In der ersten Corona-Welle haben die Menschen unter dem Schock der Ereignisse und dem allgemeinen Unwissen über Infektionskanäle, Infektionswahrscheinlichkeit und Letalität von sich aus ihre Kontakte drastisch reduziert – ganz offensichtlich aus purem Selbstschutz. Vermutlich ist das der Grund dafür, dass schon vor dem Inkrafttreten des März-Lockdowns der alles entscheidende R-Faktor[1] unter eins gefallen war, was die Voraussetzung dafür ist, dass die Zahl der Infizierten im Zeitablauf sinkt. Merkwürdigerweise beruhte diese anfängliche Absenkung des R-Faktors auf einer Überschätzung der individuellen Gefährdung seitens der Bürger. Dass es einer solchen Überschätzung bedarf, damit das Virus sich nicht exponentiell verbreitet, klingt vielleicht merkwürdig. Wir werden aber noch sehen, warum das so ist.
Freilich kann ein Irrtum nicht die Grundlage einer nachhaltigen Problemlösung sein. Hätte man diesen Tatbestand auf einer breiteren Basis in seiner ganzen Tragweite erfasst, wären die Dinge vielleicht anders gelaufen. Der Irrtum der Bürger über ihre individuelle Gefährdung konnte jedenfalls nicht nachhaltig wirken, weil die Menschen rasch einige grundlegende Fakten lernten. Die wichtigsten sind diese: Die Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken und dabei zu Schaden zu kommen, war für jeden Einzelnen relativ gering und ist es im Grunde bis heute. Zwischen Anfang Mai und Ende September lag die 7-Tage-Inzidenz bei durchschnittlich 6,7. Unter dieser Bedingung beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch, dem man zufällig begegnet, Corona-infiziert ist, 0,067 Promille. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Mensch aktuell auch infektiös ist, ist mindestens um die Hälfte niedriger, und die Wahrscheinlichkeit, dass man sich bei ihm infiziert, ist noch einmal geringer. So lag also im Ausgang der ersten Welle die Wahrscheinlichkeit, dass man sich bei einer Begegnung mit einem anderen Menschen mit Corona infizierte, vermutlich unter 0,02 Promille.
Bleiben wir bei diesem Wert. Wenn man sich damit innerhalb eines längeren Zeitraums durch unvorsichtiges Verhalten zwischen 100 und 500 Menschen zusätzlich in einer Weise nähert, die eine Infektion ermöglicht, dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass man sich durch solch unvorsichtiges Verhalten mit Corona infiziert, um einen Wert zwischen 0,2 Prozentpunkten und einem Prozentpunkt.[2] Anders ausgedrückt: Mit einer Wahrscheinlichkeit von zwischen 99 und 99,8 Prozent infiziert man sich dadurch nicht. Hinzu kommt: Eine Corona-Infektion ist meistens keine Katastrophe. Die Sterblichkeit für jene, die sich infizieren, liegt bei Corona im Durchschnitt irgendwo bei einem Prozent. Dabei steigt sie im Alter zwar sehr deutlich an. Aber gerade das bedeutet umgekehrt, dass sie für jüngere Leute erheblich niedriger liegt, in der Regel wohl unter 0,5 Prozent.
Bleiben wir auch bei diesem Wert und kombinieren ihn mit der Infektionswahrscheinlichkeit, dann lag über den Zeitraum von Anfang Mai bis Ende September die Wahrscheinlichkeit, durch unvorsichtiges Verhalten in der beschriebenen Weise zu Tode zu kommen, bei einem Wert zwischen 0,01 und 0,05 Promille. Das ist keineswegs nichts, auch wenn es fast danach aussieht. Aber verglichen mit anderen Lebensrisiken ist es wiederum auch nicht hoch. Vermutlich war dieses Verhalten ähnlich gefährlich wie Fahrradfahren. Inzwischen haben sich die Zahlen zwar mehr als verzwanzigfacht, aber selbst damit sind sie jedenfalls für jüngere Menschen immer noch nicht überragend hoch.
