Unter Gerechtigkeitsaspekten wird in der deutschen Öffentlichkeit die ungleiche Behandlung von Frauen und Männern in der Arbeitswelt diskutiert. Zumeist schauen dabei Politiker wie Medien zuerst auf die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern: den sogenannten Gender Pay Gap. Dieser Gender Pay Gap ist definiert als die Differenz des durchschnittlichen Bruttostundenverdienstes der Frauen und Männer im Verhältnis zum Bruttostundenverdienst der Männer. Der Verdienstabstand zwischen Frauen und Männern gilt als ein gutes Indiz für die Messung mangelhafter Gleichbehandlung der Geschlechter am Arbeitsmarkt.
In der Abbildung ist der im Vergleich hohe Gender Pay Gap in Deutschland im Vergleich zu einigen weiteren ausgewählten EU-Ländern abzulesen. Frauen haben im Jahr 2019 in Deutschland demnach im Schnitt 20 Prozent weniger verdient als Männer. Wie das Statistische Bundesamt anlässlich des Equal Pay Day am 17. März 2020 anhand der fortgeschriebenen Ergebnisse der Verdienststrukturerhebung (VSE) mitteilte, verdienten Frauen mit durchschnittlich 17,72 Euro brutto in der Stunde 4,44 Euro weniger als Männer (22,16 Euro). 2018 hatte die Differenz mit 4,51 Euro unwesentlich mehr betragen – ein echter Trend zur Angleichung der Verdienste ist in den vergangenen Jahren nicht auszumachen.
– zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken –
Doch wie aussagekräftig sind diese Zahlen? Zunächst einmal ist zu berücksichtigen, dass sie nur gemeinsam betrachtet mit der Erwerbsbeteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt Sinn ergeben, denn wenn in anderen Ländern nur wenige Frauen im Niedriglohnsektor arbeiten, sondern stattdessen gar nicht einer Erwerbsarbeit nachgehen, so gehen diese Frauen in anderen Ländern auch nicht in die Berechnung ein: Wenn Frauen gar nicht arbeiten statt zu niedrigen Löhnen, hebt dies den Durchschnittslohn der Frauen und sorgt für einen kleineren Gender Pay Gap.
Beim Vergleich der Löhne handelt es sich zudem um den sogenannten unbereinigten Gender Pay Gap, bei dem der Verdienstunterschied aufgrund von strukturellen Unterschieden zwischen Geschlechtergruppen wegen Unterschieden in der Berufswahl, im Beschäftigungsumfang, im Bildungsstand, in der Berufserfahrung oder des geringen Anteils von Frauen in Führungspositionen nicht herausgerechnet wird.
Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind dementsprechend höher als bei der Berechnung des sogenannten bereinigten Gender Pay Gap, der ebenfalls statistisch (wenn auch leider nicht regelmäßig) ausgewiesen wird. Letzterer beachtet diese strukturellen Unterschiede, die natürlich erhebliche Auswirkungen auf die Entlohnung und die Lohnunterschiede haben, zumindest teilweise. Denn der Gender Pay Gap ist auf vielfältige Ursachen zurückzuführen, die nicht direkt mit einer Diskriminierung nach Geschlecht einhergehen: Frauen und Männer unterscheiden sich etwa in ihren Erwerbsbiografien sowie in der Wahl ihrer Berufsfelder. Dies führt häufig zu unterschiedlichen Karriereverläufen und erheblichen Verdienstunterschieden. Rund drei Viertel des Verdienstunterschieds zwischen Männern und Frauen sind derart strukturbedingt – also unter anderem darauf zurückzuführen, dass Frauen sich in ihrer Berufswahl häufiger für Branchen und Berufe entscheiden, in denen schlechter bezahlt wird, und weil sie seltener Führungspositionen erreichen. Auch arbeiten sie häufiger als Männer in Teilzeit und in Minijobs. In solchen Jobs sind die Stundenlöhne niedriger.
Der nicht durch solche anderen Faktoren erklärte Rest des Verdienstunterschieds entspricht dem bereinigten Gender Pay Gap. Laut diesem verdienten Arbeitnehmerinnen im Durchschnitt auch unter der Voraussetzung vergleichbarer Tätigkeitsausübungen und äquivalenter Qualifikation im Jahr 2014 pro Stunde sechs Prozent weniger als Männer. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Unterschiede statistisch noch geringer ausfielen, wenn weitere Informationen über lohnrelevante strukturelle Einflussfaktoren für die Analysen zur Verfügung stünden. Vor allem Angaben zu Erwerbsunterbrechungen fehlen nach wie vor in der Berechnung (Statistisches Bundesamt, 2020).
Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern ist also keineswegs ein geeigneter und auch nicht der einzige Indikator für geschlechtsspezifische Benachteiligungen in der Arbeitswelt. Die Aufstiegschancen in Führungspositionen, aber auch der Bias in der Berufswahl und vor allem der unterschiedliche Beschäftigungsumfang sorgen für die erheblichen statistischen Unterschiede am Arbeitsmarkt. Sie sind wichtige Kenngrößen und weisen insgesamt auf eine nach wie vor bestehende statistische Ungleichheiten in der Arbeitswelt hin. Ob dies immer auf Diskriminierung zurückzuführen ist, sei dahingestellt. Wenn eine Frau sich eher für eine Ausbildung zur medizinischen Fachangestellten statt zu einer Ausbildung als Industriemechaniker entscheidet, so steht dahinter später eine Entscheidung für einen Beruf und eine Branche. Beides hat erheblichen Einfluss auf den Lohn – aber die Entscheidung trifft sie selbst. Dies kann präferenzgerecht sein, weil sie lieber einen ihr genehmen Job trotz geringerer Entlohnung antreten möchte. Dies kann aber auch strukturelle Ursachen in einer Gesellschaft haben und damit sehr wohl auch auf Stereotypen und Diskriminierungsmuster zurückzuführen sein. Die Gerechtigkeitsfrage ist aber im Folgenden nicht das Thema, sondern die Frage, wie sich die auf erklärbare Faktoren zurückzuführenden Lohnunterschiede in Zukunft entwickeln werden.
Dies rückt insbesondere den Trend der Digitalisierung der Arbeitswelt in den Fokus. Die gegenwärtige Pandemie-Situation mit Hygiene- und Abstandsregeln hat vor allem in puncto des mobilen Arbeitens, des Arbeitens von daheim (umgangssprachlich auch als Homeoffice bezeichnet), die Nutzung der digitalen Technik am Arbeitsplatz noch einmal beschleunigt.
Welche Auswirkungen sind hier auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede am Arbeitsmarkt zu erwarten?
Bislang gibt es zu dieser Frage noch keine klare empirische Evidenz. Wir befinden im spekulativen Bereich. Die Digitalisierung wirkt unzweifelhaft auf Formen und Strukturen der Arbeitswelt ein. Sie kann und wird damit auch die bestehenden Ungleichheiten betreffen. Dabei sind sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf die geschlechtsspezifischen Beschäftigungschancen und Entgelte zu beobachten.
- Neue Beschäftigungsformen, wie beispielsweise das Crowdsourcing, bieten durch die Möglichkeit des flexiblen Arbeitens ohne direkte Bindung an vorgegebene Orte und Zeiten auch neue und gute Perspektiven für Beschäftigte, die daheim Kinder zu betreuen haben. Die Flexibilität des mobilen Arbeitens sorgt dafür, dass Beschäftigte Arbeit und Privatleben besser miteinander verknüpfen können. Dies begünstigt vor allem bei Frauen Karrieren ohne längere Erwerbsunterbrechungen. Dies sollte den Pay Gap verringern.
- Die neuen Beschäftigungsformen fallen jedoch oft unter die atypischen Beschäftigungsverhältnisse und sind dann nicht durch die traditionelle Arbeits- und Sozialversicherung gedeckt. Hinzu kommt, dass diese Beschäftigungsformen nicht kollektiv von Gewerkschaften in Lohnverhandlungen vertreten werden, was sich im Durchschnitt wiederum negativ auf den Verdienst auswirkt. Da Frauen empirisch gesehen ohnehin weniger dazu neigen, selbstständig ihren Lohn vorteilhaft auszuhandeln, ist die positive Auswirkung solcher Stellen vor allem auf den Gender Pay Gap damit insgesamt ungewiss (Piasna/Drahokoupil, 2017).
- Die parallele Ausübung mehrerer Jobs nimmt digitalisierungsbedingt eher zu. Der Anteil von Frauen und Männern mit mehreren Jobs ist aber derzeit ausgeglichen – hier ist in Deutschland wenig Auswirkung auf das Lohngefälle zu erwarten.
- Die eigentliche Frage, die sich stellt, beschäftigt sich vielmehr damit, welches Geschlecht besser mit den dabei zunehmend verschwimmenden Grenzen von Beruf und Privatleben umgehen kann. Die neuen Beschäftigungsformen haben den Vorteil, dass sie den Beschäftigten eine gewisse „Unsichtbarkeit“ verleihen. Typische Genderdiskriminierung kann bei Bewerbungsverfahren somit besser vermieden werden.
- Männer werden aber auch hier trotzdem oftmals bevorzugt. Diese Bevorzugung entspringt der Annahme einer eher vermuteten ständigen Verfügbarkeit von Männern. Frauen kommen bei mobilen Arbeiten in der Tendenz eher mehreren Tätigkeiten gleichzeitig nach, wie zum Beispiel der Pflege und der Erziehung von Kindern, und gelten dadurch im Gegensatz zu Männern als nicht immer direkt erreichbar (Piasna/Drahokoupil, 2017). Dies kann den Pay Gap zukünftig vergrößern.
