Die Zukunft des Sozialstaates (2)
Die Realität

„Alle möchten auf Kosten des Staates leben, vergessen aber, dass der Staat auf Kosten aller lebt.“ (Frédéric Bastiat)

Tatsächlich ist der Sozialstaat aber anders organisiert. Er konzentriert sich nicht auf seine Kernkompetenzen. Und er erledigt die Aufgaben nicht auf der Ebene, auf der er sie am besten erfüllen kann. Nach wie vor ist er der wichtigste Anbieter, wenn es darum geht, die Nachfrage der Menschen nach „sozialer Sicherheit“ und „sozialer Gerechtigkeit“ zu befriedigen. Die inter-temporale Umschichtung von Lebenseinkommen ins Alter ist ebenso wenig eine staatliche Aufgabe wie die Versicherung gegen Krankheit und Pflegebedürftigkeit. Dennoch dominiert der Sozialstaat diese Angebote. Auch wenn er komparative Vorteile hat, die Nachfrage nach „sozialer Sicherheit“ bei Arbeitslosigkeit zu befriedigen, produziert er dieses Gut wenig effizient. Auch bei seiner originären Kernkompetenz, dem Angebot an „sozialer Gerechtigkeit“ im Kampf gegen Armut, produziert er wenig kostengünstig. Von einer wirklichen Hilfe zur Selbsthilfe kann nicht die Rede sein.

Das Gesundheitswesen

Das Gesundheitswesen ist nach wie vor in einem fragilen finanziellen Zustand. Seit Januar 2009 soll der Gesundheitsfonds das Gesundheitswesen auf solidere Füße stellen. Gelungen ist das bisher nicht. Die wichtigsten Probleme sind weiter ungelöst. Noch immer sind die zentral vorgegebenen einheitlichen Beiträge alles andere als risikoäquivalent. Die teilweise Steuerfinanzierung verstärkt das Problem noch. Damit bleiben die Anreize der Versicherten weiter gering, Risiken zu vermeiden und nach kostengünstigeren Preis-Leistungspaketen zu suchen. Auch das Problem der Risikoselektion existiert weiter. Trotz Risikostrukturausgleich haben die Versicherungen weiter Anreize, gute Risiken zu pflegen und schlechte zu vergraulen. Schließlich sind die lohnabhängigen Beiträge weiter an die Arbeitskosten gekoppelt. Sie verteuern die Arbeit und lösen einen Teufelskreismechanismus von steigenden Lohnnebenkosten, höherer Arbeitslosigkeit, rückläufigen Beitragseinnahmen in der umlagefinanzierten GKV und weiter steigenden Beiträgen aus.

Trotz des Gesundheitsfonds mangelt es nach wie vor an Wettbewerb. Die Verhandlungen über Preis-Leistungspakete finden häufig nicht zwischen den vielen Kassen und unzähligen Leistungsanbietern statt. Vielmehr einigen sich regionale Kassenärztliche Vereinigungen und Verbände der Kassen auf Kollektivverträge für alle. In dem bilateralen Monopol wird der komparative Vorteil des Marktes minimiert, von den Besten zu lernen. Vielfach bleiben bessere und billigere medizinische Verfahren unentdeckt, Effizienzreserven werden nicht gehoben. Nur an zwei Stellen öffnet der Neokorporatismus dem Wettbewerb die Tür einen Spalt weit. Zum einen sind auf Teilgebieten auch Verträge mit Ärzten und Ärztegruppen möglich und mit Krankenhäusern wird nach Fallpauschalen abgerechnet. Zum anderen eröffnet das neue Instrument der Zusatzbeiträge im Gesundheitsfonds die Möglichkeit eines eingeschränkten Preiswettbewerbs zwischen den Kassen.

Die Gesetzliche Krankenversicherung ist nach § 1 SGB V eine Solidargemeinschaft. Der Gesundheitsfonds macht keine gute Figur, wenn es darum geht, die unklaren Verteilungsziele zu verwirklichen. In der GKV soll von reicheren zu ärmeren Mitgliedern aber auch zugunsten bestimmter Gruppen, wie etwa Familien und Kindern, umverteilt werden. Lohnabhängige Beiträge sind kein effizientes Instrument, die angestrebten distributiven Ziele zu erreichen, da sie die tatsächliche Leistungsfähigkeit der Beitragszahler nur unzulänglich erfassen. Es werden allein die Arbeitseinkommen erfasst, alle anderen Arten von Einkommen bleiben außen vor. Daneben höhlen sowohl Beitragsbemessungs- als auch Versicherungspflichtgrenzen in der GKV das Prinzip der individuellen Leistungsfähigkeit weiter aus. Beide Grenzen verhindern, dass sich reichere Individuen angemessen an der Finanzierung der Umverteilung in der umlagefinanzierten GKV beteiligen.

