Rund um das Thema Demografie tummeln sich nicht nur immer wiederkehrende Irrtümer, die zeigen, dass grundlegende Zusammenhänge nicht verstanden worden sind. Auch rechte Verschwörungstheoretiker, die von einer Umvolkung sprechen oder linke Ideologen, die sich von der westlichen Welt – trotz der rapiden Vergreisung – aus ökologischen Gründen mehr „Reproduktionsverweigerer“ wünschen, erschleichen sich durch radikale Forderungen Aufmerksamkeit. Dabei kann der Grund nicht an einem Mangel qualitativ hochwertiger Informationen liegen. Die von dem in Oxford lehrenden Ökonomen Max Roser betriebene Plattform Our World in Data oder auch die von dem schwedischen Arzt Hans Rosling gegründete Gapminder Foundation leisten hervorragende Arbeit in der Aufbereitung und Visualisierung von Statistiken, der Bereitstellung von Unterrichtsmaterial sowie der allgemeinen Aufklärung.
Umso wichtiger sind Bücher wie Die macht der Demografie von Paul Morland, die sich mit komplexen demografischen Zusammenhängen im den Kontext der globalen Entwicklung auseinandersetzten. Das Werk ist dabei in drei Teile untergliedert, die die demografische Entwicklung der letzten 200 Jahre anschaulich beschreiben und die Rolle der Bevölkerungsentwicklung in Geschichte behandeln. Dabei handelt es sich nicht um eine monokausale oder deterministische Sichtweise, die einen pseudo-marxistischen Blickwinkel darstellt, indem „Klasse“ durch „Bevölkerung“ als denjenigen Faktor ersetzt wird, der die komplette Menschheitsgeschichte zu erklären vermag. Vielmehr dreht sich das Werk um die Erklärung eines wesentlichen Elements in der Geschichte, das selbst von anderen zahlreichen und komplexen Faktoren angetrieben und beeinflusst wird.
Allerdings zeigt Morland an zahlreichen Beispielen auf, dass die demografische Entwicklung einen wesentlichen Einfluss auf verschiedenste historische Ereignisse hatte. Ohne die Bevölkerungsexplosion im 19. Jahrhundert wären die Briten nicht in der Lage gewesen, riesige Territorien auf der Welt zu besiedeln. Damit schufen sie viel von dem, was wir heute als global bezeichnen, von den Normen des feien Handelns bis zur Allgegenwärtigkeit der englischen Sprache. Ohne den Rückgang der Kindersterblichkeit in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts wären Hitlers Armeen 1941 wahrscheinlich deutlich weiter vorgedrungen. Hätten die USA ihre Bevölkerungszahl seit den 1950er Jahren nicht verdoppelt, wären sie vielleicht schon heute ökonomisch von China in den Schatten gestellt und hätte Japan nicht 50 Jahre mit einer niedrige Geburtenrate zu kämpfen, hätte das Land womöglich keine langanhaltende wirtschaftliche Stagnation durchlaufen müssen. Würde der Jugendquotient in Syrien näher an dem der Schweiz liegen, hätte es vielleicht nie einen Bürgerkrieg gegeben und auch Europa hat seinen Frieden zum Teil dem Rückgang der Geburtenraten zu verdanken.
Generell ist der Zusammenhang zwischen der Jugendlichkeit einer Gesellschaft und der Neigung zu Konflikten ausführlich erforscht, wie die Arbeiten von dem Politikwissenschaftler Henrik Urdal und dem Soziologen Gunnar Heinsohn zeigen. Natürlich ist ein technologischer Vorsprung in militärischen Konflikten entscheidend, allerdings haben die Versuche Russlands in den 1980er Jahren Afghanistan zu beherrschen und die Versuche der USA Anfang des 21. Jahrhunderts den Irak und Afghanistan zu bewältigen, die Macht der Demografie gezeigt. So waren es nicht die Anzahl der Truppen, die sich als ausschlaggebend herausstellten, sondern die Struktur der Bevölkerung. In einem Land mit einer niedrigen Geburtenrate werden schon wegen des kulturellen Hintergrunds zivile oder militärische Verluste weniger akzeptiert als in Ländern, wo eine Frau statistisch nicht einen, sondern drei bis vier Söhne hat. Die Vorstellung, Mütter großer Familien seien eher bereit, ihre Kinder in Konflikten zu opfern, wirkt herzlos. Allerdings gibt es zahlreiche Belege dafür, dass Gesellschaften mit weniger Kindern konfliktfreier sind. So ist es kein Zufall, dass einige der ältesten Gesellschaften weltweit auch zu den friedlichsten zählen, während einige der jüngsten zu den am stärksten von Gewalt geplagten Ländern gehören. Hätte sich die deutsche Bevölkerung nach dem zweiten Weltkrieg wie die Afghanische entwickelt, würden wir heute über 500 Millionen Einwohner mit 80 Millionen jungen Menschen zählen. Dass Deutschland ein anderes Land wäre, ist nicht zu bestreiten.
