Natürlich war es richtig so, dass sich die seriösen Parteien bei der jüngsten Wahl allesamt mit Überzeugung zur EU bekannt hatten. Aber vor dem Hintergrund der EU-feindlichen Parteien, die es überall in der EU gibt und die teilweise Regierungen stellen, hätte man sich gern genauere Antworten auf die Frage gewünscht, wie man sich das vorstellt. Vor allem auch dies: Wie beabsichtigt man, mit dem Erfolg der Rechtspopulisten bei so vielen Wählern umzugehen; und hierzu sind trotzige Bekenntnisse wie #Europaistdieantwort dann doch ein wenig dünn. Ein paar potenzielle Nichtwähler mag das mobilisieren. Aber mobilisiert es auch solche, die sich von der EU bevormundet und deshalb eher von der AfD vertreten fühlen? Und kann es auf internationaler Bühne zum Beispiel jene über 45,5 Prozent der polnischen Wähler überzeugen, die die nationalistische und EU-feindliche PiS gewählt haben? Und die ungarischen Wähler, jene in Italien und wo sonst noch alles?
Es ist ein fataler Irrtum, man könne sich allein mit schlechten Marketingslogans aus der Legitimationskrise der EU stehlen, innerhalb derer man trotzig behauptet, alles, was die Kritiker von sich geben, sei Unsinn. Zwar ist es wahr, dass das, was zumindest die Vertreter rechtspopulistischer und nationalistischer Parteien und Strömungen von sich geben, größtenteils Unsinn ist, wenn man es freundlich ausdrückt. Aber die große Frage ist, warum sie dennoch damit Erfolg haben. Und hierzu ist – zumindest in Deutschland – fast allen, die sich dazu überhaupt geäußert haben, nur eines eingefallen: Es fehle der EU an „sozialer Kohärenz“, an „Zusammenhalt“. Deshalb müsse das Spektrum der vergemeinschafteten Politik ausgedehnt werden, und zwar vor allem um die Bereiche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. „Europa muss sozialer werden, um gegen Krisen und Populismus gewappnet zu sein“, fasste Anton Hofreiter die These zusammen.[1] „Europa muss sozialer werden“, warb auch die Linke, und die SPD schrieb schlicht „Zusammenhalt“ auf ihre Plakate.
Das Argument läuft ungefähr so: Soziale Probleme gibt es in jedem Land der EU. Sie machen nicht an den Grenzen der Mitgliedstaaten halt, sondern sind in ganz Europa präsent. Daher sind sie ein europäisches Problem, und deshalb muss die Sozialpolitik auf die Gemeinschaftsebene gehoben werden. Das Argument ist ungefähr so schlüssig wie das folgende: Nehmen wir einmal an, ab morgen würde in allen Kommunen aller Mitgliedsstaaten der EU die Abfallbeseitigung nicht mehr funktionieren. Dann würden sich binnen weniger Wochen die Müllberge in Europa auftürmen, wir hätten massive Einbrüche in der Lebensqualität. Hygieneprobleme würden europaweit zu einem unerträglichen Problem, und das hätte gravierende Folgen für die Gesundheit aller EU-Bürger und für die Umwelt. Es beträfe also alle und würde nicht an den Grenzen der Mitgliedstaaten haltmachen. Aber folgt daraus, dass die Abfallbeseitigung eine Aufgabe ist, die auf EU-Ebene bewältigt werden muss, weil sie in jeder einzelnen Kommune in jedem einzelnen Mitgliedsstaat gleichermaßen von elementarer Bedeutung ist und an den Grenzen nicht haltmacht?
Natürlich folgt das nicht, und deshalb ist die Tatsache, dass es ein Problem oder eine Aufgabe in jedem Mitgliedsstaat gibt, für sich genommen völlig bedeutungslos für die Frage, ob dieses Problem oder diese Aufgabe auf die EU-Ebene gehört. Die ökonomische Theorie des Föderalismus hat sich seit ungefähr Mitte der 1960er Jahre sehr intensiv mit der Frage beschäftigt, welche Aufgaben in einem mehrstufigen föderalen System am besten auf welche Ebene angesiedelt gehört. Sie hat dazu nachvollziehbare und überprüfbare Kriterien entwickelt, die heute zum etablierten wissenschaftlichen Erkenntnisstand gehören.