- Bei Routine-Aufgaben ist das Potenzial am größten, Maschinen durch Maschinen zu ersetzen. Frauen scheinen ersten Studien zufolge gegenüber Männern hier weniger Substitutionspotenzial aufzuweisen. Sehr deutlich ist dieser Unterschied von geringqualifizierten Frauen (mit einem Substitutionspotenzial von 30-55%) zu geringqualifizierten Männern (60-75%). Diese Lücke entsteht vor allem dadurch, dass Frauen tendenziell mehr im sozialen Bereich beziehungsweise im Gesundheitssektor arbeiten, der von Nicht-Routine Aufgaben geprägt ist. Auch die persönlichen und sozialen Kompetenzen, die bei Frauen in vielen Fällen mehr ausgeprägt sind als bei Männern, bieten bei vielen Aufgaben einen komparativen Vorteil gegenüber Maschinen. Nachteilig ist jedoch, dass in solchen Sektoren mit geringem Anteil an Routinetätigkeiten wie dem Gesundheitssektor eher geringe Löhne gezahlt werden (Krieger-Boden/Sorgner, 2018). Wenn nun männliche Geringqualifizierte arbeitslos werden und damit in die Messung der Durchschnittslöhne nicht mehr eingehen, weil Durchschnittslöhne ja nur für Beschäftigte ermittelt werden, stellen sich Frauen zwar am Arbeitsmarkt besser. Dies aber kann dazu führen, dass der Gender Pay Gap hier durch die Entlassung männlicher Geringqualifizierter sogar ansteigt.
- Während die Frauen in geringqualifizierten Arbeitssegmenten Vorteile zu haben scheinen, so fehlen solche auf den höherqualifizierten Ebenen. Mit der Digitalisierung gewinnen die MINT-Bereiche an Bedeutung. Gerade in diesen Bereichen sind jedoch weitaus mehr Männer beschäftigt als Frauen. In den MINT-Fächern ist die Frauenquote in den Studiengängen sehr gering. Dies hat zur Folge, dass Frauen die Chancen und neuen Möglichkeiten der digitalen Arbeitswelt verpassen (Krieger-Boden/Sorgner, 2018).
- Zudem ist die Abbruchsquote der Frauen in solchen MINT-Fächern und Berufen hoch. Dieses Phänomen lässt sich auch auf die schwierige Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben zurückführen. Ungeplante und unbezahlte Überstunden, strenge Kontrollen durch das Management und die Nichtverfügbarkeit von Teilzeitarbeit erschweren es Frauen in technischen und wissenschaftlichen Berufen nach wie vor, familiären Verpflichtungen nachzukommen (Piasna/Drahokoupil, 2017).
- Nicht nur MINT-Fächer gewinnen in der Digitalisierung an Bedeutung, sondern auch soziale Kompetenz und Kommunikation werden wichtiger. Teams sind weniger auf einander eingespielt, sondern müssen sich gerade beim Agilen Arbeiten stets neu finden. Hierarchien werden flacher. Dies macht Kommunikationsfähigkeiten zunehmend wichtiger. Hier könnten Frauen im Vorteil sein, zumindest wird ihnen stereotypisch auf diesen Feldern eine hohe Kompetenz zugeschrieben. Dies kann sich dann auch im Stellenbesetzungsverhalten der Unternehmen und in der Entlohnung niederschlagen.
Insgesamt ist es durchaus möglich, dass die Vorteile, welche die Digitalisierung für Frauen hat, die Nachteile ausgleichen werden. Insbesondere die Möglichkeit, Erwerbsunterbrechungen zu vermeiden und damit langfristige Karrierevorteile zu haben, aber auch die zunehmende Bedeutung der sozialen und kommunikativen Kompetenzen sprechen für eine Verringerung der geschlechtsspezifischen Unterschiede am Arbeitsmarkt. Sicher ist diese Verringerung angesichts der Entwicklung im MINT-Bereich und der drohenden Substitution bestimmter Berufsfelder am Arbeitsmarkt aber keineswegs. Es ist durchaus auch möglich, dass der unbereinigte Gender Pay Gap durch die Digitalisierung in der Tendenz wieder vergrößert wird.
Quellen:
Eurostat (2020): Geschlechtspezifisches Verdienstgefälle, ohne Anpassungen, nach NACE Rev. 2 Tätigkeit – Methodik: Lohnstrukturerhebung, http://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/show.do?dataset=earn_gr_gpgr2&lang=de, letzter Zugriff: 15.11.2020.
Krieger-Boden, C. und A. Sorgner (2018): Labor market opportunities for women in the digital age, Economics: The Open-Access, Open-Assessment E-Journal, IfW, Vol. 12, Issue 2018-28, S. 1-8.
Piasna, A. und J. Drahokoupil (2017): Gender inequalities in the new world of work, Transfer, Vol. 23, Issue 3, S. 313-332.
Statistisches Bundesamt (2020): Gender Pay Gap 2019: Frauen verdienten 20 % weniger als Männer, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/03/PD20_097_621.html, letzter Zugriff: 15.11.2020.
- Homeoffice und Produktivität - 9. Juli 2024
- Die freie Wahl zwischen Home-Office und Präsenzarbeit - 19. Dezember 2022
- Wettbewerb der Hochschulen
Die Perspektive im Bundesbildungsbericht 2022 - 10. Juli 2022
Eine Antwort auf „Digitalisierung und Gender Pay Gap“