegen diesen Fall am Werke sah, die den Rückgang der Kapitalrendite zeitweise unterbrechen und aufheben können.

Er spricht dabei unter anderem immer wieder von der krisenbedingten Entwertung des Kapitals. Krisen bieten neuen Unternehmern die Möglichkeit, auf den Ruinen alter, in Konkurs gehender Unternehmen, neue Firmen zu gründen, die die Maschinen und Gebäude sehr billig aus der Konkursmasse erwerben und deshalb wieder hohe Kapitalrenditen erwirtschaften. Diese Sicht der Dinge ist später von Joseph Schumpeter vertieft worden. Er prägte den Begriff der schöpferischen Zerstörung, um den Neuanfang auf den Ruinen alter Industrien zu beschreiben.

Diese schöpferische Zerstörung wird heute von den Zentralbanken der Welt verhindert, indem sie die Zinsen so tief und die Vermögenswerte durch den Kauf von Wertpapieren so hoch halten, dass auch Zombie-Unternehmen nebst der Banken, die sie finanzieren, am Leben gehalten werden. Zombies sind Einrichtungen, die eigentlich nicht mehr wettbewerbsfähig sind, doch wegen der Null- und Negativzinspolitik überleben. Sie verharren wie lebende Tote aktivitätslos in ihren Positionen und halten die Plätze besetzt, die nun eigentlich junge Unternehmer einnehmen müssten. Die Eigentümer der Alt-Unternehmen werden vor herben Vermögensverlusten bewahrt, weil die Zentralbanken die Marxsche Entwertungskrise verhindern. Aber genau deshalb bleiben die Renditen niedrig und kommt der neue Aufschwung nicht zustande. Es bräuchte eine reinigende Krise, die auch die Zerstörung alter, unprofitabel gewordener Strukturen und Firmen zulässt. Ohne den Tod der Zombies gibt es keinen Neuanfang.

Aus dem nach Marx nur tendenziellen Fall der Profitrate wird heute ein durch die Geldpolitik administrierter, massiver Rückgang, der in einem schleichenden Siechtum endet. Dieses Siechtum sieht wie eine Säkulare Stagnation aus, die aufgrund der Erschöpfung der Investitionsmöglichkeiten zustande kommt. Sie ist aber in Wahrheit durch eine Zentralbankpolitik verursacht, die den Interessen der Altbanken, Altfirmen und alten Vermögensbesitzer dient und dadurch den Prozess der schöpferischen Zerstörung verhindert.

Die Konsequenz ist, dass der Kapitalismus verkrustet und durch ausufernde Rettungsaktionen der Zentralbanken allmählich zu einer staatlich gesteuerten Wirtschaft mutiert, die mit einer Marktwirtschaft nicht mehr viel gemein hat.

Im Endeffekt könnte sich Marxens Behauptung, der Kapitalismus werde am Fall der Profitrate zugrunde gehen und dem Sozialismus den Weg ebnen, also bewahrheiten – wenn auch ganz anders, als er es vermutet hatte.

Hinweis: Der Beitrag erschien am 26. Januar 2017 in der Wochenzeitung „Die Zeit“.

Blog-Beiträge zur Säkularen Stagnation:

Norbert Berthold: Wachstumspolitik in Zeiten säkularer Stagnation. Wachstumsziele, Strukturreformen und Unternehmertum

Norbert Berthold: Das Wachstum lahmt. Sind die Zinsen zu hoch?

Norbert Berthold: Wie geht es weiter mit den langfristigen realen Zinsen? Mario Draghi sitzt in der Liquiditätsfalle.

10 Antworten auf „Gastbeitrag
Karl Marx‘ wahre Leistung
Seine Krisentheorie könnte sich bewahrheiten. Wegen der Geldpolitik der EZB

  1. „Es bräuchte eine reinigende Krise, die auch die Zerstörung alter, unprofitabel gewordener Strukturen und Firmen zulässt. Ohne den Tod der Zombies gibt es keinen Neuanfang.“

    Ist das nicht widersprüchlich? Wenn die alten Unternehmen so schlecht gemanaged werden, dass sie trotz ultra-niedriger Kreditzinsen nicht profitabel sind, sollten doch neue, unbelastete Unternehmen bei diesen günstigen Zinsen es sehr leicht haben die unprofitablen Unternehmen aus ihren Märkten zu drängen.