Demnach ist es zum Beispiel ziemlich unstrittig, dass die Abfallbeseitigung auf die örtliche Ebene und daher in die Hand der Kommunen gehört. Umgekehrt sehen die Dinge bei der Außenhandelspolitik aus, die daher zurecht und schon seit 1969 im Rahmen der Zollunion auf der europäischen Ebene angesiedelt ist. Warum ist das so? Nicht, weil diese Politik in jedem Mitgliedsstaat relevant ist, sondern weil die Politik eines Mitgliedsstaats Auswirkungen auf die anderen hat. Ökonomisch gesehen finden wir hier externe Effekte, welche das Wohlergehen der Menschen in allen Ländern verringern, wenn sie nicht durch eine gemeinsame Politik „internalisiert“ werden. Genau das gleiche gilt auch für Verteidigung, die äußere Sicherheit und ganz allgemein für die Außenpolitik. Wenn die NATO-Einbindung vielleicht der einzige Grund dafür ist, dass sich Putin zwar an Georgien und an der Ukraine, aber an keinem Mitgliedsland der NATO vergriffen hat – vor allem auch nicht an Estland, Lettland oder Litauen –, dann erkennt man, dass die Verteidigungsanstrengungen eines Staates auch andere schützen. Es handelt sich um ein gemeinschaftsweites öffentliches Gut, und deshalb gehört seine Bereitstellung ebenso wie alle Entscheidungen darüber auf die Gemeinschaftsebene. Ein zweites prominentes Beispiel ist die Klimapolitik, die eigentlich auf globaler Ebene aufgehängt gehörte, wenn es denn dort funktionieren könnte. Aber wenn das schon nicht geht, dann geht es im Rahmen der globalen Verpflichtungen eigentlich nur auf der EU Ebene.
Umgekehrt gilt freilich: Wenn die Müllabfuhr in Castrop-Rauxel – das anderslautenden Gerüchten zum Trotz übrigens nicht die lateinische Bezeichnung von Wanne-Eickel ist – einen neuen Wochenplan aufstellt, dann hat das für die Kommunalpolitik in Athen oder Helsinki eigentlich keine Bedeutung. Daher gehört es auf die kommunale Ebene, und glücklicherweise bestreitet das auch keiner. Aber wie sieht es dann mit der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik aus? Hier ist die Frage komplizierter, vor allem aus diesem Grund: Sozialpolitik löst Migrationsanreize und damit grenzüberschreitende Effekte aus, und zwar auf der Seite der Zahler ebenso wie auf der Seite der Empfänger. In Europa gibt es ein weiteres Problem: Renten oder Leistungen der Arbeitslosenversicherungen unterliegen Zeiten der Anwartschaft, und die können für jene verloren gehen, die mal in diesem und mal in jenem EU-Land arbeiten, wenn diese Personen immer innerhalb ihrer Anwartschaftsfristen wieder in ein anderes Land ziehen. Um dem zu begegnen, haben bereits die Vorgängerinstitutionen der EU in zwei Verordnungen aus den Jahren 1968 und 1971 dafür gesorgt, dass die wesentlichen Probleme unter Kontrolle sind. Im Bereich der Sozialpolitik ist auch noch mehr geschehen, aber das war über diese beiden wichtigen Verordnungen hinaus stets mehr plakativ als bedeutsam und stellte sich auch nie als notwendig heraus. Darüber hinaus gibt es für eine Vergemeinschaftung der Sozialpolitik in der EU keinen Bedarf; und zwar nicht, weil Sozialpolitik unwichtig wäre, sondern weil eine Vergemeinschaftung ganz einfach keine Probleme lösen würde. Finanziell solidarisch mit armen EU-Ländern könnte man besser im Wege direkter finanzieller Transfers als über eine Vergemeinschaftung der Sozialpolitik sein, wenn man das denn über das bisher bestehende Maß hinaus so wollte.
Im Prinzip könnte man darüber diskutieren, ob man eine gemeinsame Versicherung gegen konjunkturelle Arbeitslosigkeit wollte. Die Gründe dafür wären dann aber nicht sozialpolitischer, sondern makroökonomischer Natur. Denn eine vergemeinschaftete Versicherung gegen konjunkturelle Arbeitslosigkeit würde asymmetrisch wirkende Konjunkturschwankungen durch eine automatische Kaufkraftverschiebung hin zu Regionen abfedern, die von einer zyklischen Krise getroffen wurden. Es gibt aber viele Argumente gegen eine solche EU-weite Versicherung. Hierzu gehören nicht zuletzt die großen Lohnunterschiede, die dann auch konfliktanfällig hohe Unterschiede in den Versicherungsleistungen erforderten, sowie die Missbrauchsanfälligkeit, die daraus folgt, dass konjunkturelle von struktureller Arbeitslosigkeit in der Praxis schwer zu unterscheiden ist.