Die Alterssicherung

Vor allem zwei Entwicklungen bedrohen die finanzielle Stabilität der GRV: Zum einen sind umlagefinanzierte Systeme der Alterssicherung inhärent instabil. Sie lösen selbstzerstörerische Tendenzen aus. Zum anderen sind solche Systeme sehr anfällig gegen exogene Schocks. Der demographische Wandel ist einer. Inhärent instabil sind umlagefinanzierte Systeme, weil sie Opfer der Tarifvertragsparteien, der Politik, der eigenen Mitglieder und ihrer Finanzierungsstruktur werden (Berthold, 1997). Die Tarifpartner haben die GRV lange Jahre benutzt, um beschäftigungspolitische Lasten auf sie abzuladen. Vielfältige Formen der Frühverrentung haben den Arbeitsmarkt entlastet, die Rentenversicherung aber belastet. Obwohl die Schleusen bei der Erwerbsminderungsrente notdürftig repariert wurden, sind sie immer noch nicht dicht. Auch die flexible Altersgrenze ist nach wie vor ein Kanal, über die beschäftigungspolitische Lasten auf die Rentenversicherung abgewälzt werden. Noch immer sind die Abschlagssätze nicht versicherungsadäquat. Damit bleibt der Anreiz groß, vorzeitig zu Lasten der Rentenversicherung in Ruhestand zu gehen. Mit der „Rente mit 63“ hat die Große Koalition ohne Not eine weitere Schleuse geöffnet.

Die GRV ist auch ein Opfer der Politik. Politiker setzen im politischen Wettbewerb um Wählerstimmen das Instrument der Umverteilung ein. Die Kunst der Politik besteht darin, möglichst viele kleine Interessengruppen spürbar zu begünstigen und die Lasten möglichst unfühlbar auf die breite Masse der Bevölkerung zu verteilen. Dazu nutzt die Politik auch die umlagefinanzierte GRV. Die inter-personelle Umverteilung ist Legion. Der größte Brocken ist die Hinterbliebenenrente. Ins Geld gehen auch weiter nicht versicherungsadäquate Regeln zur Frühverrentung und beitragsfreie Versicherungszeiten. Der neuste Coup der Politik ist die abschlagsfreie „Rente mit 63“ und die „Mütterrente“. Mit der „Lebensleistungsrente“ plant die Politik weiteren beitragsfinanzierten verteilungspolitischen Unfug. Umverteilt wird nach wie vor aber auch inter-regional. Die größten Lasten bestehen seit der Wiedervereinigung durch die höheren Rentenzahlungen in den neuen Bundesländern fort. Mit der Ankündigung der Ost-West-Angleichung der Renten wird ein neues verteilungspolitisches Fass aufgemacht. Dabei wird noch gestritten, wer die Lasten tragen soll: Die Mitglieder der GRV oder der Finanzminister. Die Gefahr ist groß, dass die staatlichen Zuschüsse die verteilungspolitisch motivierten Ausgaben in der GRV nicht kompensieren.

Umlagefinanzierte Alterssicherungssysteme werden auch Opfer der eigenen Mitglieder. Asymmetrisch verteilte Informationen zwischen den Marktseiten begünstigen „moral hazard“. Diese Entwicklung wird verstärkt, wenn umverteilungspolitische Aktivitäten das Äquivalenzprinzip aushöhlen. Auf diesem Humus gedeiht „moral hazard“ besonders gut. Das beste Beispiel in der GRV ist die nach wie vor nicht versicherungsadäquat ausgestaltete flexible Altersgrenze. Frührentner fahren weiter Trittbrett auf Kosten der Versichertengemeinschaft. Eine spezifische Form von Trittbrettfahrerverhalten ist „demographisches moral hazard“. Umlagefinanzierte Alterssicherungssysteme verstärken die Anreize der erwerbstätigen Generation, weniger Kinder in die Welt zu setzen. Die Höhe der Renten aller Versicherten hängt aber in starkem Maße davon ab, wie viele Kinder eine Gesellschaft großzieht und wie stark sie in das Humankapital ihrer Nachkommen investiert. Der demographische Beitrag eines Versicherten zur GRV spiegelt sich nicht adäquat in der späteren eigenen Rente wider. Daran ändern auch die gewährten Kindererziehungszeiten wenig. „Moral hazard“ der eigenen Mitglieder destabilisiert die GRV finanziell.

