Im Verlauf der Eurokrise regte sich einige Skepsis und vielleicht auch etwas Zorn gegen die Ordnungsökonomik. Die EZB begann mit ihrem Programm zum Ankauf von Staatsanleihen und wurde dafür aus Deutschland kritisiert. Das weckte den Verdacht einer ideologischen Verbohrtheit auf deutscher Seite. Und mehr noch: Die Forderungen, dass parallel zur stark expansiven Geldpolitik Deutschland fiskalpolitisch als keynesianische Konjunkturlokomotive für Europa auftreten möge, fanden hierzulande ebenfalls keine Unterstützung. Kühl verwiesen die Bundesfinanzminister jeweils auf die Schuldenbremse und das Gebot, die eigenen Finanzen in Ordnung zu halten.
Warum also ist die deutsche Politik, jedenfalls nach dem Urteil einiger Nachbarländer, so renitent und uneinsichtig? Eine plausible Antwort lautet, dass es gute sachliche Einwände gegen eine fiskalisch expansive Rolle Deutschlands gibt. Die deutsche Volkswirtschaft ist inzwischen nahe am Kapazitätslimit, eine Überhitzung sicher nicht wünschenswert, aber ein zielsicheres Überschwappen von Nachfrage in diejenigen Euro-Länder, die sie am nötigsten hätten, wäre reiner Zufall. Und das deutsche Stirnrunzeln, wenn wir nach Italien schauen und uns dort ein Einhalten der europäischen Defizitregeln wünschen? Auch hierfür findet man gute sachliche Gründe, etwa die — auch nach Reinharts und Rogoffs Excelfehler — noch existierenden empirischen Hinweise darauf, dass sehr hohe Schuldenstände das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen.
Eine andere Geschichte wird in den eher simpel-keynesianisch orientierten Kolumnen einiger Wirtschaftszeitungen erzählt, nämlich die Geschichte von den sturen Deutschen, deren ökonomisches Denken auf ewig von der kauzigen, lokalen Tradition der Ordnungsökonomik verdorben sei, die sozusagen das Dirndl unter den ökonomischen Theorien darstelle. Man stellt sich das in diesen Kreisen etwa so vor: Vor vielen Jahren kamen Walter Eucken und Ludwig Erhard zurück vom Berg und brachten Steintafeln mit, auf denen ordnungspolitische Gebote festgehalten waren. Seitdem besteht Ordnungspolitik darin, diese immer gleichen Grundsätze in wirtschaftspolitische Praxis umzusetzen. Den Anschluss an die internationale Fachdiskussion dagegen hat, so geht die Geschichte, die Ordnungsökonomik längst verloren.
Ganz so ist es natürlich nicht. Es stimmt, dass sich die Ordnungsökonomik vor allem für Regeln interessiert. Das liegt in der Natur der Sache: Diskretionäre, punktuelle Eingriffe in den wirtschaftspolitischen Prozess erfordern, wenn sie erfolgreich sein sollen, Politiker, die viel wissen und das Richtige wollen. Beides kann man nicht ohne weiteres voraussetzen, bei allem Respekt vor den handelnden Personen. Bereits die frühen Ordnungsökonomen wussten sehr genau aus den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit und des Nationalsozialismus, wie anfällig staatliche Entscheidungsträger für das Wirken von Interessengruppen sind. Den Weg zu einem „ starken“ Staat, der über diesen Sonderinteressen steht, sahen sie in einer Regelorientierung seines Handelns: Idealerweise sollte er allgemeine, denn Wettbewerb absichernde Spielregeln setzen, aber sich des Eingriffs in Spielergebnisse möglichst enthalten.
Das Wissensproblem dagegen hat zuvor niemand so gründlich untersucht wie Friedrich von Hayek, der den Markt immer vor allem als Mechanismus sah, der verstreutes Wissen effizient so koordiniert, dass es sinnvoll genutzt werden kann. Der Preismechanismus bringt Leute, die sich gar nicht kennen, dazu, konstruktiv zu kooperieren. Aber das bedeutet eben auch, dass für effiziente politische Eingriffe in den Marktprozess oft das beim politischen Entscheidungsträger zentralisierbare Wissen schlicht nicht ausreicht. Also wiederum: Regelorientierung, Sicherung des Wettbewerbsprozesses, anstelle von diskretionären Eingriffen.
Dass der Staat sich darauf konzentrieren soll, Regeln zu setzen, weil es sonst Probleme mit Macht und Wissen gibt, ist gut beründet, immer noch, auch in Zeiten des Internets und der riesigen Rechenkapazitäten — die diesbezüglichen Ergebnisse der alten socialist calculation debate nicht technologieabhängig, sondern prinzipiell, und die Gefahr der Kollusion mit Sonderinteressen ist es sowieso. Die Regelorientierung ist also sozusagen das Fundament, über dem die Ordnungsökonomik auch heute noch konstruiert ist, und insoweit bleiben natürlich auch die Altvorderen wie Franz Böhm, Walter Eucken und Friedrich von Hayek hoch relevant. Aber zum Fundament kam eben in den vergangenen Jahrzehnten doch noch einiges dazu.