Dagegen gibt es Bereiche, in denen eine gemeinsame Politik eindeutig sinnvoll wäre. Aber ausgerechnet hier kommt die EU nicht zusammen. Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik wird die EU international belächelt. Hier ist sie erbärmlich schwach, weil niemand in der EU auf seine nationale Souveränität verzichten will, am wenigsten die großen Länder. In der Klimapolitik, die auf der Ebene der Mitgliedsstaaten überhaupt keinen Sinn hat, sieht es nicht anders aus. Aber weil ausgerechnet in diesen Bereichen keine Einigung erzielt werden kann, steht die EU außenpolitisch hilflos den derzeit leider immer aggressiver werdenden Super- und Regionalmächten gegenüber; und klimapolitisch leistet man sich in Deutschland einen Irrsinn, der viele hundert Milliarden Euro kostet, ohne damit irgendeinen signifikanten Beitrag zum Klimaschutz leisten zu können.
Machen wir eine kleine Anleihe in der Statistik und sprechen wir von Fehlern erster und zweiter Art. Dann ist der Fehler erster Art, dass Bereiche auf nationaler Ebene verbleiben, obwohl sie auf die EU-Ebene gehören; und der Fehler zweiter Art besteht darin, dass Bereiche auf die EU-Ebene gehoben werden, obwohl sie dort nicht hingehören. Beide Fehler verursachen nicht nur Ineffizienzen, also einen Verlust an Wohlstand und Stabilität, sondern auch Frustration und EU-Skepsis. Denn es führt erkennbar dazu, dass die EU Dinge nicht angeht, die sie angehen sollte, und umgekehrt Dinge tut, die sie besser unterlassen sollte. Wenn die EU es nicht schafft, außenpolitisch die ihr angemessene Rolle einzunehmen, und wenn sie es nicht schafft, klimapolitisch voranzukommen, dann muss sie an Akzeptanzproblemen leiden. #Europaistdielösung ist dann zwar ein netter Slogan, aber wenn nichts geschieht, bleibt es eine leere Formel, und die Leute fühlen sich sogar zurecht verschaukelt.
Nun aber kommt die Frage: Wenn wir in dieser Weise Fehler erster Art zulassen, wie halten wir es dann mit Fehlern zweiter Art? Vernunftüberlegungen sollten uns zu dieser Haltung bewegen: Wenn wir schon die Fehler erster Art nicht vermeiden können, dann sollten wir wenigstens die Fehler zweiter Art vermeiden. Aus einem simplen Slogan wie #Europaistdielösung folgt aber leider das Gegenteil: Wenn wir schon jene Bereiche nicht vergemeinschaften können, für die das sinnvoll ist, dann müssen es demnach wenigstens andere sein, für die Europa dann aber nur scheinbar die Lösung ist – oder besser gesagt die Lösung für ein nicht existierendes Problem, allerdings mit Nebenwirkungen. Dennoch will man damit den Rechtspopulisten etwas entgegenstellen, und wenn die Rechtspopulisten pauschal weniger Europa wollen, dann scheint es natürlich, dass man selbst pauschal mehr davon fordert. Da sich Sozialpolitik immer gut verkauft, wird das „mehr“ unter der Überschrift „Zusammenhalt“ oder „Europa muss sozialer werden“ mit der Sozialpolitik verknüpft. Unter anderem steht dabei die von den Grünen, der SPD und den Linken geforderte Einführung eines europäischen Mindestlohns im Mittelpunkt.
Aber wenn es ein Beispiel für eine Politik gibt, die auf diese Ebene zu heben eindeutig ein Fehler zweiter Art ist, dann die Mindestlohnpolitik. Welche Art von „Zusammenhalt“ könnte das wohl fördern? Wäre es ein Akt der Solidarität mit zum Beispiel rumänischen Arbeitnehmern, wenn man ihnen verböte, auf der Basis ihrer eigenen demokratisch gewählten Legislative autonom zu bestimmen, ob und welchen Mindestlohn sie in ihrem Land wünschen? Bekämen die rumänischen Arbeitnehmer damit irgendetwas, was ihnen sonst vorenthalten bliebe? Davon ist nichts zu erkennen. Aber umgekehrt gilt: Sofern wir die rumänischen politischen Entscheidungsorgane als legitim und demokratisch erachten, dann entfällt jede Grundlage dafür, sich in diese Entscheidung einzumischen. Tun wir es aber doch, dann signalisieren wir damit, dass wir die rumänischen Entscheidungsorgane für ungeeignet halten. Was für eine Munition für Europaskeptiker!
