„Industriepolitik ist Planwirtschaft“ (Aymo Brunetti)
Die wirtschaftliche Entwicklung ist nicht rosig. Deutschland leidet unter einer anhaltenden Wachstumsschwäche. Der wichtigste Treiber ist die Produktivität. Die wächst aber wie in ganz Europa nur schwach. Es tut sich eine Innovations- und Produktivitätslücke gegenüber den USA und China auf. Mario Draghi ist der Meinung, Industriepolitik wäre ein wichtiger Schlüssel für ein höheres Produktivitätswachstum in Europa. Dagegen steht die Industriepolitik von Robert Habeck. Sie ist krachend gescheitert. Er hat auf Verlierer gesetzt, Northvolt, Intel, Varta, Wolfsspeed. Die neue Bundesregierung ist trotzdem der Meinung, Industriepolitik sei eine gute Idee, die nur schlecht umgesetzt wurde. Sie setzt im Koalitionsvertrag weiter auch auf planwirtschaftliche Industriepolitik, um den Industriestandort Deutschland zu stärken.
Strukturwandel und Produktivität
Der sektorale Strukturwandel ist seit langem in Gang. Er folgt den Gesetzen des strukturellen Wandels. Der Industriesektor schrumpft, der Dienstleistungssektor wächst. Überall ist der industrielle Sektor hoch produktiv. Das lässt sich über den Dienstleistungssektor so nicht sagen. Er ist in Deutschland niedrig produktiv. Wertschöpfung und Beschäftigung konzentrieren sich im (staatlichen) Gesundheits- und Sozialwesen und im öffentlichen Sektor. In dieser Konstellation verlangsamt der sektorale Strukturwandel das Wachstum der Produktivität. Er ist eine Wachstumsbremse. Das muss allerdings nicht so sein. In den USA expandiert der Dienstleistungsbereich ebenfalls seit langem. Allerdings wächst er im hoch produktiven High-Tech-Bereich, wie der IT und der KI, besonders stark. Er treibt das dynamische Wachstum des Dienstleistungssektors. Nutzen die USA neue Technologien effizienter als Deutschland und Europoa?

Die Unterschiede im Wachstum der Produktivität zwischen der EU und den USA und China sind erheblich. Der Strukturwandel läuft in Europa falsch. Mario Draghi vertritt in einer Studie für die EU-Kommission die Meinung, diese Lücke ließe sich durch Industriepolitik schließen. Was ist eigentlich Industriepolitik? Es geht darum, die sektorale Produktionsstruktur einer Volkswirtschaft zu beeinflussen. Das muss nicht nur die Industrie sein, es können auch der Dienstleistungssektor sein. Der Begriff der Industriepolitik ist deshalb irreführend. Wichtiger ist, wie Industriepolitik eingesetzt wird, horizontal oder vertikal. Horizontale Politik betrifft alle Branchen und Unternehmen. Sie ist nichtdiskriminierend. Vertikale Industriepolitik diskriminiert zwischen Branchen und Unternehmen. Ihre Mittel sind Regulierungen und Subventionen.
Industriepolitik und Innovation
Mit Industriepolitik wird oft versucht, den Strukturwandel aufzuhalten. Gelänge es, hoch produktive Industriearbeitsplätze zu erhalten, etwa in der Automobilindustrie, der Chemie, dem Maschinenbau, wäre dem Produktivitätswachstum geholfen, so die simple Vorstellung. Das ist ein teurer Irrtum. Die Gesetze des Strukturwandels zeigen, wo ein Land komparative Vorteile hat und wo nicht mehr. Deutschland hat seine Vorteile im Industriesektor in der Breite verloren, bleibt aber in spezifischen Segmenten nach wie vor hoch wettbewerbsfähig. Es ist sinnlos und kostspielig, den Strukturwandel aufzuhalten. Allerdings kann es Sinn machen, den Strukturwandel nicht künstlich zu beschleunigen. Die Politik hatte in den letzten Jahren die schlechte Angewohnheit, die Energie- und Klimapolitik und die Bürokratie als industrielle „Strukturpeitsche“ zu nutzen. Das hat die industrielle Basis auf breiter Front nachhaltig beschädigt.