Das klingt wie eine verantwortungslose Beschönigung. Ist es aber nicht. Denn wir können mit Hilfe dieser wenigen Fakten die Problematik verstehen, um die es geht. Und hierzu halten wir fest: Die Leute fühlten sich persönlich nicht stark bedroht, und sie hatten durchaus Recht damit! Daher erklären unsere Fakten gut, warum sich die Leute so verhalten haben, wie sie es taten. Es erklärt auch, dass sie sich aus einer gewissen Perspektive damit durchaus vernünftig verhalten haben. Viele der fachlich stärker fundierten Lockdown-Kritiker konzentrierten sich daher nur auf diese individuelle Perspektive: Die Gefahr ist für die einzelnen Bürger zunächst nicht sehr hoch. Gemessen daran schützen sie sich nach Maßgabe ihrer persönlichen Risikobereitschaft: die einen mehr, die anderen weniger, wie in allen anderen Lebenslagen auch. Weil der Staat nicht einmal das Recht hat, den Leuten das viel gefährlichere Motorradfahren oder das Drachenfliegen zu verbieten, gibt es keinen Grund, warum er hierzu im Falle von Corona legitimiert sein sollte. Auch das ist soweit richtig, und wer es nun noch weitertreiben will, um kräftig die Alarmglocken der bürgerlichen Freiheit zu läuten, mag noch hinzufügen: Eine Regierung, die es dennoch tun, versteht entweder die Fakten nicht oder sie muss zwangsläufig anderes im Schilde führen als den Schutz der Bürger vor dem Corona-Tod.[3]
Unter den gemachten Annahmen ist das alles folgerichtig, und die Annahmen sind nicht einmal falsch. Das Problem ist nur, dass diese Annahmen die Hälfte des Problems unterschlagen. Hier kommt die andere: Unsere Wahrscheinlichkeiten sagen genau nichts darüber aus, wie sich die Leute hätten verhalten müssen, um ihren jeweiligen kleinen Beitrag dazu zu leisten, ein exponentielles Wachstum der Infektionen zu verhindern, welches in seinem weiteren Verlauf in eine Katastrophe mit hunderttausenden Toten oder mehr führen kann. Solch eine Prognose ist keineswegs alarmistisch. Es handelt sich um eine sogenannte Status-Quo-Prognose, und die geht in unserem Falle so: Hätte man sich allein auf die individuelle Risikoabwägung der Bürger verlassen und auf staatlich verordnete Kontaktbeschränkungen verzichtet, und würde man das auch weiterhin so tun, dann wären bei einem dann gültigen R-Faktor von mindestens drei bis zur Herdenimmunität am Ende mindestens 60 Mio. Menschen allein in Deutschland infiziert worden. Wenn davon ein Prozent stirbt, sind das bereits 600 Tsd. verlorene Menschenleben. Weil die Sterblichkeit bei einer dann zu erwartenden Überlastung des Gesundheitssystems erfahrungsgemäß sehr viel höher liegt, kommen wir hier schon ganz schnell über die Millionengrenze, allein für Deutschland. Freilich passiert auch das dann nicht innerhalb weniger Monate, sondern es wird jener Scherbenhaufen sein, den man am Ende des ganzen Prozesses einmal zusammenfegen wird. Daher können wir schon einmal festhalten: Mit Zahlen zu argumentieren, die innerhalb der ersten Wochen einer Pandemie und dann noch unter Lockdown-Maßnahmen zustande gekommen ist, um die Sinnlosigkeit ebenjener Lockdown-Maßnahmen und die Ungültigkeit der ihnen zugrundeliegenden Status-Quo-Prognose zu belegen, gehört nicht zu den durchdachtesten aller Argumentationsstrategien.
Um ein Bild davon zu erhalten, wie die Prozesse weiter abgelaufen sind, sehen wir uns die Entwicklung des R-Faktors in Deutschland kurz an. Der war wie gesagt schon vor Inkrafttreten des ersten Lockdowns unter den entscheidenden Schwellenwert von eins gefallen, und zwar am 22. März. Der Grund dafür sollte nun klar sein: Die Leute haben ihre unmittelbare persönliche Bedrohung in der völlig unübersichtlichen Anfangsphase unter dem Eindruck der furchtbaren Bilder aus Wuhan und Bergamo zunächst einmal überschätzt. Abgesehen von einem Ausreißer verblieb der R-Faktor danach noch bis zum 9. Juli unter eins. Für diese Phase können wir die Wirkung der anfänglichen Überschätzung und jene des Lockdowns auf den R-Faktor statistisch nicht mehr seriös voneinander unterscheiden. Aber bis Juli war beides vorbei, und so ist es nicht verwunderlich, dass der R-Faktor von nun an mit nur einer kurzen Unterbrechung bis zum 5. November oberhalb von eins blieb. Seit wir nun wieder Lockdown-Maßnahmen haben, liegt er mal über und mal unter eins.
