Der Brexit endet mit dem Weihnachts-Deal

Nun ist es doch noch vollbracht! Eine Woche vor dem Ende der Übergangsfrist haben sich die EU und das Vereinigte Königreich (UK) auf ein Post-Brexit (Freihandels-)Abkommen[1] geeinigt, dessen (wirtschaftliche) Eckpunkte im Folgenden erläutert werden sollen.

Geht man zunächst vom status quo der vier Grundfreiheiten des Europäischen Binnenmarktes aus, die Abbildung 1 veranschaulicht, so beziehen sich die handelspolitischen Regelungen des nun abgeschlossenen Abkommens nahezu ausschließlich auf den Warenhandel. Was in diesem Bereich ab dem 1. Januar 2021 weiterhin gilt, ist der zollfreie Handel zwischen beiden Partnern sowie das Verbot mengenmäßiger Beschränkungen. Da der Warenhandel zwischen der EU und dem UK künftig jedoch innerhalb einer Freihandelszone und nicht (mehr) im Rahmen einer Zollunion stattfindet, entstehen neue Belastungen des Handels durch administrative Kosten in Form von Grenzkontrollen. Diese Kontrollen werden notwendig, weil die beiden Beteiligten individuelle Außenzölle erheben. Um sogenannte Umwegeinfuhren zu verhindern, müssen Ursprungsnachweise vorgelegt werden, die belegen, dass es sich bei den Produkten um Erzeugnisse des jeweiligen Partnerlandes handelt. Die Beurteilung erfolgt dabei zum Beispiel in Abhängigkeit von der Wertschöpfung in den beteiligten Ländern. Für eine zollpräferierte Einfuhr wird dabei in der Regel eine Grenze von mindestens 50 Prozent festgelegt. Im Rahmen der Neuverhandlung des NAFTA-Abkommens (jetzt: USMCA) haben die USA sogar eine Grenze von 75 Prozent durchgesetzt. Was bedeutet eine solche Regelung konkret? Führt zum Beispiel ein US-Unternehmen (aufgrund bilateraler Abkommen) (Vor-)Produkte zollfrei in das UK ein, die unmittelbar oder nach einer gewissen Weiterverarbeitung von dort in die EU exportiert werden sollen, so ist dies zollfrei nur dann möglich, wenn die Weiterverarbeitung im UK dem festgelegten Wertschöpfungsanteil entspricht. Anderenfalls muss die Ware beim Eintritt in die EU mit den dort gültigen Sätzen verzollt werden. Die Mindestsätze für die nationale Wertschöpfung können dabei von Sektor zu Sektor differieren.[2] Zu den zollfrei gehandelten Waren gehören – mit wenigen Ausnahmen – auch alle landwirtschaftlichen Produkte und Tiere, die in vielen anderen Freihandelsabkommen der EU (weitgehend) ausgeklammert sind.

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Da sich das UK allerdings im Rahmen des Abkommens nicht dazu verpflichtet hat, die Lebensmittel- und sonstigen Standards der EU (auch in Zukunft) einzuhalten, erhöhen sich diese administrativ verursachten Kosten in Form von Grenzformalitäten und -kontrollen noch weiter, da die „Konformität“ der importierten Waren aus dem UK kontrolliert werden muss. Zusammen bedeutet dies aber nichts anderes als den Aufbau neuer nichttarifärer Handelshemmnisse in Form administrativer Vorgaben, durch die sich die Kosten erhöhen. Wollen britische Unternehmen auch in Zukunft Produkte in die EU exportieren, werden sie allerdings faktisch gezwungen sein, die in der EU geltenden Normen, technischen Regelungen, Konformitätsbewertungen, Akkreditierungen, Marktüberwachung, Messwesen und Kennzeichnungen einzuhalten.