    Es ist doch nicht so, dass es zu wenig Gewerbeflächen für neue Unternehmen gibt – und von den niedrigen Kreditzinsen bzw. günstigen Emissionskursen von Aktien können neue Unternehmen genau so profitieren, wie die alten Unternehmen.

  2. Bin erstaunt über die vielen Denkfehler seitens Hr. Sinn. Liegt vielleicht auch daran, dass er sich zu sehr auf Aussagen anderer beruft und diese als quasi „Fakten“ darstellt sowie auf (oft veralteten) sozialwissenschaftlichen Theorien stützt, die leider oft mehr aus Ideologie als aus Wissenschaft bestehen. Das ist auch gleich mein Übergang zur detaillierten Kritik und fangen wir gleich mit dem ersten Absatz an.

    Hr. Sinn wirft Marx im Bezug auf den Mehrwert der Kapitalisten Ideologie vor. Nur finde ich keine Begründung, sondern einfach eine Tatsachenbehauptung („Ideologie statt Erkenntnis“) in diesem Absatz. Ironischerweise betreibt also Hr. Sinn hier selbst Ideologie und merkt es scheinbar nicht. Man kann darüber streiten ob jemand der Kapital einsetzt auch den Grossteil des Kuchens Mehrwert „verdient“. Das Problem vieler uneingeschränkter (besonders liberaler) Kapitalismus Fans ist, dass sie selbst einige Aspekte ausblenden und sich nur die Rosinen picken, die ihnen passen.

    Zum Einen ist dieser Einsatz nicht immer ein grosses Risiko, weil das ist in der heutigen globalisierten Welt (und diese Zustände hatten wir auch schon in früheren Zeiten) nicht immer der kleine Mann, der ein Wagnis mit einem Kredit eingeht und deshalb auch entsprechend profitieren sollte, sondern meist sind die Investoren Personen die schon viel Kapital besitzen und das oft nicht selbst erarbeitet/verdient haben, sondern als Erbe (ob nun als Anlagevermögen, freies Kapital, … ist nicht so relevant) erhalten haben und somit quasi den 100m Lauf schon weiter vorne beginnen dürfen und so einen riesigen Vorteil haben. Wenn man also eine „echte“ Marktwirtschaft etablieren wollte, müsste man quasi immer wieder Vermögen resetten (oder eben Geldhorter mit z.B. Negativzinsen, hohen Steuern, usw. „bestrafen“), damit erst gar keine so hohe Kapitalakkumalation stattfinden kann, damit auch die Chancen und Risiken für alle Marktteilnehmer möglichst gleich sind. Die Theorien basieren oft schon auf falschen Prämissen, Wunschdenken und eben Ausblenden bestimmter Fakten.

    Man muss das nicht mal moralisch betrachten, sondern rein aus volkswirtschaftlicher und somit mathematischer Logik. Wenn man sich mal mit 150 Jahre Kapitalismus in der Praxis auseinandersetzt, stellt man schnell fest, dass der Wirtschaftskreislauf um so schlechter funktioniert, je höher die Kapitalakkumulation bei einigen Wenigen ausfällt. Es entsteht einfach ein ungesundes Gleichgewicht, wo die einen soviele Ressourcen haben, dass sie nicht mehr wissen was sie damit tun sollen und bei anderen findet eine künstliche Verknappung statt. Die Kapitalbesitzer sägen aber damit langfristig am eigenen Ast, weil wenn die Masse nur noch primäre Güter konsumiert (also die Kaufkraft immer schwächer wird), dann senkt man natürlich auch das Angebot, weil die Nachfrage ja auch geringer wird. Es entsteht eine Teufelsspirale nach unten. Naja und dann passiert halt das, was wir schon besonders intensiv in den 20/30er Jahren hatten, das Kapital sucht sein Heil in der Finanzwirtschaft und der Spekulation.

