Seit der Finanzkrise im Jahr 2007 sind die Zahlungsströme der Länder des Euro-Systems nicht mehr ausgeglichen, was in den Target2-Salden erfasst wird. Es ist eine hitzige Debatte darüber entbrannt, inwiefern hohe positive Salden ein Verlustrisiko darstellen, sollte das Land, demgegenüber Forderungen bestehen, aus der Eurozone austreten. Ein Blick auf das amerikanische Zentralbankensystem zeigt: eine Währungsunion kann auch mit erheblichen Ungleichgewichten in Zahlungsströmen funktionieren. Anstatt eine Scheindebatte über ein nicht-reales Verlustrisiko zu führen, sollte man über fiskalische Ausgleichsmechanismen diskutieren.
Einer der vielen schwer zu durchschauenden Aspekte der Europäischen Währungsunion ist die Abwicklung von Zahlungsströmen zwischen den Mitgliedsstaaten. Grundsätzlich ist der Sachverhalt einfach: Käufe und Verkäufe von Gütern, Dienstleistungen und Vermögenswerten werden in der Regel über Geschäftsbanken abgewickelt, die wiederum Konten bei der Zentralbank des Landes haben, in dem sie ansässig sind. Da das Europäische System der Zentralbanken (kurz Euro-System) die Zahlungsströme zwischen den Zentralbanken der Mitgliedsländer im sogenannten Target2-System erfasst, lässt sich ablesen, wie sie sich je Land entwickelt haben. Diese Zahlungsströme werden in den Bilanzen der nationalen Zentralbanken als Netto-Salden ausgewiesen.[1]
Vor dem Anbruch der Finanzkrise waren die Zahlungsströme zwischen Ländern des Euro-Systems im Schnitt ausgeglichen. Seit 2007 verlaufen die Zahlungen jedoch eher asymmetrisch, und es hat sich gerade bei der Bundesbank ein großer positiver Saldo aufgebaut, dem negative Salden in vielen Ländern, die von der Finanzkrise getroffen wurden, gegenüberstehen. Die Salden finden sich auf der Aktivseite der Zentralbankbilanz, während auf der Passivseite die Guthaben der Geschäftsbanken stehen, denen auf deren Bilanz wiederum die Konten ihrer Kunden gegenüberstehen. Nach buchhalterischer Konvention werden positive Salden auf der Aktivseite der Zentralbankbilanz Forderungen genannt, während man bei negativen Salden auch von Verbindlichkeiten spricht.
Eine intensive Debatte hat sich darüber entzündet, ob die Buchungspositionen, die sich in den Bilanzen der nationalen Zentralbanken im Target2-System finden, eine ökonomisch relevante Vermögens- oder Schuldenposition eines Landes darstellen. Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob ein Austritt eines Landes aus der Eurozone für die verbleibenden Länder ein Verlustrisiko darstellt, wenn die Bilanz ihrer Zentralbank einen Verbindlichkeitsüberschuss aufweist. Insbesondere wird hier darauf verwiesen, dass die Bundesbank mit ihren hohen positiven Salden („Forderungen“) auch einem hohen Risiko ausgesetzt ist. Was eigentlich eher eine buchhalterische Angelegenheit ist, wurde für manche zu einem der Hauptargumente gegen die EZB-Krisenpolitik und die Währungsunion im Allgemeinen.[2]
Im Folgenden erläutern wir die Rolle des Target2-Systems und erörtern, inwieweit, und ob überhaupt, hohe Target2-Salden ein Verlustrisiko für Länder der Eurozone bedeuten könnten, wenn ein Mitgliedsland die Eurozone verlassen sollte. Wir betonen den ökonomisch wichtigsten Bestimmungsfaktor hinter den hohen deutschen Target-Salden, den Leistungsbilanzüberschuss und bedienen uns hierbei auch des Vergleichs mit dem System des Zahlungsausgleichs zwischen den US-amerikanischen regionalen Federal Reserve Banken.[3]
Funktion des Target2-Systems
Das Target2-System ist ein Zahlungssystem, welches die Zahlungen zwischen Ländern der Eurozone abbildet, die über die jeweiligen nationalen Zentralbanken abgewickelt werden. Dieser Zusammenhang lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen.