Vor diesem Hintergrund ist auch die Nordirland-Regelung zu sehen. Sowohl die Ursprungsprüfung als auch die „Qualitätskontrolle“ zur Einhaltung entsprechender (EU-)Standards sollen an einer fiktiven Grenze in der Irischen See erfolgen, um weiterhin einen ungehinderten Grenzverkehr zwischen Nordirland und der Republik Irland zu gewährleisten. Nordirland wird darüber hinaus in vielen Bereichen stärker an die EU gebunden bleiben als der Rest des UK. Dies setzt allerdings voraus, dass Premierminister Johnson die umstrittenen Regelungen seines Binnenhandelsgesetzes[3], die die Brexit-Vereinbarung aushebeln sollten, nicht weiter durchzusetzen versucht.

Das nun beschlossene Abkommen gilt hingegen nicht für Dienstleistungen, die fast 80 Prozent der britischen Wirtschaftskraft ausmachen. Insbesondere die in der Londoner City angesiedelten Finanzdienstleister verlieren ihren – an den sogenannten „Europäischen Pass“ geknüpften – direkten Marktzugang zur EU. Bis März 2021 soll ein Rahmenplan vereinbart werden, wie die regulatorische Zusammenarbeit in Zukunft aussehen soll. Dabei könnte dem UK die Äquivalenz für Finanzdienstleistungen zugesprochen werden. Doch selbst in diesem (günstigsten) Fall würde man nur einen reduzierten Marktzugang zur EU im Verhältnis zu den Regelungen innerhalb des Binnenmarktes erhalten.[4]

Auch bei den Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards hat sich das UK „nur“ dazu verpflichtet, die derzeit geltenden Regeln nicht zu unterschreiten. Neue Regeln der EU müssen hingegen nicht übernommen werden. Und das ist auch gut so! Denn unterschiedliche Arbeits- und Sozialstandards sind letztlich (auch) ein Ausdruck unterschiedlicher Standortbedingungen, die zu (komparativen) Kostenvorteilen eines Landes im internationalen Handel führen können. Die Forderung nach einer Angleichung dieser Standards, um „gleiche Wettbewerbsbedingungen“ zu garantieren, bzw. die Unterstellung von Lohn- oder Sozialdumping hat daher oftmals nur zum Ziel, unliebsame Wettbewerber vom heimischen Markt fern zu halten. Denn der Dumping-Vorwurf setzt stets die Kenntnis des „richtigen“ Referenzpreises voraus. Wenn dieser Referenz-„Preis“ dann mit den Löhnen oder Sozialleistungen des Inlands gleichgesetzt wird, obwohl dies nicht den Präferenzen des betroffenen Landes entspricht, erkennt man schnell die dahinter stehende Absicht. Davon ausgenommen sind natürlich Mindeststandards wie zum Beispiel das Verbot von Kinderarbeit. Ähnliches gilt auch für Umweltschutzregelungen. Sie sollten nicht Gegenstand von (bilateralen) Handelsabkommen sein, sondern – soweit sie grenzüberschreitende Tatbestände betreffen – im Rahmen multilateraler Vereinbarungen verhandelt und festgelegt werden.

In diesen Bereich fällt auch die beiderseitige Verpflichtung auf gemeinsame Prinzipien der Subventionspolitik. Haben Verstöße gegen diese Prinzipien negative Folgen für betroffene Unternehmen des jeweils anderen Landes, können Strafzöllen erhoben werden. Dies entspricht vom Grundsatz her den Regeln der WTO, wo auch im Rahmen des Artikels VI GATT Vergeltungszölle auf subventionierte Produkte eingeführt werden können. Ein Beispiel hierfür sind die jüngst – von der Welthandelsorganisation (WTO) genehmigten – Vergeltungszölle im Subventionsstreit um Boeing und Airbus.[5] Das Entscheidungsgremium wäre im Fall des Post-Brexit Abkommens wohl der weiter unten angesprochene „gemeinsame Partnerschaftsrat“.