    Als das alles eben in der letzten Finanzkrise kumuliert ist, wäre nur eine Entscheidung genau richtig gewesen -> keine vollumfängliche Rettung. Kleinere Spareinlagen, Rentenfonds, usw. aber alle Forderungen aus Spekulation und risikofreudigen Anlagen (wie CDS oder was es alles gibt) hätte man als Verluste abschreiben lassen sollen. Wer das Risiko auf hohe Renditen eingeht, muss auch mit den Konsequenzen leben wenns schief läuft und nicht plötzlich nach Mama Staat schreien, weil man sich verspekuliert hat. Das wäre aus VWL Sicht und auch aus Logik des Kapitalismus richtig gewesen (und eigentlich auch nach rechtlichem Stand. Die Bankenrettung Aber genau hier wollten sich die Kapitalisten plötzlich nicht mehr an ihre eigenen Regeln halten und haben die Staaten quasi gebeten für ihre Verluste/Risiken zu haften. Ironischerweise verwehren die gleichen Personenkreise aber nun diese Hilfe für einige Staaten. Doppelmoral sowie Standards und Heuchelei pur. Trotzdem werden weiterhin die Böcke zum Gärtner gemacht, obwohl die „Experten“ intellektuell auf einem sehr dünnen Eis bewegen.

    Kommen wir zum zweiten Absatz. Ich verstehe den Satz „Es werde also immer mehr Kapital pro Arbeiter angehäuft, aber nicht proportional mehr verdient“ nicht. Das durchschnittliche Vermögen beim Grossteil der Arbeiter ist doch in den letzten 30 Jahren eher gesunken, also wie genau ist das gemeint? Ich glaube so hat Marx das nicht gemeint, sondern er redet von der Kapitalakkumalation bei einigen Wenigen. Oder meinten sie, dass jeder Arbeiter mehr Kapital „erwirtschaftet“?

    Auf die folgenden Absätze habe ich eigentlich schon vorher geantwortet, also ich beziehe mich da auch auf den tendenziellen Fall der Profitrate. Aber ich brauche dafür keinen Marx oder irgendjemand anderes und ich finde es auch erschreckend, dass diese Theorie erst langsam (wieder) von Volkswirten und Zentralbanken beachtet wird, weil wie gesagt, dafür braucht es nur ein wenig Mathematik und Logik und keinen Marx oder sonst wen. Wie eingangs erwähnt, leiden die Wirtschaftswissenschaften selbst stark unter Ideologie anstatt über einen echten wissenschaftlichen Diskurs, der diesen Namen auch verdient. Nein, man stützt sich lieber auf 100 Jahre und ältere Theorien, auch wenn die Praxis schon mehrmals oft das Gegenteil aufgezeigt hat. Komisch, dass wir es schaffen uns immer wieder in Sachen Technik, Medizin, Logistik, Kommunikation, usw. neu zu erfinden und Fortschritte zu erzielen, aber in Sachen Wirtschaftswissenschaften scheint diese Devise nicht zu gelten. Wir wärs mal mit NEUEN -ismen, die auch heutigen Anforderungen und Erkenntnissen entsprechen? Das Hr. Sinn, nenne ich mal Ideologie, nein eigentlich schon die negative Form Dogmatismus (das auch als kleiner Hint, dass Ideologie nicht per se negativ, sondern erstmal neutral ist. Es wird aber meist mit einer negativen Konnotation versehen, aber mei fehlende sprachliche Präzision ist auch eine der Krankheiten heutzutage. Teilweise kommt es mir vor wie babylonisches Sprachgewirr).