Die umlagefinanzierte Alterssicherung wird schließlich auch Opfer der gewählten Finanzierungsstruktur. Sie destabilisiert sich selbst, weil sie mit dazu beiträgt, ihre ökonomischen Wurzeln auf den Arbeitsmärkten abzuschneiden. Umlagefinanzierte Systeme der „Sozialen Sicherung“ finanzieren sich hierzulande vor allem über den Faktor Arbeit. Steigende Ausgaben schlagen sich über kurz oder lang in steigenden Beiträgen nieder. Damit erhöhen sich die Lohnnebenkosten. Die realen Lohnkosten für die Arbeitgeber nehmen zu. Höhere Beiträge verringern aber auch die realen Nettoeinkommen der Arbeitnehmer. Fast zwangsläufig erhöhen sich die Lohnforderungen der Gewerkschaften. So oder so steigen die realen Lohnkosten. Unternehmen fragen weniger Arbeit nach. Das lässt die Beitragseinnahmen der GRV nicht unberührt. Umlagefinanzierte Systeme der Alterssicherung erodieren somit ihre eigene ökonomische Grundlage auf den Arbeitsmärkten. Über den Faktor Arbeit finanzierte höhere Ausgaben lösen ein Teufelskreis aus. Die Beiträge steigen, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, die Beitragseinnahmen gehen zurück, Finanzierungslücken entstehen, weitere Beitragserhöhungen sind eine teuflische Konsequenz.

Umlagefinanzierte Alterssicherungssysteme haben nicht nur eine Tendenz, sich selbst zu zerstören. Sie sind auch anfällig gegen Störungen von außen. Vor allem drei Entwicklungen machen ihnen zu schaffen: Demographischer Wandel, globalisierte Märkte und wachsende Ungleichheit. Die demographischen Veränderungen sind zweifellos der härteste Schock, den sie verarbeiten müssen. Die Altersstruktur wird sich bis Mitte des Jahrhunderts auch in Deutschland spürbar verändern. Das hat nicht nur damit zu tun, dass die Geburtenrate weiter auf einem sehr niedrigen Niveau dümpelt. Daran ist das umlagefinanzierte Alterssicherungssystem selbst nicht ganz unschuldig. Es liegt aber auch am anderen wichtigen demographischen Treiber, der Lebenserwartung. Die ist in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen, für Frauen noch stärker als für Männer. Und sie wird weiter steigen. Ab 2020 setzt dann die Attacke auf die umlagefinanzierte Alterssicherung voll ein. Die schlimmste Zeit werden die zwei Jahrzehnte bis 2040 sein. Aber auch danach entspannt sich die Lage nicht. Weder eine steigende Erwerbsquote der Frauen noch eine verstärkte Einwanderung werden diese demographische Attacke erfolgreich abwehren können.

So schlimm muss es nicht kommen. Die allgemeine Altersgrenze wird sich mit dem demographischen Wandel erhöhen. Eine weiter steigende Lebenserwartung wird dafür sorgen. Wie schnell und stark sich das Erwerbsverhalten im „Alter“ verändern kann, hat die Erhöhung der allgemeinen Altersgrenze auf 67 Jahre gezeigt. Die demographischen Belastungen sind allerdings nicht das einzige Problem. Die Globalisierung verstärkt den Stress der Demographie, dem die Alterssicherung ausgesetzt ist. Weltweit offenere Güter- und Faktormärkte erhöhen die Waren-, Kapital- und Migrationsströme. Damit beschleunigen sie den inter- und intra-strukturellen Wandel. Es wird für alle Faktoren ungemütlicher. Vor allem einfache Arbeit leidet darunter. Groß sind die Schwierigkeiten, wenn sie Routinen bedient. Bei personennahen Dienstleistungen sind die Einbußen beim Arbeitseinkommen geringer. Aber auch mittlere Qualifikationen kommen nicht ungeschoren davon. Der Niedergang des industriellen Sektors macht ihnen schwer zu schaffen. Zu allem Übel wirkt auch noch der technische Fortschritt in die arbeitssparende Richtung. Der strukturelle Wandel gepaart mit einer bestimmten Art von technischem Fortschritt („skill biased“) nagt an der ökonomischen Basis umlagefinanzierter Systeme der Alterssicherung.