Der Haupttreiber der Produktivität ist die Innovation. Sie gilt es zu aktivieren. Kann dies mit der Industriepolitik gelingen? Industriepolitik ist darauf angelegt, mit Regulierungen und Subventionen zukunftsträchtige Industrien zu identifizieren. Die Schwierigkeiten sind offensichtlich. „Wegweisende“ technologische Entscheidungen durch staatliche Planung kranken an zwei Problemen: Der Anmaßung von Wissen und der Anfälligkeit für Vetternwirtschaft. Beides lässt sich nicht heilen. Wenn es um Innovationen geht, sind Marktwirtschaften den Planwirtschaften überlegen. Der Charakter der Industriepolitik wird sich wandeln. Es wird künftig vor allem darum gehen, Industriepolitik zu nutzen, um die Verteidigungsfähigkeit sicherzustellen und industriepolitische Maßnahmen anderer Länder auszugleichen.
Koalition und Industriepolitik
Industriepolitik hat in Deutschland keinen guten Ruf. Trotzdem wurde sie immer wieder praktiziert. Die Höhe der Subventionen ist ein grober Indikator, welche Rolle die Industriepolitik hierzulande spielt(e). Das will auch die neue Bundesregierung nicht ändern. Es lohnt ein Blick auf das Kapitel „Industriestandort Deutschland stärken“ im Koalitionsvertrag. Ganz vorne: Wettbewerbsfähige Energiepreise für die Industrie. Die strukturellen Fehler der Energiepolitik werden allerdings nicht angegangen. Sie werden weiter mit Geld zugeschüttet. Künftig sollen weniger die Verbraucher über hohe Strompreise zur Kasse gebeten werden. Niedrigere Strompreise sollen von (künftigen) Steuerzahlern finanziert werden. Industriepolitische Weichenstellungen, wie der Ausbau der Wasserstoffwirtschaft, die Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid (CCS) und „grüne“ Leitmärkte spielen weiter eine große Rolle. Das Problem der Anmaßung von Wissen bleibt.

Es ist nach wie vor nicht daran gedacht, von der subventionsträchtigen Industriepolitik zu lassen. Das Beihilferecht in der EU soll „verschlankt“ werden. Auf Deutsch: Ihm sollen die schärfsten Zähne gezogen werden, um etwa hoch subventionierte Klimaschutzverträge auch künftig finanzieren zu können. Alte Industrien erhalten eine Bestandsgarantie, wie Autohersteller und Zulieferer (Schlüsselindustrien), Chemie (Chemieagenda) und Stahl (Klimaschutzverträge). Das ist pure industriepolitische Strukturerhaltung. Andere „strategisch“ wichtige Branchen, wie etwa die Halbleiterindustrie, die Batteriefertigung, die Wasserstoffindustrie oder die Pharmaindustrie, sollen weiter in Deutschland gehalten oder neu angesiedelt werden. Das ist industriepolitische Strukturgestaltung. Für „kritische“ Güter, die für unsere Sicherheit wichtig sind, sollen Abhängigkeiten vom Ausland mit staatlicher Hilfe verringert werden.
Industriepolitik und Europäische Union
Industriepolitisch liegt die neue Bundesregierung im Trend. Die (vertikale) Industriepolitik erlebt eine Renaissance. In der EU werden die Stimmen lauter, sie auf der Ebene der EU zu verankern. Stark gepusht wird diese Sicht von der EU-Kommission. In zwei Berichten – Letta- und Draghi-Report – hat sie sich ihre Vorstellungen von Industriepolitik argumentativ unterfüttern lassen. Dabei geht es weniger darum, die allgemeinen Rahmenbedingungen für Innovationen zu verbessern. Vielmehr sollen strategische Schlüsselindustrien und zukunftsträchtige Technologien gefördert werden. Das gehe nicht ohne Geld vom Staat, argumentieren die beiden Reports. Die Haushaltsspielräume der meisten Mitgliedsländer sind aber eng. Sie haben zu oft fiskalische über die Stränge geschlagen. Weitere schuldenfinanzierte EU-Fonds seien notwendig. Die „neue“ Strategie ist die alte: Mehr Geld vom Staat für vertikale Industriepolitik, mehr Geld von reicheren Mitgliedsländern und (noch) mehr gemeinsame Verschuldung.