    So, weiter ab „Weizäcker“. Ist die Aussage, dass eine Rentenversicherung im Umlageverfahren eine „versteckte Staatsverschuldung“ ist eine Theorie von Ihnen oder von Weizäcker? Falls ersteres, dann begründen sie das bitte anstatt schon wieder eine Tatsachenbehauptung in den Raum zu werfen. Es ist schon richtig, dass natürlich bei Einführung die erste Generation Rentner dann nur profitiert, da sie ja noch nicht eingezahlt hat (besser gesagt, einzahlen konnte). Nur ist es Schmarrn das nur aufs Rentensystem zu beschränken, da die Geldschöpfung im Kapitalismus an sich Schuldgeld ist und zwar vom ersten Cent an. Das ist an sich auch nichts schlimmes und solange die steigende Geldmenge einigermassen dem Wachstum der Realwirtschaft entspricht, ist auch alles Freude, Friede, Eierkuchen. Viel spannender ist die Diskussion, wie man eigentlich neutral und objektiv einen „Wert“ bestimmt (und somit z.B. wieviel Geld überhaupt zu Zeitpunkt X im Umlauf sein sollte) und wenn man sich die Realität ansieht, hat das nicht immer mit Angebot/Nachfrage, Ressourcen, Kosten, vorhandene Güter, Wertschöpfung, usw. zu tun. Da spielen noch zig andere Faktoren rein, die auf menschlicher Denkweise beruhen, also eher subjektiv sind. Mal ganz zu Schweigen von kriminellen Energien, welche zu ihren Zwecken manipulieren wie der bekanntgewordene Libor Skandal. Oder wie Ratingagenturen bestimmte Fonds oder Länder anhand Bonität bewertet haben, nur damit diese als „sichere“ Anlage gelten.

    Kommen wir zur EZB und den Negativzinsen. Die Idee dahinter ist eigentlich nach kapitalistischen Regeln korrekt. Damit will man Kapitalbesitzer dazu anregen zu investieren, indem das Geld von Sparern quasi an Wert verliert. Zudem hilft es Schuldnern, weil sie z.B. alte Kredite zu besseren Konditionen umschulden können. Um ganz ehrlich zu sein, ich hätte die Negativzinsen sogar noch viel stärker angesetzt, auch wenn das von Ihnen erwähnte Horten von Bargeld zunehmen würde, solange die „Tresorkosten“ geringer ausfallen, als der Verlust durch die Negativzinsen.

    Das Problem ist, man müsste es mit zig anderen Massnahmen flankieren und die hat man unterlassen oder gar nicht erst dran gedacht. Nur weil plötzlich billiges Geld (also quasi zinslos) geliehen werden kann, heisst noch lange nicht das alle wie wild Kredite aufnehmen, denn an der Kaufkraft der grossen Masse hat sich ja noch erstmal nichts geändert und solange die Prognose/Hoffnung auf Rendite nicht/kaum vorhanden ist, wird halt vorhandenes Kapital gebunkert und neue Kredite nimmt auch keiner auf (ausser er muss, aber das ist aktuell eher ein Problem von Schuldnern).

    Eine z.B. „weiche“ Variante wäre, dass die Zentralbanken und entsprechende Staatsbanken direkt das Geld an Endkunden verleihen und zwar zum Nullzins und dadurch a) quasi eine Art Umschuldung im Privatbereich steuern und b) Leute zum Kredite aufnehmen und investieren anregt, die aktuell kein/kaum Kapital besitzen. Und selbst wenn es nur für simplen Konsum ist. Das ist aber eigentlich keine gute Idee, denn das würde zwar kurzfristig die Inflation hochtreiben und damit die Kapitalhorter vielleicht dazu bewegen auch wieder zu investieren, da sie eine Entwertung befürchten, aber langfristig hat der Privatbereich noch mehr Schulden aufgenommen und hat dann langfristig noch weniger Spielraum. Ist nur ein kurzes Erkaufen von Zeit.