Eine sinkende Lohnquote ist die andere Seite des strukturellen Wandels. Globalisierung und technischer Fortschritt verringern in reichen Ländern die Nachfrage nach einfacher Arbeit. Das vernichtet Arbeitsplätze und/oder drückt auf die Löhne. Die Lohnquote der Geringqualifizierten sinkt. Das spült weniger Geld in die Rentenkassen. Auf der anderen Seite stärken dieselben Kräfte die Nachfrage nach hoch qualifizierter Arbeit. Die Zahl der Arbeitsplätze in diesem Qualifikationssegment nimmt zu, die Löhne steigen. Das lässt die Lohnquote der Hochqualifizierten steigen. Die Beitragseinnahmen der Rentenversicherung müssten eigentlich sprudeln. Das tun sie allerdings nur bedingt. Mit der Beitragsbemessungsgrenze in der GRV werden die Beitragseinnahmen gedeckelt. Wie sich die nationale Lohnquote entwickelt hängt allerdings entscheidend davon ab, wie sich die Einkommen der Mittelschicht verändern. Der strukturelle Wandel, der vor allem den industriellen Sektor trifft, senkt die Lohnquote der Mittelschicht. Er schlägt sich hierzulande bisher noch kaum in den Beitragseinnahmen der GRV nieder, weil der industrielle Sektor weniger stark schrumpft als in vergleichbaren Ländern weltweit. Das dicke Ende steht der GRV noch bevor, wenn das „Geschäftsmodell Deutschland“ kollabiert.

Die Arbeitslosenversicherung

Das wirtschaftliche Umfeld wird volatiler. Weltweit offene Märkte und technischer Fortschritt sind die wichtigsten Treiber. Die Erträge aus Arbeit und Kapital schwanken stärker. Das lässt auch die Arbeitseinkommen nicht unberührt. Arbeitnehmer sind in der Regel risikoscheu. Sie mögen stark schwankende Einkommen nicht. Ihnen ist ein stetiger Strom des Einkommens lieber. In Zeiten hoher wirtschaftlicher Volatilität steigt ihre Nachfrage nach „sozialer Sicherheit“. Auf privaten Versicherungsmärkten trifft diese Nachfrage allerdings auf kein adäquates Angebot. Arbeitslosigkeit ist ein schwer versicherbares Risiko. Befriedigt wird die individuelle Nachfrage mit einem staatlichen Angebot. Die Arbeitslosenversicherung ist ein Element der „sozialen Sicherheitsarchitektur“. Der Kündigungsschutz ist der andere Baustein. Beide sollen helfen, das Arbeitseinkommen über die Erwerbsphase hinweg zu stabilisieren. Mit dem Kündigungsschutz soll verhindert werden, dass Einkommen überhaupt ausfällt. Die Leistungen der Arbeitslosenversicherung sollen helfen, die materiellen Folgen eines Ausfalls von Einkommen zu kompensieren.

Die Arbeitslosenversicherung wurde für zyklische Arbeitslosigkeit konzipiert. Arbeitnehmer werden im Abschwung in einem Sektor entlassen und im Aufschwung in diesem Sektor wieder eingestellt. Neues Humankapital spielt eine untergeordnete Rolle. Das hat sich erheblich verändert. Strukturelle Faktoren geben heute den Ton an. Das macht der Arbeitslosenversicherung das Leben noch schwerer. Es geht nicht mehr primär darum, Zeiten konjunktureller Arbeitslosigkeit finanziell zu überbrücken. Die wichtigere Aufgabe ist, Arbeitslosen marktverwertbare Fähigkeiten zu vermitteln, die sie in anderen Sektoren und neuen Berufen brauchen. Damit steht die Arbeitslosenversicherung vor einem zweifachen Problem: Die passive Arbeitsmarktpolitik (Arbeitslosengeld) muss darauf achten, lohnpolitisches „moral hazard“ zu begrenzen. Das macht Arbeit „billiger“, erhöht die Beschäftigung und das Humankapital „on the job“. Die aktive Arbeitsmarktpolitik (Beratung, Vermittlung, Qualifizierung) muss dafür sorgen, arbeitslose Arbeit „besser“ zu machen. Notwendig sind Anreize, neues marktverwertbares Humankapital zu vermitteln.