Die Regelung der lange und hart umkämpften Fischfangrechte sieht vor, dass die EU-Fischer über einen Zeitraum von fünfeinhalb Jahren schrittweise ihre Fänge reduzieren müssen – und zwar um insgesamt ein Viertel der bisherigen Fangmenge. Ab Juni 2026 sollen dann jährlich die Fangquoten neu verhandelt werden. Frankreich hat bereits angekündigt, seine Fischer für die aus dem Abkommen resultierenden Mindereinnahmen durch staatliche Subventionen zu entschädigen. Auch die deutsche Agrarministerin Julia Klöckner hat den deutschen Fischern bereits Unterstützung signalisiert.

Im Verkehrsbereich garantiert die Vereinbarung eine kontinuierliche Anbindung an den Luft-, Straßen-, Schienen- und Seeverkehr. Dazu gehören etwa die Nutzung von Flughäfen durch Luftfahrtunternehmen des jeweils anderen Landes und ein ungehinderter Speditionsverkehr. Dabei sollen auch Passagier- und Arbeitnehmerrechte garantiert werden. Ab Oktober 2021 benötigen EU-Bürger allerdings für die Einreise in das UK einen Pass. Darüber hinaus zieht sich das UK aus dem EU-Studierendenaustauschprogramm Erasmus zurück. Auch die automatische Anerkennung von Berufsabschlüssen fällt weg. So müssen etwa Ärzte, Ingenieure und Architekten sowie viele weitere Berufsgruppen ihre Qualifikation künftig nach den Regeln des Arbeitsortes nachweisen.

Für das gesamte Abkommen wurde ein Mechanismus zur Lösung von Konflikten vereinbart. Zentrales Element ist ein „gemeinsamer Partnerschaftsrat“, der die Umsetzung kontrolliert und in dem Streitfragen besprochen werden. Seine Zusammensetzung ist bislang allerdings unbekannt. Dies soll verbunden sein mit verbindlichen Durchsetzungs- und Streitbeilegungsmechanismen, damit Rechte von Unternehmen, Verbrauchern und Einzelpersonen geachtet werden. Beide Parteien können im Falle von Verstößen gegen das Abkommen nicht nur für direkt betroffene Teile der Vereinbarung sondern auch sektorübergreifend Vergeltungsmaßnahmen einführen. Der Europäische Gerichtshof spielt in diesem Zusammenhang – im Gegensatz zu den Forderungen der EU – allerdings keine Rolle.

Die Regierungen aller 27 EU-Mitgliedstaaten, das britische Parlament sowie das Europaparlament müssen das Verhandlungsergebnis nun billigen. Da auf EU-Seite bis Ende des Jahres nicht mehr genügend Zeit für eine Ratifizierung des Deals bleibt, sollen die Bestimmungen zunächst nur vorläufig angewendet werden. Auch dazu bedarf es jedoch der Zustimmung durch die 27 EU-Staaten, die begonnen haben, die 1246 Seiten des Abkommens zu prüfen. In Großbritannien soll das Parlament am 30. Dezember in einer Sondersitzung zustimmen. Das EU-Parlament wird sich erst im Januar – nachträglich – mit dem Vertrag befassen. Mit einer – theoretisch möglichen – Ablehnung ist dabei aber wohl kaum zu rechnen.