    Es gäbe ein paar radikalere Formen, aber die wären mit aktueller Gesetzgebung nicht möglich, auch wenn sie in meinen Augen sinnvoll und notwendig wären. 1. Der Staat entscheidet, dass ein grosser Teil der privaten Schuldner einfach einen Schuldenerlass erhält und die Gläubiger somit ihre Forderungen abschreiben müssen. 2. Die EU beschliesst eine Währungsreform zu machen, wo quasi „Euro 2“ eingeführt und der Tauschkurs auf 5:1 festgesetzt wird. Das würde dazu führen, dass Kapitalhorter quasi noch davor in Sachgüter, Maschinen, Wertgegenstände, usw. investieren, weil sonst machen sie riesige Verluste mit ihrem freien Kapital/Bargeld.

    Das klingt sehr radikal, aber in Zeiten wo immer mehr Leute das Vertrauen in den Kapitalismus und das monetäre System an sich verlieren, muss man halt auch zu radikalen Lösungen greifen. Quasi nach der Devise lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Die grossen Kapitalbesitzer wären ja danach immer noch nicht arm, aber es wäre quasi sowas wie ein „Mini-Reset“ und dann funktioniert Monopoly auch wieder eine zeitlang. Man darf halt nicht zimperlich sein und sich von den grossen Kapitalbesitzern einschüchtern lassen (und auch nicht von den Kleinanlegern). Schliesslich sind sie nichtsdestotrotz die Minderheit (10-12% der Bürger). Es wäre auch ein Signal für die Zukunft, dass wenn manche Teilnehmer mal wieder meinen das System für ihre egoistischen Zwecke zu „missbrauchen“ (denn seien wir ehrlich, die Gesetzgebung und Regularien im Finanzbereich sind so brutal lobbygesteuert, dass sie nichts mehr mit einer fairen Marktwirtschaft zu tun haben und auch nicht auf wirtschaftswissenschaftlichen Modellen basieren), dann wird halt ein Euro 3, Euro 4, usw. kommen. Dieses Damoklesschwert alleine würde dazu führen, dass manche sich gut überlegen, ob es Wert ist den Bogen mal wieder zu überspannen.

    Kommen wir zum letzten Kritikpunkt meinerseits, die „schöpferische Zerstörung“. Davon halte ich gar nichts, denn a) sind die Annahmen mal wieder falsch und b) ist es wieder nur eine kurzfristige Lösung (da nur Bekämpfung von Symptomen und nicht der Ursache). Sie sprechen davon, dass Zombie Unternehmen, welche eigentlich nicht mehr wettbewerbsfähig sind durch die aktuelle Politik unnötig am Leben gehalten werden. Sie blenden aber aus, dass frische Jungunternehmer in vielen Branchen auch nicht gross das Rad neu erfinden würden, denn viele Unternehmen sind oft schon so effizient, so fortschrittlich, dass es meist nur noch einen Hebel gibt um sich von der Konkurrenz abzuheben -> Lohn. Das heisst man kann Investoren nur dadurch locken, indem man ein gleiches oder ähnliches Produkt minimal günstiger anbietet (zwecks Umsatz), aber die Löhne noch weiter senkt, weil NUR dann kann man mehr Rendite erwirtschaften als die Konkurrenz, also kommen die Investoren in Scharren. Das ist aber genau die Teufelsspirale, die uns ja genau in das aktuelle Dilemma geführt hat. Wenn das einer macht, kein Problem. Wenn das aber eine kritische Masse übersteigt, dann wird das Lohnniveau insgesamt zu niedrig, aber die Preise sollen ja identisch bleiben oder zumindest weniger gesenkt werden als die Löhne, weil nur so hohe Renditen entstehen. Nur wenn die Kaufkraft irgendwann so schwach wird, wer sich sich dann die ganzen tollen Produkte und Dienstleistungen leisten können? Tja, so ist das wenn alle nur mikro- anstatt makroökonomisch denken und handeln, selbst die Politik/der Staat.

    Natürlich gibt es auch Ausnahmen und es gibt auch noch Innovation und somit ist man erstmal allein am Markt, aber heutzutage kriegt man schneller Konkurrenz als man blinzeln kann. Chinesen pfeifen z.B. auf Patente und produzieren dann den gleichen Schmarrn für 30% weniger. Und entweder passt man sich dem an oder verschwindet vom Markt. Und wie schon erwähnt, führt das eben zu einer Teufelsspirale bei den Löhnen und somit Kaufkraft. Es bleibt nur sein Lebensstandard senken oder über Kredite aufrechterhalten, in der Hoffnung, dass bessere Zeiten kommen.