Im Ergebnis finden wir, was mathematisch zwangsläufig ist: Die Zahl der Corona-Infektionen stieg bereits ab dem 9. Juli wieder exponentiell.[4] Anders als es der inzwischen landläufig gewordene Gebrauch dieses Begriffs suggeriert, heißt exponentiell aber nicht „stark“, sondern er beinhaltet, dass die Zahl der Infektionen kontinuierlich steigt und der Zuwachs der Infektionszahlen ebenso kontinuierlich größer wird. So etwas kann verhältnismäßig lange auf niedrigem Niveau geschehen, und das tat es auch. Das ändert aber nichts daran, dass exponentielles Wachstum auf niedrigem Niveau Zug um Zug den Weg für einen explosionsartigen Ausbruch bereitet, der dann in recht genau prognostizierbarer Zeit unvermeidlich kommen wird – und gekommen ist. Kommentatoren und Talkshowgäste, die es nicht besser wussten, vereint mit solchen, die es aufgrund ihrer Stellung oder ihrer Ausbildung hätten besser wissen müssen, beschönigten das Herannahen des Unheils über Monate – darunter durchaus auch einige Ärzte und vor allem Ärzte in Personalunion mit Funktionären.
Der R-Faktor allein sei nicht so wichtig, hörte man, die Hospitalisierungsrate und Letalität erfreulich gering, das Vorhalten von Intensivbetten in so großer Zahl geradezu lächerlich übertrieben, und überhaupt sei das aktuelle Geschehen mit den dramatischen Ereignissen des Frühjahrs nicht mehr vergleichbar. Dabei waren die Dinge längst auf dem Weg in den Kontrollverlust, als der Winter noch in weiter Ferne war. Das Wetter war noch fast bis Ende Oktober mild, man konnte draußen in den Biergärten sitzen, und das taten die Leute auch. Aber sie taten noch andere Dinge, die mit Blick auf die Infektionsdynamik nicht so harmlos sind. Als die zweite Welle längst rollte, wurde sie durch den Winter zwar noch einmal verstärkt. Aber ausgelöst hat der Winter sie nicht, sondern wir selbst, mit unserem Verhalten, mitten im Sommer und Spätsommer, ohne dass irgendwer auch nur halbwegs ernsthaft dagegen eingeschritten wäre. Die noch verbliebenden Mahner zogen sich entweder in ihre Labore zurück[5] oder liefen Gefahr, zum Ziel des Spotts vermeintlich Wissender zu werden.
Nur: Wie passt das alles zusammen? Waren wir jetzt vernünftig oder unvernünftig? Wie lassen sich die durchaus rationalen Überlegungen über die individuell niedrige Schadenswahrscheinlichkeit vereinbaren mit der Diagnose des absehbar durch Fehlverhalten ausgelösten Kontrollverlusts, in dessen Folge wir nun seit Wochen viele hundert Todesopfer Tag für Tag zu beklagen haben und kein Ende sehen? Das passt zusammen, aber nur, wenn wir uns klarmachen, dass individuelle Vernunft nicht immer zu gesellschaftlich vernünftigen Ergebnissen führt. Kurz gefasst heißt das: Wenn sich jeder auf hinreichende Weise selbst schützt, dann sind noch lange nicht alle hinreichend geschützt. In der ökonomischen Theorie ist dieser Effekt bekannt, alle Studierenden lernen ihn spätestens bis zum dritten Semester; manche lehren ihn im Hörsaal und unterschlagen ihn dann in der Corona-Diskussion. Aber die große Mehrheit der Bürger ahnte durchaus, dass die individuelle Infektionsschutzperspektive ein anderes Verhalten nahelegt als die Makroperspektive des gesamten Infektionsgeschehens, und zwar deshalb: Zwar kann sich jeder einzelne nach Maßgabe seiner individuellen Risikoabschätzung vor einer Infektion schützen – sofern er sich nicht gerade im Krankenhaus befindet, in einem Pflegeheim wohnt, in einer KITA oder einer Schule arbeitet und so weiter. Aber den R-Faktor unter eins halten, um ein explosives Infektionsgeschehen zu verhindern, das kann man als einzelner Bürger genauso wenig, wie sich ein einzelner Tropfen sich zu einem Wasserfall machen kann. Das geht nur in koordiniertem Handeln, und hier ist die Politik gefragt.