Der nun ausgehandelte Post-Brexit Vertrag wird überwiegend als die bessere Variante eingeschätzt im Verhältnis zu einem No-Deal Brexit. Dabei steht der weiterhin zollfreie Warenhandel zwischen dem UK und der EU sicherlich im Vordergrund der Bewertung. Es sollte allerdings nicht übersehen werden, dass die Kosten der neuen Grenzformalitäten und -kontrollen ein erhebliches Ausmaß annehmen können. Schätzungen[6] gehen davon aus, dass sich diese Kosten auf zwei bis sechs Prozent des Warenwertes belaufen können. Je nach der Höhe des jeweiligen Zollsatzes kann dies sogar dazu führen, dass die Zollpräferenz gar nicht in Anspruch genommen wird und statt dessen (freiwillig) die Meistbegünstigungszölle der WTO in Kauf genommen werden[7], um den administrativen Aufwand zu umgehen. Wie gravierend diese neuen Hemmnisse sich auf den Handel auswirken, wird man spätestens zu Beginn des neuen Jahres sehen. Während das UK (zunächst) weitgehend auf Grenzkontrollen verzichten will, hat Frankreich – über dessen Häfen ein Großteil des Handels zwischen dem UK und der EU abgewickelt wird – bereits massive und umfassende Kontrollen angekündigt. Darüber hinaus bleibt abzuwarten, ob aus den EU-Mitgliedsländern oder dem EU-Parlament im Rahmen des „Prüfverfahrens“ noch Änderungswünsche eingebracht werden. Aufgrund des engen Zeitplans und der erst nachträglichen Ratifizierung durch das EU-Parlament ist damit allerdings kaum zu rechnen. Für das UK wird es nun insbesondere darum gehen, neue Handelsabkommen abzuschließen, um eine mögliche Reduktion des Handels mit der EU und den Verlust der Vorteile aus einer Vielzahl von Abkommen der EU mit Drittländern[8] zu kompensieren. Die mit einer Aufnahme als eigenständiges Mitglied der WTO verbundenen Probleme wurden bereits in einem früheren Blog-Beitrag[9] erläutert. Ob und für wen dieser Deal eine „Bescherung“ war wird sich also erst in der Zukunft herausstellen.

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[1] Der Vertragsentwurf ist eingestellt unter: https://ec.europa.eu/info/files/eu-uk-trade-and-cooperation-agreement_en

[2] Die Ursprungsregeln – nach Handelsklassen sortiert – finden sich im Vertragsentwurf auf den Seiten 423 ff. MaxNOM bezeichnet dabei den maximalen Wertschöpfungsanteil, der auf Vorprodukte aus Drittländern zurückgehen darf. Die Differenz zu 100 Prozent gibt somit denjenigen Wertschöpfungsanteil an, der im jeweiligen Partnerland erfolgen muss, um die Zollfreiheit zu gewährleisten.

[3] http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=28327

[4] Emmenegger, Susan und Andrea Bigler (2019): EU-Äquivalenz bei Finanzdienstleistungen, IBR Working Paper 25.02.2019, Universität Bern, Institut für Bankrecht.

[5] https://www.nzz.ch/wirtschaft/us-vergeltungszoelle-wegen-der-eu-hilfen-fuer-airbus-koennten-den-handelskonflikt-anfeuern-ld.1512368

[6] Keck, Alexander und  Andreas Lendle (2012): New evidence on preference utilization. WTO, Staff Working Paper ERSD-2012-12, Genf.

[7] http://epamonitoring.net/unctad-analysis-highlights-high-rate-of-utilisation-of-tariff-preferences-under-eu-trade-agreements/

[8] https://ec.europa.eu/germany/handelspolitik_der_eu_de

[9] http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=28327

2 Antworten auf „Der Brexit endet mit dem Weihnachts-Deal“

  1. Irgendwie schon erstaunlich, wie positiv bis beinahe euphorisch manche anderen Kommentatoren reagiert haben. Jedenfalls „danke“ für das nüchterne Abziehen falscher Etiketten und Entlarven zweckoptimistischer Feierparolen. Ein 20%-Deal mag besser sein als nichts, aber eben nur ein bisschen – außer für Politiker, denen allzu erleichterte Dealfetischisten leider in Scharen auf den Leim gehen.

  2. Der EU-Binnenmarkt mag „gross“ sein, der Weltmarkt ist um ein Vielfaches grösser und birgt dementsprechend mehr Chancen. Der Anteil des Aussenhandels von GB mit der EU ist seit einiger Zeit im Sinken und wird sich in Zukunft weiter reduzieren. GB wendet sich tendenziell von der EU ab und der Welt zu. Das ist fordernd und geht wohl kaum ohne Störungen des bisherigen Wirtschaftsabläufe. Wie schwerwiegend diese Störungen sein werden und welche Vorteile dieses Hinwenden zur Welt bringen wird, werden wir wohl erst mittelfristig sehen.
    Jedenfalls danke ich dem Author für die nüchterne, geradezu „ undeutsche“ Darstellung des Brexits.

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