Der industriepolitische Weg der EU-Kommission ist ein Holzweg. Die eigentlichen Probleme einer vertikalen Industriepolitik auf nationaler Ebene – Anmaßung von Wissen, „rent seeking“ – verschwinden auf europäischer nicht. Sie werden vielmehr potenziert. Vertikale Industriepolitik auf europäischer Ebene verzerrt den Wettbewerb in Europa. Es ist weiter unklar, welche strategischen Industrien zu fördern sind. Die sektor- und unternehmensspezifische Förderung wirkt sich unterschiedlich auf die Mitgliedsländer aus. Der nicht durch Wahlen legitimierten EU-Kommission kommt noch mehr diskretionärer Handlungsspielraum zu. Vetternwirtschaft wird Tür und Tor geöffnet. Die Tendenz zur Zentralisierung in Europa wird weiter verstärkt. Eine zentrale vertikale Industriepolitik löst durch eine gemeinschaftliche Schuldenpolitik einen weiteren Zentralisierungsschub in der EU aus. Wettbewerbsfähiger würde die EU ganz sicher nicht.
Angebots- statt Industriepolitik
(Vertikale) Industriepolitik ist ein schwieriges Geschäft, oft eine „mission impossible“. Sie hat vor allem mit drei Problemen zu kämpfen: Der Auswahl der Projekte, der Finanzierung der Vorhaben und der finanzielle Unterstützung einiger weniger auf Kosten vieler. Wer kann es besser, Unternehmer oder Politiker? Wo sind die Anreizprobleme bei der Finanzierung von Innovationen geringer, bei Kapitalmarkt- oder Steuerfinanzierung? Wie stark wird der Wettbewerb zwischen begünstigten und belasteten Unternehmen verzerrt? Die Antworten sprechen alle dafür, (vertikale) Industriepolitik stark zu beschränken. Es gibt sicher „kritische“ Güter, die einer staatlichen Förderung bedürfen. Welche das sind, ist aber schwierig objektiv festzustellen. Was wichtig ist, ändert sich. Wenn aber nicht klar abgrenzbar ist, welche Güter „kritisch“ sind, ist politische und lobbyistische Einflussnahme unvermeidlich. Verstärktes „rent seeking“ ist an der Tagesordnung.
Der Strukturwandel muss in eine positive (wachstumsorientierte) Richtung gelenkt werden (Veronika Grimm). Eine (vertikale) Industriepolitik trägt dazu wenig bei. Die Rahmenbedingungen zu verbessern, ist der effizientere Weg. Notwendig ist eine (allgemeine) Angebotspolitik, keine „transformative“. In gering produktiven Dienstleistungssektoren mehr zu automatisieren ist eine Stellschraube. Stärker zu deregulieren, geringere Unternehmenssteuern und niedrigere Lohnnebenkosten sind zwar alte Hüte, sie passen aber. Eine allgemeine Forschungsförderung kann helfen, die Wertschöpfung in hochinnovativen Bereichen zu erhöhen. Innovationshemmende Regulierungen sollten angepasst, wo es möglich ist auch abgeschafft werden. Eine wichtige Hilfe wäre auch die Weiterentwicklung des europäischen Binnenmarktes. Dort liegt noch vieles im Argen. Eine stärkere Integration der Kapitalmärkte könnte helfen, start-ups und Investitionen leichter zu finanzieren. Das sind wichtige Treiber der Innovation.