Ein Zufluss von Zahlungen aus Italien an Geschäftsbanken in Deutschland wird von der Bundesbank als ein netto positiver Zufluss in Target2 registriert, während die Banca d’Italia netto negative Abflüsse von Zahlungen registriert, falls in Italien ansässige Personen und Unternehmen mehr Güter, Dienstleistungen, und Kapitalanlagen in Deutschland erwerben, als in Deutschland ansässige Personen und Unternehmen in Italien. Dieser Überschuss an Zahlungen findet sich auf der Bundesbankbilanz auf der Aktivseite als Forderung gegenüber der Europäischen Zentralbank und auf der Passivseite als Verbindlichkeit gegenüber Geschäftsbanken wieder. Bei der Banca d’Italia findet sich das gleiche, nur mit umgekehrtem Vorzeichen.
Die wesentliche ökonomische Größe zur Beurteilung der Target-2-Bilanzpositionen sind die Zahlungsbilanzsalden der Länder in der Eurozone. Länder mit Handelsbilanzüberschüssen erleben in der Regel einen Kapitalabfluss, und sie erwerben Vermögenswerte in anderen Ländern. Mit anderen Worten, wenn ein Land mehr exportiert als es importiert, produziert es notwendigerweise mehr als es konsumiert, und, etwas weniger offensichtlich, spart es mehr als es investiert. Diese Überschussersparnis muss im volkswirtschaftlichen Sinne angelegt werden, und dies geschieht üblicherweise in ausländischen Vermögenswerten, wie Aktien, Staatsanleihen, oder Direktinvestitionen. Aus Sicht des Empfängerlandes sind dies Kapitalimporte, mit denen sie ihre Importüberschüsse finanzieren. Schließlich folgt daraus für diese Länder auch, dass sie weniger produzieren als sie konsumieren.
Im Falle Deutschlands, mit seinen hohen Exportüberschüssen, fließen Zahlungen an die Kunden deutscher Geschäftsbanken, die wiederum auf ihren Konten bei der Bundesbank auf der linken Seite ihrer Bilanz als Forderungen im buchhalterischen Sinne verbucht werden. Dies ist eine Verbindlichkeit auf der Bundesbankbilanz, dem wiederum eine Bilanzposition gegenübersteht, die als Forderung an die EZB verbucht wird. Auf der konsolidierten Bilanz des Euro-Systems heben sich sämtliche Positionen auf, sodass das System als Ganzes keine Überschüsse oder Defizite verzeichnen kann.
Die Bundesbank, oder gar Deutschland, erwerben aufgrund dieser Vorgänge in keiner Weise Vermögensansprüche, die bei anderen Ländern oder Zentralbanken geltend gemacht werden können. Zwar werden die Zahlungszuströme auf der Bundesbankbilanz im buchhalterischen Sinne Forderungen genannt, sind aber letztlich nur Dokumentation von Zahlungsbewegungen im Eurosystem, die die Bundesbank für die Europäische Zentralbank abwickelt. Eigentümer der Eurobestände bleibt in jedem Falle das Euro-System und nicht die Bundesbank, die gewissermaßen als Zweigstelle der EZB fungiert. Die Zahlungen zwischen Ländern im Eurosystem sind daher von ihrer Natur her nicht anders als die Zahlungen von Marktteilnehmern zwischen Regionen in Deutschland, auch schon vor der Währungsunion. Aus dieser Sicht würde es verwundern, wenn man davon spräche, dass Bayern bzw. die Bayerische Landeszentralbank bei der Abwicklung der Zahlungen für einen privaten Kauf von Gütern aus Niedersachsen Verbindlichkeiten eingeht, genauso wenig, wie Niedersachsen auf diesem Wege Forderungen gegen Bayern aufbaut.
Da Handelsbilanzsalden dadurch entstehen, dass sich volkswirtschaftliches Sparen und Investitionen nicht decken, sind sie das Ergebnis von privaten und staatlichen Entscheidungen hinsichtlich Ersparnis und Investitionen. So hat die deutsche Maxime, den Staatshaushalt mindestens auszugleichen („Die schwarze Null muss stehen“) bei gleichzeitig niedrigen Investitionen in Deutschland zu einem Sparüberschuss geführt, der sich in einem Leistungsbilanzüberschuss ausdrückt. Diese Leistungsbilanzungleichgewichte sind zwar auch von der EZB und ihrer Reaktion auf die Krise bzw. von der Untätigkeit der Euro-Mitgliedsstaaten beeinflusst. Aber ob die großen Ungleichgewichte gut oder schlecht sind, muss separat von der Target2-Frage beantwortet werden und sollte daher auch nicht mit ihr verwechselt werden.