Wird ein solches Projekt ungeachtet dieser Einsicht durchgesetzt, dann dürfen die Rumänen in den Gremien der EU über ihren eigenen Mindestlohn nicht mehr selbst, sondern nur noch mitentscheiden. Rumänien hatte nach der Wahl 2014 im Europäischen Parlament 32 von 751 Sitzen, das sind 4,26 Prozent. Im Ministerrat ist Rumänien eines von 16 Ländern, die es für eine Mehrheit braucht, aber nur, wenn dabei eine Bevölkerung von mindestens 333,19 Mio. zusammenkommt, wovon die Rumänen wiederum 19,5 Mio. oder ganze 5,8 Prozent stellen. Und da reden wir noch gar nicht von einem kleinen Land wie Estland, das gerade einmal knapp 0,8 Prozent der Stimmen im EU-Parlament und 0,17 Prozent der für eine Mehrheit im Ministerrat nötigen Bevölkerung zusammenbringt.
In diesem Umfang werden diese Länder dann noch mitbestimmen dürfen über den allein in ihrem jeweiligen Land geltenden Mindestlohn. Immerhin, mag man sagen, vielleicht besser als gar nicht. Denn wenn es eine vernünftige EU-Klimapolitik gäbe und vielleicht sogar eine Außen- und Sicherheitspolitik, die ihren Namen verdient, dann dürften diese Länder schließlich auch nur in diesem Rahmen mitbestimmen. Und in der Handelspolitik ist das schon seit Vollendung der Zollunion im Jahre 1969 so. Der Unterschied ist nur: Diese Politikbereiche gehören auf die EU-Ebene, wenn sie vernünftig im Sinne aller Menschen in allen Mitgliedsstaaten gehandhabt werden sollen. Das geht dann nicht anders. Das beinhaltet freilich die Einsicht in ein notwendiges Übel, aber sicher nicht in eine erfreuliche Sache. Und daraus folgt, dass man dieses notwendige Übel dann und nur dann in Kauf nehmen sollte, wenn es nicht anders geht oder, besser gesagt, wenn es auf der anderen Seite hinreichend große Vorteile bringt, wie zum Beispiel jene der Zollunion, einer wirkungsvollen und kostengünstigen Klimapolitik oder einer friedenstiftenden EU-Außen- und Sicherheitspolitik.
Im Falle des Mindestlohns steht diesem Übel aber weit und breit kein solcher Vorteil gegenüber. Es ist kein Akt der Solidarität zwischen den EU-Staaten darin erkennbar, und wenn es denn wenigstens einer innerhalb Rumäniens (oder Estlands oder eines anderen Landes) ein solcher wäre, dann sollten darüber genau jene entscheiden, welche diese Solidarität leisten wollen: also ausschließlich die Einwohner des betreffenden Landes, vertreten durch die dortigen politischen Organe.
Der einzige „Vorteil“ eines europäischen Mindestlohns, der sich erblicken oder erahnen lässt, ist, dass die reichen EU-Länder hoffen könnten, sich damit lästige Konkurrenz aus den armen EU-Ländern vom Halse halten zu können. Tatsächlich wird der europäische Mindestlohn nicht zuletzt mit diesem Argument vertreten – wenn auch etwas verklausuliert. Wenn das allerdings überhaupt wahr wäre, dann ginge diese Art von „Solidarität“ in die umgekehrte Richtung: von den armen in die reichen Länder nämlich. Und genau zu diesem Zwecke nimmt man dann in Kauf, dass man EU-seitig die souveräne Entscheidungsgewalt der betroffenen Parlamente umgeht. Was für ein gefundenes Fressen für alle, die nach Indizien für die Bevormundung von Mitgliedsstaaten durch die EU suchen. Auf dem Tablett werden sie ihnen serviert!