Dabei folgt aus hohen Kinderzahlen nicht immer direkt ein Krieg. Vielmehr geht es um die Problematik, dass es selbst bei einem hohen Wirtschaftswachstum – aufgrund des intensiven Wettbewerbs innerhalb eines Jahrgangs – es für den dritten und vierten Sohn schwierig ist, eine Position zu finden. Dabei bildet die erste Option für die, die es sich leisten können die Auswanderung, wie man an den Migrationsströmen der letzten Jahrzehnte beobachten konnte. Die zweite Option für die weniger Gebildeten ist die Kriminalität und für die Gebildeten eine Revolution oder ein Militärputsch. Die nächste Möglichkeit bildet der Völkermord, indem eine Minderheit ausgerottet wird. Die seltenste Alternative bei einem youth bulge[1] besteht im Krieg.
Die Bevölkerungszahlen bieten keine hinreichende Erklärung, aber sie liefern ein notwendiges Element und bilden damit erst die Voraussetzung für Bürgerkriege und Völkermorde. Wie so oft wirkt die Kausalität allerdings in beide Richtungen. Die Demografie spielt eine gestaltende Rolle für Kriege und der Krieg formt die Demografie. So sind nicht alle jungen Gesellschaften in Kriege verstrickt, aber fast alle Älteren leben in relativem Frieden. Dabei greifen Ältere nicht nur mit geringerer Wahrscheinlichkeit zur Waffe, sondern junge Leute werden, gerade wenn sie knapp sind, auf dem Arbeitsmarkt eine höhere Wertschätzung erfahren, die die Opportunitätskosten für konfliktreiches Verhalten deutlich erhöhen.
Ähnlich komplex verhält sich die Beziehung zwischen ökonomischer Prosperität, Modernisierung und Demografie. In fast allen Ländern, in denen der überwiegende Teil der Frauen Zugang zu Bildung hat und ein relativ hoher Lebensstandard herrscht, liegt die Geburtenrate nicht über drei Kindern pro Frau und die Lebenserwartung liegt jenseits der 70 Jahre. Die Modernisierung ist wiederum nur eine hinreichende Bedingung, um zu einer niedrigen Fertilität zu kommen und keine notwendige. Zwar konnte im 20. Jahrhundert in vielen Ländern die Fertilität mithilfe einer grundlegenden Gesundheitsversorgung, der Verfügbarkeit medizinischer Einrichtungen und einem höheren Bildungsniveau von Frauen gesenkt werden; jedoch bilden Länder wie Marokko und Vietnam, deren Geburtenraten ein westliches Niveau erreicht haben, die Ausnahme der Regel. Was sich allerdings als länderübergreifender Trend feststellen lässt ist, dass die Geburtenrate erst dann abnimmt, wenn die Kindersterblichkeit zurückgegangen ist.
Um zu erläutern, wie es in Zukunft weitergehen kann, bedient sich Morland der bekannten ökonomischen Metapher der unsichtbaren Hand von Adam Smith. Wie auch die Preisbildung über den Marktmechanismus ohne zentrale Planung auskommt, so treffen Frauen individuelle Entscheidungen, die zu kollektiv gewünschten Ergebnissen kommen können. Sowie bei der unsichtbaren Hand des Marktes, die nur funktioniert, wenn gewisse Grundbedingungen erfüllt sind – im wesentlichen Eigentumsrechte – so liegen die Grundbedingungen in der Demografie in der Bildung der Frauen und dem Zugang zu Verhütungsmethoden. Zwangsmaßnahmen zur Begrenzung der Kinderzahl sind nicht nur falsch und weitgehend wirkungslos – sie sind auch unnötig.
Insgesamt bietet das Werk viele spannende Einblick in die Welt der Demografie, indem es gleichzeitig aufzeigt, wie essentiell die Demographie für fast alle wesentlichen Teilbereiche der globalen Entwicklung ist. Gleichzeitig achtet der Autor darauf, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen und keine Kausalitäten zu sehen, wo keine sind. Leider verzichtet der Autor neben sehr wenigen Tabellen nahezu komplett auf Grafiken und Abbildungen, die einige Statistiken anschaulicher gestaltet hätten. Insgesamt ist das Werk jedoch all diejenigen sehr zu empfehlen, die die Rolle der Demografie in der globalen Entwicklung in Vergangenheit und Zukunft verstehen möchten.
Paul Morland: Die Macht der Demografie und wie sie die moderne Welt erklärt, Ecowin, 432 S., 26 €.
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[1] Ein youth bulge findet sich nach Fuller (1995) überall dort, wo die 15-24-Jährigen mindestens 20 Prozent, bzw. die 0-15-Jährigen mindestens 30 Prozent der Gesamtbevölkerung betragen.
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