Die Arbeitslosenversicherung hat bei der passiven und aktiven Arbeitsmarktpolitik erhebliche Defizite. Auf der „Passiv-Seite“ produziert sie Fehlanreize für Arbeitnehmer, Unternehmen und Tarifpartner. Es mangelt an individueller Beitragsäquivalenz. Sie führt nicht nur häufiger zum Versicherungsfall, sie verlängert auch die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz („individuelles moral hazard“). Daneben bewirkt die fehlende Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen, dass die Unternehmen in Phasen schlechter wirtschaftlicher Entwicklung nicht nur schneller und häufiger zum Mittel der Entlassungen greifen. Sie sind auch weniger bereit, Arbeitnehmer temporär zu „horten“ („externes moral hazard“). Schließlich fahren die Gewerkschaften ausgiebig lohnpolitisch Trittbrett, weil sie Teile der beschäftigungspolitischen Lasten ihres lohn- und tarifpolitischen Tuns über die Arbeitslosenversicherung auf Beitrags- und Steuerzahler externalisieren („kollektives moral hazard“). Die Arbeitslosenversicherung leidet auf der „Passiv-Seite“ an multiplem „moral hazard“. Damit erodiert sie ihre finanzielle ökonomische Basis.

Aber auch auf der „Aktiv-Seite“ ist die Bilanz der Arbeitslosenversicherung nach wie vor unbefriedigend. Die aktive Arbeitsmarktpolitik ist trotz eines riesigen Etats und vieler neuer Programme noch immer ihr Geld nicht wert. Bei Beratung, Vermittlung und Qualifizierung sind die Erfolge bescheiden. Trotz einer seit langem stark rückläufigen Arbeitslosenquote ist die Bilanz der Bundesagentur für Arbeit durchwachsen. Ein Indikator ist der Anteil der Langzeitarbeitslosen. Er ist weiter anhaltend hoch. Daran hat auch die Agenda 2010 mit dem umstrittenen „Fördern und Fordern“ wenig geändert. Der Zauber der aktiven Arbeitsmarktpolitik ist allerdings überall verflogen. Das gilt auch für das skandinavische Eldorado dieser Politik. Dort stößt das Konzept der „Flexicurity“ an Grenzen. Die aktive Arbeitsmarktpolitik hat zwar die offizielle Arbeitslosenquote spürbar verringert. Allerdings ist die staatliche Beschäftigung stark angestiegen. Als die finanziellen Lasten nicht mehr tragbar waren, hat man die aktive Arbeitsmarktpolitik verringert. Ein Anstieg der offiziellen Arbeitslosenquote war die unweigerliche Folge.

Wie erfolgreich eine solche Politik ist, hängt stark davon ab, ob neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Darüber entscheiden aber vor allem die Tarifpartner. Verhandeln sie stärker dezentral, am besten auf betrieblicher Ebene, sind die Erfolge auf dem Arbeitsmarkt schnell zu besichtigen. Dann gelingt es der aktiven Arbeitsmarktpolitik auch wieder, Arbeitnehmer erfolgreich zu beraten und zu vermitteln. An einer erfolgreichen Qualifizierung hapert es selbst dann noch. Aktive Arbeitsmarktpolitik ohne betriebliche Lohn- und Tarifpolitik ist wie Hamlet ohne den Prinzen von Dänemark. Der Erfolg der aktiven Arbeitsmarktpolitik hängt allerdings auch davon ab, wie wettbewerblich Beratung, Vermittlung und Qualifizierung organisiert sind. Daran scheitert die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland. Noch immer hat die Bundesagentur eine monopolartige Stellung. In ihr spiegeln sich die wettbewerbsfeindlichen, korporatistischen Strukturen der Bundesrepublik wie in einem Brennglas. Der Wettbewerb mit Kommunen und Privaten hält sich in Grenzen, die Effizienz der Leistungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik allerdings auch.