Man möge es nicht missverstehen: Es geht hier nicht um Mindestlöhne per se, sondern es geht um die Frage, auf welcher Ebene über solche Mindestlöhne am sinnvollsten entschieden werden soll. Führen wir uns also noch einmal vor Augen, dass eine Vergemeinschaftung dieser Politik den demokratischen Entscheidungsorganen der betreffenden Länder das Recht auf die Bestimmung des Mindestlohnes in ihrem Land zugunsten von Organen nimmt, in denen sie nur noch über einen verschwindend kleinen Einfluss verfügen. Führen wir uns dann vor Augen, dass es dazu nach den wissenschaftlich bewährten und erprobten Kriterien keinerlei erkennbaren Grund gibt. Führen wir uns schließlich vor Augen, welches Konfliktpotenzial dadurch entstehen wird, dass alle Länder mit ihren jeweiligen Interessengruppen und Konflikten an jedem Mindestlohn in jedem Mitgliedsstaat mitbestimmen und sich damit zwangsläufig dem Verdacht aussetzen, damit ihren jeweiligen Vorteil zu suchen. Dann sollte uns der Fehler zweiter Art mit allen seinen Folgen plastisch genug vor Augen stehen. Vor allem sehen wir, dass gerade die Einwohner ärmerer EU-Länder sowie die kleineren und traditionell weniger einflussreichen EU-Länder von so einer Politik vor allem eines halten werden: Sie werden sich davon bevormundet fühlen, und das mit Recht. Dazu müssen sie keineswegs Rechtspopulisten sein. Wohl aber kann es dann noch passieren, dass sie anschließend mit solchen in einen Topf geworfen werden. Was für ein Scherbenhaufen!
Und es kommt noch schlimmer: Darauf, dass irgendwo der Verdacht der Bevormundung aufkommt, warten genau jene, gegen die man mit einer solchen Politik glaubt, ankämpfen zu können. Sie werden das genüsslich aufgreifen und die darin enthaltenen Konflikte nach Kräften schüren. Und dann hat man den Kampf gegen den Rechtspopulismus, für #Europaistdieantwort und für „Zusammenhalt“ versehentlich auf der falschen Seite gekämpft.
Der europäische Mindestlohn ist nur ein Beispiel für den Fehler zweiter Ordnung, der immer wieder gemacht wird, um dem „weniger EU“ (oder gar dem: „EU weg“) etwas entgegenzusetzen. Er ist aber ein besonders anschauliches Beispiel. Es ist nicht zu bezweifeln, dass der Fehler zweiter Art mit besten Absichten begangen wird. Aber das macht es zumindest im Ergebnis nicht besser. Denn die Antwort auf „weniger EU“ kann nicht pauschal „mehr EU“ heißen. Vielmehr muss die Antwort lauten: eine EU des richtigen Maßes. Um im Bilde der beiden Fehlerarten zu bleiben, muss es das Ziel sein, die Summe aus den Fehlern erster und zweiter Art zu minimieren. Genauer hinzuschauen, was auf EU-Ebene gehört, dort aber nicht ist und deshalb für Frustration sorgt; und zugleich hinzuschauen, was nicht auf EU-Ebene gehört, dort aber ist und deshalb für Frustration sorgt. Nähern wir uns auf diesem Wege dem richtigen Maß und arbeiten wir daran, die Entscheidungsmechanismen in der EU zu verbessern, dann und nur dann wird die Akzeptanz der EU wieder steigen; damit und nur damit lässt sich den rechten Populisten mittelfristig wieder das Wasser abgraben.
Selbstkritik ist immer sinnvoll. Hierzu sollte in der EU-Politik die selbstkritische Einsicht gehören, dass man mit der Unfähigkeit zu „mehr EU“ dort, wo es hingehört, und dem pauschalen „mehr EU“ an allen anderen Enden den Rechtspopulisten selbst jenen Boden bereitet hat, den sie heute bestellen. Wenn die Bürger eine solche selbstkritische Einsicht schon einmal erkennen könnten, statt mit trotzigen und bisweilen arrogant wirkenden Slogans traktiert zu werden, welche jede Kritik pauschal übertönt, dann wäre immerhin schon etwas gewonnen. Fürs erste ist diese Gelegenheit bei der jüngsten Wahl zum EU-Parlament aber leider versäumt worden.
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[1] Siehe Beitrag „Abwehrkräfte gegen Krisen und Populismus“, Tagesspiegel, 18.03.2019: https://www.tagesspiegel.de/politik/gruene-fordern-sozialeres-europa-abwehrkraefte-gegen-krisen-und-populismus/24114210.html (abgerufen am 28.05.2019).
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