Aus den USA kam Public Choice, die Analyse politischer Entscheidungsverfahren mit ökonomischen Modellen. Ökonomen wie der Nobelpreisträger James M. Buchanan, wie Gordon Tullock oder Geoffrey Brennan zeigten, dass auch der Staat Regeln braucht. Das passte zur Ordnungsökonomik: Wenn der Staat sich darauf beschränken soll, die Regeln des Marktes zu setzen, anstatt diskretionär einzugreifen, dann muss man auch den Spielraum des Staates durch verfassungsmäßige Grenzen beschränken, denn sonst werden politische Akteure letztlich doch tun, was sie — eigennützig und nicht am Gemeinwohl orientiert — tun wollen. Ordnungsökonomik und Public Choice, vor allem aber die Constitutional Economics als deren Teilgebiet, wuchsen zusammen. Auch durch enge persönliche Kooperationen, gemeinsame Forschungsprojekte und Ökonomen, die in beiden Traditionen verankert waren, verschwommen die Grenzen zwischen diesen Teildisziplinen und die Ordnungsökonomik wurde endgültig ein internationales Projekt.
Impulse kamen auch aus der Makroökonomik. Die beiden späteren Nobelpreisträger Kydland und Prescott analysierten in einem 1977 erschienenen Papier das Problem der Zeitinkonsistenz, das dann folgt, wenn Wirtschaftspolitiker immer wieder Anreize haben, von langfristig sinnvoller Politik kurzfristig abzuweichen. Ihr Plädoyer lautete: rules, rather than discretion. Plötzlich war auch für moderne Makroökonomen die Frage interessant, ob und mit welchen Regeln sich die Wirtschaftspolitik sinnvollerweise wie Odysseus an den Mast des eigenen Schiffes binden kann, um dem Gesang der Sirenen nicht zu folgen.
Auch ihre eigenen normativen Grundlagen hat die Ordnungsökonomik modernisiert. Vor allem Viktor Vanberg hat in zahlreichen Schriften eine enge Verbindung der Ordnungsökonomik zum vertragstheoretisch fundierten verfassungsökonomischen Ansatz der Virginia School um James Buchanan geschaffen. Das Kriterium für gute Regeln ist, dass sie für möglichst viele Bürger zustimmungsfähig sind. In der Praxis bedeutet dies, dass Ordnungsökonomik kein Elitenprojekt ist, sondern an den Bürger als Ansprechpartner gerichtet sein sollte. Der Bürger sollte darüber aufgeklärt werden, welche ordnungspolitischen Spielregeln mit welchen Ergebnissen verbunden sind. Darin unterscheidet sich die Ordnungsökonomik deutlich von der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik, die Ratschläge für effizientes diskretionäres Eingreifen an interessenlose Philosophenkönige gibt, die wahrscheinlich gar nicht existieren.
Will man den Bürger in dieser Form beraten, dann benötigt man empirisches Wissen über die Funktionsweise von (wirtschafts-)politischen Regeln. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass ordnungsökonomische Forschung heute sehr stark empirisch orientiert ist. Sie unterscheidet sich auf der methodischen Ebene daher sehr häufig gar nicht mehr von anderen Forschungszweigen. Das, was Ordnungsökonomik ausmacht, ist die Fragestellung — der Fokus auf die Regelebene. Aber dann kommen auch formale theoretische Modelle und aktuelle ökonometrische Methoden zum Einsatz, die man in allen anderen Teilgebieten der Volkswirtschaftslehre auch nutzt.
Zurück zum Anfang dieses Beitrags: Schaut man in die aktuelle Literatur, dann erscheint nicht mehr die Ordnungsökonomik, sondern die eingangs angesprochene simpel-keynesianische Perspektive antiquiert. Es gibt schließlich empirische Evidenz, die auf Nachteile einer nicht-regelorientierten Finanzpolitik recht deutlich hinweist. Gerade in einer Währungsunion, in der immer wieder auch Anreize zu Freifahrer verhalten und mehr oder weniger begründete Bailout-Erwartungen eine Rolle spielen, gibt es gute Gründe, Regeln als Leitplanken einzuziehen und tagespolitischen Opportunismus zu begrenzen.
Evidenz für die Existenz einer guten Politik-Fee, die Wohlfahrtsfunktionen maximiert, haben wir dagegen bisher nicht. Ob man vor diesem Hintergrund der Ordnungsökonomik Antiquiertheit vorwerfen und auf simplen Paläo-Keynesianismus setzen sollte? Wenn man die letztem Jahrzehnte nicht auf einer einsamen Insel ohne Zugang zu aktueller Fachliteratur verbracht hat, ist die Antwort klar.
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