    Ihre und die meisten Vorschläge sind aber eben nichts anderes wie Symptombekämpfung und beschäftigen sich überhaupt nicht mit den Ursachen, nämlich den inhärenten Systemfehler der Wirtschaftsform Kapitalismus, weil sie nunmal fast schon als Religion angesehen wird (z.B. unsichtbare Hand des Marktes) und manche Regeln daraus quasi als Naturgesetze definiert werden, was bei einer Sozialwissenschaft (also von Menschen für Menschen geschaffen und somit IMMER veränderbar) natürlich Schwachsinn ist. Es wird endlich mal Zeit für Demut, Selbstreflexion und Kritik der ganzen Zunft. Denn sie haben sich verlaufen und die Scheuklappen sind riesig. Alle Kritiker werden einfach in die Schmuddelecke gesteckt ohne jegliche Differenzierung zwischen echter und nachvollziehbarer Kritik und irgendwelchen Spinnern. So kann man schön im eigenen Saft schmoren und braucht sich nicht selbst in Frage stellen, nicht wahr?

  3. Junge, Junge, das ist echt viel … .

    Sagen wir mal so: kennst du jemanden der über Generationen hinweg seinen gesellschaftlichen Status be- bzw. erhalten konnte ? Ich leider nicht. Natürlich gibt es epochenbedingt Akkumulation von Kapital in Gewissen Kreisen, aber das doch nur, weil diese Leute das Spiel des Lebens beherrschen ( bzw. Zur jeweiligen Zeit die richtigen Entscheidungen treffen ). Der intelligente Mensch hat dem aber Grenzen gesetzt und zwar in Form von Wettbewerb ( ökonomischer wie politischer Natur ). Diesen Wettbewerb gibt es quasi nicht mehr. Also was passiert: Revolution und Umbrüche. Das ist nichts Neues, das gab es schon immer, egal wo auf der Welt. Die Frage ist doch nur: was will man erreichen wenn man durch das Geldsystem jetzt umverteilt ? Am Ende sind es die gleichen Strukturen die wiederum zu dem genannten Problemen führen. Es lässt sich nicht vermeiden: es ist ein endloser Kampf um Macht und Einfluss. Und unsere jetzige Phase ist eine Doomphase. Jeder wird verlieren und wie es ausgeht, keine Ahnung, aber es wird leidvoll. Eben genauso wie es in diesem Blog steht. Good luck !

  4. Ich möchte noch eine Anmerkung zur Bankenrettung machen. Die Banken waren doch schon vor der Krise „sozialisiert“ auf Grund ihrer Marktmacht … . Die „Banken“ die Du meinst sind Monster der Regierungen. Das reine Bankwesen gibts doch schon ewig nicht mehr. Die sind so durchweicht von Regularieren, die können schon lange nicht mehr machen was sie denken richtig ist. Aber jaja, ich verstehe die Diskussion um Macht- und Marktmisbrauch. Aber ich denke das ist ein gesellschaftliches Versagen und kein Bankversagen. Aber ja, ich kann auch verstehen wenn du sagst: was labert der da ??? Manches versteht man erst wenns zu spät ist … :).

  5. Ich kann auch eine andere von Umdenker angesprochene Thematik nicht ausser Acht lassen: die CDS. Bitte befasse dich mit der Geschichte dieser Instrumente, am besten hier:

    http://www.isda.org

    Das grundsätzliche Problem ist: alle Theoretiker befassen sich prinzipiell immer nur mit Teilbereichen des Wirtschaftslebens, weil durch die Entscheidungsspielräume und unterschiedlichsten Gedankengänge ALLER Akteure die möglichen Ergebnisse so unfassbar breit gestreut sind, dass jedwede Theorie fehlerhaft ist. Es ist alles nur Zufall … leider.

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