Salden in der Zahlungsbilanz sind aber bei weitem nicht die einzige Ursache der Salden im Target2-System. Nach dem Ende der Eurokrise haben strukturelle Reformen und eine restriktive Fiskalpolitik in vielen Mitgliedsstaaten dazu geführt, dass sich deren Handelsbilanzdefizite verringert, beziehungsweise ins positive gekehrt haben. Gerade Griechenland bietet dazu ein positiv hervorzuhebendes Beispiel. Der große deutsche Handelsüberschuss besteht zu mehr als der Hälfte gegenüber Ländern außerhalb der Eurozone und ist damit nicht in gleichem Maße relevant für die Target-Salden.
Der Ursprung des jüngeren Zuwachs der deutschen Saldenpositionen in Target2 liegt dagegen darin, dass die nationalen Zentralbanken im Auftrage der EZB nationale Staatsschuldpapiere kaufen und zwar anteilsmäßig der Bedeutung der jeweiligen Volkswirtschaft in der Eurozone entsprechend. Im Falle Deutschlands werden diese Käufe durch die Bundesbank über den Finanzplatz Frankfurt abgewickelt. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind die Verkäufer außerhalb der Eurozone angesiedelt, sodass Zahlungsströme für diese Transaktionen als positiver Eintrag auf der Bundesbankbilanz erscheinen, also als Gegenposition zu neu geschaffenem Zentralbankgeld. Dieser Verbindlichkeit steht nun eine Forderung (wie gesagt, im buchhalterischen Sinne) im Target2-System gegenüber.
In diesem Zusammenhang möchten wir betonen, dass durch eine solche Transaktion durchaus eine rechtliche Forderung entstanden ist, nämlich der Anspruch der EZB, Zinszahlungen und Rückzahlungen für die entsprechenden Anleihen zu erhalten. Dieser Anspruch hat jedoch mit Target2 rechtlich nichts zu tun. In diesem Sinne soll auch noch einmal erwähnt sein, dass die Bilanzen der nationalen Zentralbanken, abgesehen von einem operativen Teil, nicht als Bilanzen im geschäftlichen Sinne zu verstehen sind, sondern als Aufstellungen darüber, was der Geldmenge als Vermögenswert gegenübersteht. In der konsolidierten Bilanz des Euro-Systems sind dies die mit Zentralbankgeld gekauften Anleihen und Schuldpapiere, wohingegen die nationalen Target2-Salden in der EZB Bilanz sich zu Null addieren, da sie schlichtweg Zahlungsströme abbilden.
Dies bringt uns nun zu einem Punkt, der in der Target 2 Diskussion zwar nicht übersehen wird, aber dennoch nicht hinreichend im Vordergrund steht. Die nationalen Zentralbanken im Euro-System, und daher auch die Bundesbank, sind gewissermaßen reine Zweigstellen der Europäischen Zentralbank, die in deren Auftrag gewisse Tätigkeiten durchführen, aber keinerlei monetäre Unabhängigkeiten besitzen – ebenso wenig wie die regionalen Federal Reserve Banken in den USA.
Ein Vergleich mit dem US-Amerikanischen Target2 Pendant: Der Interdistrict Settlement Account
In der Target2 Debatte drängt sich daher der Vergleich mit dem amerikanischen Zentralbanksystem auf, dessen Struktur der des Euro-Systems stark ähnelt. Das Federal Reserve System besteht aus einer zentralen Institution, dem Board of Governors in Washington, D.C., und dem geldpolitischen Entscheidungsgremium, dem Federal Open Market Committee (FOMC). Dazu gibt es 12 regionale Federal Reserve Banken, die zwar unabhängig geführt werden, aber keine unabhängigen geldpolitischen Entscheidungen treffen. Sie sind jeweils einem sogenannten Federal Reserve District zugeordnet, der sich in der Regel über eine Gruppe von Bundesstaaten erstreckt.