Fazit
Deutschland und Europa hinkt beim Produktivitätswachstum hinter den USA und China her. Die Stimmen werden lauter, diese Lücke mit industriepolitischen Aktivitäten zu schließen. Robert Habeck ist mit seiner „transformativen“ Industriepolitik gerade spektakulär gescheitert. Er hat einen Haufen Euros an Steuergeldern versenkt. Northvolt ist ein industriepolitisches Zeichen an der Wand. Mario Draghi empfiehlt der EU-Kommission dagegen, mit einer europäischen Industriepolitik à la Habeck erst richtig anzufangen. Er will sie über eine gemeinsame Verschuldung der EU finanzieren. Kein Zweifel, die Industriepolitik erlebt eine Renaissance. Man muss nicht viel über Industriepolitik wissen, um sie beurteilen zu können. Wichtig ist eigentlich nur: Industriepolitik ist immer und überall Planwirtschaft (Aymo Brunetti). Planwirtschaften scheiterten (auch), weil es ihnen nicht gelang, innovativ und produktiv zu sein. Die Produktivitätswachstumslücke mit planwirtschaftlicher Industriepolitik schließen zu wollen, ist bizarr.
Podcasts zum Thema:
Renaissance der Industriepolitik. Keine gute Idee
Prof. Dr. Norbert Berthold (JMU) im Gespräch mit Prof. Reint Gropp PhD (IWH).
Industriepolitik. Was ist dran an den neuen (und alten) Argumenten?
Prof. Dr. Norbert Berthold (Julius-Maximillians-Universität Würzburg) im Gespräch mit Prof. Dr. Reto Föllmi (Universität St. Gallen)
Blog-Beiträge zum Thema:
Aymo Brunetti (Uni Bern, 2023): Industriepolitik ist Planwirtschaft
Norbert Berthold (JMU, 2023): Standortwettbewerb statt Industriepolitik. Schuldenfinanzierte Industriestrategie führt auf Abwege
Serie: „Was Schwarz-Rot verspricht„
Jan Schnellenbach (BTU): Reichen die steuerpolitischen Pläne der neuen Regierung aus?
Susanne Cassel (Econwatch) und Tobias Kohlstruck (Econwatch): Mehr Mut bei der Reform der Unternehmensbesteuerung!
Gunther Schnabl (FvS): Wachstumslokomotive oder Wachstumsbremse?
Oliver Holtemöller (IWH): Staatsverschuldung und mehr Staatsausgaben als Allheilmittel?
Joachim Weimann (OVGU): Beim Klima nichts Neues
Tobias Just (IREBS): Bezahlbar, verfügbar, umweltverträglich. Der Koalitionsvertrag verspricht eine moderate Neuausrichtung der Wohnungspolitik
Stefan Seuffert (ALU): Rente im Koalitionsvertrag. Wiederbelebung der doppelten Haltelinie – doppeltes Versprechen oder doppelte Last?
Alexander Eisenkopf (Zeppelin): Was bleibt vom Sondervermögen Infrastruktur für den Verkehr?
Markus Brocksiek (BdSt): Bürokratieabbau quo vadis?
Holger Schäfer (IW): Was wird neu an der „Neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende“?
Norbert Berthold (JMU) und Jörn Quitzau (Bergos): Was Schwarz-Rot verspricht
- Was Schwarz-Rot verspricht (11)
Wachstumsschwäche, Strukturwandel und Industriepolitik
Weiter wie bisher? - 4. Juni 2025 - Der Fall der WTO
Sind liberale Welthandelsordnungen inhärent instabil? - 18. Mai 2025 - Trumponomics (6)
Handelsbilanzdefizite, Zölle, Staatsschulden
Mit der Handelspolitik den Haushalt sanieren? - 6. Mai 2025
Danke.
Was sollte man (als Buerger) ihrer Meinung nach also tun?
Wie kann ich helfen?
LG Joerg