Die Grundsicherung

Armut ist in allen Phasen des Lebens möglich. Tritt es in der Zeit der Erwerbstätigkeit auf, wird es mit dem Arbeitslosengeld II bekämpft. Armut in der Rentenphase wird mit der Grundsicherung im Alter angegangen. Der Kampf gegen Armut mit dem ALG II wird wenig zieladäquat und zu kostenintensiv geführt: Der Lohnabstand ist oft zu gering, die Transferentzugsrate ist zu hoch, die Leistungen sind regional zu wenig differenziert. Das hohe Existenzminimum legt faktisch den sozialen Mindestlohn fest, der für viele gering qualifizierte Arbeitnehmer eine unüberwindbare Hürde ist. Eine reguläre Beschäftigung rückt in weite Ferne. Das gilt vor allem dann, wenn sie Familie und Kinder haben. Alleinstehende sind weniger oft in der Mindestlohnfalle gefangen. Der mangelnde Lohnabstand wird durch die hohe Transferentzugsrate noch verschärft. Die hohe Grenzbelastung  bestraft reguläre Arbeit. Sie belohnt das Nichtstun und die Schwarzarbeit. Hohe Transferentzugsraten begünstigen eine „ganz oder gar nicht“-Lösung beim Arbeitsangebot. Das trifft vor allem Frauen, die Beruf und Familie miteinander verbinden wollen.

Die Grundsicherung des ALG II leistet wenig Hilfe zur Selbsthilfe. Lohn- und Tarifpolitik werden aggressiver, räumliche und berufliche Mobilität behindert. Die Höhe, relativ zum möglichen Arbeitseinkommen und die unbegrenzte Dauer des Transferbezugs begünstigen ein aggressiveres Lohnsetzungsverhalten der Tarifpartner. Das trifft gering qualifizierte Arbeitnehmer besonders hart. Deren Position wird weiter geschwächt. Die relativ hohen Leistungen komprimieren die qualifikatorische Lohnstruktur und machen sie nach unten inflexibel. Und noch etwas ist problematisch. Mehr oder wenig bundeseinheitliche Leistungen scheren die regional unterschiedlichen Arbeitsmärkte über einen Kamm. Verzerrte regionale und qualifikatorische Lohnstrukturen sind ein Hemmschuh für die räumliche und berufliche Mobilität. Eine gestauchte qualifikatorische Lohnstruktur verringert die Anreize gering qualifizierter Arbeitnehmer, in Humankapital zu investieren. Eine regional zu wenig differenzierte Lohnstruktur macht es für Arbeitslose wenig attraktiv, in Regionen zu wandern, in denen Arbeitsplätze angeboten werden. Eine wirkliche Hilfe zur Selbsthilfe wird nicht geboten. Arbeitslose werden in der Armutsfalle gefangen gehalten.

Die Grundsicherung in der Phase der Erwerbsfähigkeit strahlt auf die Grundsicherung in der Zeit der altersbedingten Nicht-Erwerbstätigkeit aus. Menschen mit geringer Ausbildung, Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit unterbrochenen Erwerbsbiographien sind stärker als andere armutsgefährdet. Für viele von ihnen ist schon relativ früh klar, dass es ihnen nicht gelingen wird, genug Entgeltpunkte zu sammeln, um im Alter eine Rente zu erhalten, die über der Grundsicherung liegt. Mit der Regelung des ALG II, wonach Langzeitarbeitslose faktisch aus der GRV ausgeschlossen sind, wird diese Entwicklung verstärkt. Die durch Erwerbstätigkeit erworbenen Rentenansprüche werden auf die Grundsicherung angerechnet. Negative Anreizeffekte schon in der Phase der Erwerbstätigkeit sind die Folge. Den Beiträgen zur GRV steht keine Gegenleistung gegenüber. Sie wirken wie Steuern. Die Anreize zur Arbeit werden gemindert, die Anreize zur Schwarzarbeit nehmen zu. Die Sequenzen der Armut im Lebenszyklus liegen auf der Hand: Fehlende Bildung gestern, Arbeitslosigkeit heute, Altersarmut morgen.

Blog-Beiträge der Serie „Die Zukunft des Sozialstaates“:

Norbert Berthold: Die Zukunft des Sozialstaates (1): Das Ideal

3 Antworten auf „Die Zukunft des Sozialstaates (2)
Die Realität“

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