Es gibt noch einige andere Unterschiede zum Euro-System. Zum Beispiel wird die Geldpolitik zentral an der Federal Reserve Bank of New York implementiert, während sie im Eurosystem bei den nationalen Zentralbanken umgesetzt wird. Auch waren die Federal Reserve Banken historisch niemals nationale Zentralbanken, sodass sich keine Überlappung mit einem fiskalischen Hoheitsgebiet ergibt, wie in der Euro-Zone, was man als eine der Problemstellen im Euro-System sehen kann.
Ein weiterer Unterschied ist, dass die zentrale Fiskalgewalt im amerikanischen föderalen System sehr stark ausgeprägt ist. Obwohl die Bundesstaten eine gewisse fiskalische Unabhängigkeit besitzen und auch eigene Steuern erheben können, ist der überwältigende Anteil der Staatseinnahmen und Ausgaben auf Bundesebene angesiedelt. Zudem ist die fiskalische Unabhängigkeit für viele Bundesstaaten stark eingeschränkt durch in der Verfassung verankerte „balanced budget rules“.
Trotz dieser Unterschiede sind die beiden Systeme in ihren geldpolitisch relevanten Funktionsweisen sehr ähnlich. So wird im Interdistrict Settlement Account der größte Teil der Zahlungsströme zwischen Geschäftsbanken in den USA über die Federal Reserve abgewickelt und daher auch Buch darüber geführt, ganz wie im Target2-System. Und es passiert oft, dass sich große Salden zwischen den Federal Reserve Districts ergeben, ebenso wie in der Eurozone. Letztendlich reflektieren diese Zahlungssalden Handelsbilanzsalden zwischen den Federal Reserve Districts und damit zwischen Teilmengen der amerikanischen Bundesstaaten. Da diese Ströme aber innerhalb eines fiskalischen und rechtlichen Hoheitsraumes stattfinden, finden etwaige Ungleichgewichte kein öffentliches Interesse.
Was passiert aber mit den Ungleichgewichten im System, die sich tatsächlich über Jahre hinweg aufbauen können? Nichts. Rein formell gleicht die Federal Reserve einmal im Jahr Ungleichgewichte aus, sobald gewisse Kriterien bezüglich deren Höhe und Zusammensetzung erfüllt sind. Der Ausgleich erfolgt, indem Sicherheiten auf der konsolidierten Zentralbankbilanz, die im sogenannten System Open Market Account gehalten werden, unter den regionalen Banken neu aufgeteilt werden. Es können auch sogenannte „Gold Zertifikate“ übertragen werden, die auf den Gold Standard zurückgehen, der während der Gründungsphase der Federal Reserve bestand. Hiermit ist dieser Prozess dann auch abgeschlossen. Das Target2-System durch eine solche Prozedur zu ergänzen, sollte auch im Euroraum möglich sein und würde sicherlich helfen, die Diskussion zu beruhigen.
Um auf andere Weise zu sehen, weshalb diese ISA Salden ökonomisch irrelevant sind, könnte folgendes Gedankenspiel hilfreich sein. Man stelle sich vor, dass es keine regionalen Federal Reserve Banken gibt und alle Zahlungsströme zwischen Geschäftsbanken über ein zentrales Computersystem am Board of Governors in Washington abgewickelt werden. Damit gäbe es auch keine wahrnehmbaren Ungleichgewichte, keine artifiziellen Forderungen und Verbindlichkeiten und auch, konsequent weitergedacht, keine Besorgnisse oder Diskussionen, wie sie um die Target2-Salden in der Eurozone entstanden sind.
An dieser Stelle ist es auch angebracht, sich noch einmal der Frage zu stellen, wieso die Europäische Währungsunion mit ihrer einheitlichen Währung, dem Euro, gegründet wurde. Hierfür gab es viele vernünftige Argumente, wobei der nicht unbedeutendste war, dass das zuvor bestehende System fester Wechselkurse schwierig aufrechtzuerhalten war. Im Falle von Wechselkursflexibilität aber führen Handelsbilanzdefizite im Endeffekt zu einer Abwertung der heimischen Währung, was sowohl internationale Kaufkraftverluste zur Folge hat, wie auch oft Probleme für die inländische Inflationsbekämpfung bedeuten kann und daneben auch exzessive Wechselkursvolatilität hervorrufen kann, gerade für kleine und sehr offene Volkswirtschaften.
Viele Länder waren daher zu einem System zunehmend fixierter Wechselkurse übergegangen, die sie an der Deutschen Mark ausrichteten, was aber andere Probleme mit sich brachte, wie die verschiedenen innereuropäischen Währungskrisen vor Einführung des Euros belegen. Die Notwendigkeit, bei plötzlichen Kapitalbewegungen in die Devisenmärkte einzugreifen, um durch Währungskäufe oder -verkäufe den Wechselkurs zu stabilisieren, kann dazu führen, dass einer intervenierenden Zentralbank die Mittel (sprich Währungsreserven) ausgehen, und das Wechselkursregime kollabiert. Es wird dann zu starken Bewertungsverlusten auf einigen der beteiligten Zentralbankbilanzen kommen. Zum Beispiel wäre es im Falle einer Kapitelflucht aus einem Land, sagen wir Italien, nach Deutschland zu einer Aufwertung der Deutschen Mark gekommen, die die Bundesbank nur durch Kauf von Lira gegen neu ausgegebene D-Mark hätte verhindern können. Es hätten sich also potentiell durch das Wechselkursrisiko im Wert unsichere Lira-Bestände auf der Bundesbankbilanz aufgebaut.
Ein wichtiger Aspekt der Währungsunion liegt gerade darin begründet, dass es keinen Ausfall von risikobehafteten Fremdwährungsreserven geben kann, die sich bei fixierten Wechselkursen aufbauen können. Und damit liegt der Unterschied zu den Target2-Salden in der Europäischen Währungsunion klar auf der Hand. Während in einem System mehrerer Währungen eine nationale Zentralbank keine Devisen erschaffen kann, um die heimische Währung zu stützen, ist dieser Punkt in einer Währungsunion irrelevant, vor allem auch weil Target2-Salden keinen fungiblen Vermögenswert darstellen. Im Gegenteil, eine Zentralbank kann derartigen Situationen entgegentreten, da sie sich ihre eigenen Verbindlichkeiten drucken bzw. diese vernichten kann.
Target2-Salden und Austritt aus der Währungsunion
Was passiert, wenn ein Land aus der Eurozone austreten würde? Es ist gerade diese Frage, die in der öffentlichen Diskussion oft im Vordergrund steht. Man mag nach den bisherigen Ausführungen einwenden, dass aus den Target-Salden keine Probleme erwachsen, solange die Eurozone fortbesteht, es aber zu erheblichen Verwerfungen kommen könnte, sollte ein Land aus der Währungsunion austreten oder diese insgesamt auseinanderfallen.
Die Frage ist also, was mit den sogenannten Verbindlichkeiten geschieht, die ein Land gegenüber Target2, also dem Eurosystem hat. Würde Deutschland in diesem Falle auf seinen Forderungen „sitzenbleiben“? Um es nochmal zu betonen, Target2 „Forderungen“ sind keine rechtlich einklagbaren Forderungen. Damit sind es für sich genommen auch keine Verpflichtungen, die ein Land gegenüber einem anderen hat. Die einzigen rechtlichen Verpflichtungen, die bestehen, liegen in den Staatsanleihen und eventuell anderen privaten Schuldpapieren, die die EZB gegen Zentralbankgeld angekauft hat. Der rechtliche Anspruch auf Tilgung erlischt durch den Austritt nicht. Zwar könnte es dennoch zu Zahlungsausfällen kommen, aber das ist selbst in normalen Zeiten ohne Target2- Ungleichgewichten immer eine Möglichkeit. Zur gleichen Zeit erlischt aber der Anspruch des ehemaligen Mitgliedslandes auf einen Anteil der durch die Anleihekäufe entstandenen Zentralbankgewinne. Dieser wird auf die anderen Mitgliedsländer umverteilt, sozusagen als Entschädigung für die entgangenen Gewinne aus Geldschöpfung und Zinszahlungen. Entsprechend dem Ausgleichsmechanismus im amerikanischen ISA System könnte dann ein Ausgleich zwischen diesen nationalen Zentralbanken geschaffen werden, um die verbliebenen Anleihen zu verteilen.
Der geldpolitische Handlungsspielraum der EZB ist jedoch nicht grundsätzlich dadurch eingeschränkt, dass ein Teil der Vermögenswerte, über deren Kauf Euros in Umlauf gebracht wurden, nach einem Austritt eines Landes nicht mehr auf der Bilanz der EZB sind. Denn die maßgeblichen geldpolitischen Operationen zur Zinskontrolle sind Refinanzierungsgeschäfte bei denen Geschäftsbanken gegen Sicherheiten Liquidität erhalten. Dieses Instrument ist von den Vermögenswerten, die im Rahmen der krisenbedingten Ankaufprogramme erworben wurden, weitgehend unberührt. Zudem kann auch über Verzinsung der von Geschäftsbanken bei einer Zentralbank gehaltenen Überschussreserven verhindert werden, dass diese nachfragewirksam werden und damit Inflation auslösen. Inflationsrisiken können also auch nach Austritt eines Landes mit hohen Target2-Verbindlichkeiten effektiv bekämpft werden und somit ist die Kaufkraft selbst der nach Deutschland geflossenen und im Target2-System erfassten Euros nicht gefährdet.
Das Fazit zur Irrelevanz der Target2-Salden
Die Diskussion um Target2 scheint uns eine Scheindebatte zu sein, in der rein buchhalterische Konventionen zu einem Menetekel für die Probleme der Eurozone herhalten müssen. Diskussions- und Reformbedarf gibt es freilich reichlich. Zum einen sollten sicherlich die Zahlungsbilanzungleichgewichte innerhalb der Eurozone zur Debatte stehen, und zwar nicht nur die Defizite in vielen Ländern des südlichen Euroraumes, sondern gerade auch die gewaltigen Überschüsse im Norden, speziell in Deutschland. Auch ist die Frage eines fiskalischen Ausgleichsmechanismus innerhalb der Eurozone noch nicht geklärt. Dass aber ein System der Währungsunion trotz oft enormer interner Ungleichgewichte funktionieren kann, zeigt das Beispiel der USA auf beeindruckende Weise. Man darf in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen, dass es vom Zeitpunkt der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1776 bis zum Jahr 1913 gedauert hat, bis eine nationale oder föderale Einkommensteuer eingeführt wurde. Also auch hier gab es zunächst keinen föderalen Ausgleichsmechanismus. Die amerikanische Zentralbank, die Federal Reserve, ist erst 1914 gegründet worden. In diesem Sinne ist der Euro in seinen Kinderschuhen schon sehr weit vorangeschritten.
Quellen
Burgold, Peter, und Sebastian Voll (2012), Begrenzung von Target-Risiken: ein kritischer Überblick, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 13: 103-120
Fuest, Clemens, und Hans-Werner Sinn (2018), Target-Risiken ohne Euro-Austritte, ifo-Schnelldienst, 24: 15-25
Hellwig, Martin (2018), Target-Falle oder Empörungsfalle?, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 19(4): 345-382
Lubik, Thomas A., und Karl Rhodes (2012), TARGET2: Symptom, Not Cause, of Eurozone Woes, Federal Reserve Bank of Richmond Economic Brief 12-08
Wolman, Alexander (2013), Federal Reserve Interdistrict Settlement, Federal Reserve Bank of Richmond Economic Quarterly, 99(2): 117-141
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* Die Meinungen und Sichtweisen in diesem Artikel sind die der Autoren und nicht unbedingt die der Federal Reserve Bank of Richmond oder des Federal Reserve Systems.
[1] “Target2” bezeichnet die zweite Generation des “Trans-European Automated Real-Time Gross Settlement Express Transfer System”, dessen Funktionsweise im Folgenden näher erläutert wird.
[2] Exemplarisch für die Diskussion in Deutschland sind Hellwig (2018) und Fuest und Sinn (2018), die jeweils konträre Positionen vertreten.
[3] Siehe Wolman (2013) für Details des US-Amerikanischen ISA-Systems und Lubik und Rhodes (2012) für einen Vergleich mit dem europäischen Target2-System. Für das Verständnis der Funktionsweise von Target2 sind die jeweiligen März-Ausgaben der Monatsberichte der Bundesbank hilfreich. Als Hintergrund ist auch Burgold und Voll (2012) geeignet.
Blog-Beitrag zum Thema:
Ulrich van Suntum: Target2 für Lummerländer
Dieter Smeets: Die deutschen TARGET-Forderungen. Ein hausgemachtes (Schein-)Problem?
Ulrich van Suntum: Das Billionengrab. Was Targetsalden wirklich bedeuten