Dass den Leuten der Unterschied zwischen den beiden Perspektiven durchaus bewusst war und ist, erkennt man daran, dass sich seit November mindestens zwei Drittel der Bevölkerung in Umfragen für die Lockdown-Maßnahmen oder sogar für schärfere Maßnahmen aussprechen;[6] dass dieselben Bürger dann aber die bestehenden Regeln auf ihrer individuellen Ebene so weit wie nur eben möglich ausreizen. Wir wissen aus der Forschung, dass Bürger solche Perspektivwechsel vornehmen und dass das gar nicht irrational ist: Als Individuen orientieren sie sich an ihrer eigenen Perspektive und zahlen beispielsweise mit oder ohne die Hilfe von Steuerberatern so wenig Steuern wie nur eben möglich; als Wähler votieren dieselben Leute zugleich aber durchaus einmal für höhere Steuern, wenn sie nämlich aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive heraus den Sinn dahinter akzeptieren. Gleichwohl werden sie weiterhin versuchen, so wenig Steuern wie möglich zu zahlen. Das klingt schizophren, ist es aber nicht.
Die Überlegungen zur individuellen Infektionswahrscheinlichkeit und zur Wahrscheinlichkeit, im Falle einer Infektion zu Schaden zu kommen, beinhalten nämlich nicht den Schaden, den jeder von uns durch die Weitergabe des Virus außerhalb des unmittelbaren persönlichen Umfeldes noch auslöst. Der ist für einen einzelnen sehr abstrakt und noch dazu quantitativ kaum einzuschätzen. Aber er ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der Haupteffekt unvorsichtigen Verhaltens in der Pandemie. Denn die eigene Infektion verläuft mit relativ großer Wahrscheinlichkeit harmlos und mit noch größerer Wahrscheinlichkeit – im Durchschnitt 99 Prozent – nicht tödlich. Aber sie löst eine Kettenreaktion von weiteren Infektionen aus, und irgendwo in dieser Kette werden dann auch schwere und sogar tödliche Verläufe dabei sein. Hinter dieser Kettenreaktion verbirgt sich die gesamte Infektionsdynamik, das berüchtigte exponentielle Wachstum.
Im Prinzip reicht ein einzelner Infizierter aus, der bei irgendeiner Reise unvorsichtig gewesen sein mag, um nach seiner Rückkehr das Virus durch zwei Drittel seiner Heimatbevölkerung rauschen zu lassen. Wenn sogar Fachpolitiker und Ärzte diese Dynamik nicht erkannten und sie beschönigten, als sie im Sommer längst im Gange war, wie soll da ein einzelner Mensch diese Folgen einschätzen? Da ist es für diesen Einzelnen durchaus vernünftig, sich an jener Gefährdung zu orientieren, die sein persönliches Umfeld betrifft. Die ist konkret, einschätzbar und – relativ gering. Hier liegt die Tücke.
Die Ideologie der Querdenker beruht unter anderem auf einer unangebrachten Übertragung des wohl berühmtesten Gedankens von Adam Smith: dass nämlich die Gesamtgesellschaft durchaus gut damit fahren kann, wenn jeder allein sein eigenes Glück im Blick hat. Etwas unfreundlich ausgedrückt, könnte man sagen: Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht. Das stimmt in vielen Fällen durchaus, und wo es stimmt, funktioniert es sehr viel zuverlässiger, als wenn man mit viel individualmoralischen Aufwand dafür sorgen muss, dass jeder immer nur an jeweils andere zu denken hat. Aber es stimmt leider nicht immer, und in der Corona-Pandemie stimmt es überhaupt nicht.
Weil es für diesen spezifischen Fall überhaupt nicht stimmt, lässt sich das Problem nur mit verbindlichen Regeln in den Griff bekommen, an deren Einhaltung sich alle gleichermaßen binden müssen. Und die dazugehörige Regelsetzung und Regeldurchsetzung kann nur politisch erfolgen, auf einer zentralen Ebene. Deshalb fragen die Bürger eine solche Politik nach, wie die Umfragewerte eindrücklich zeigen. Die individuellen Bürger handeln auf der am weitesten dezentralen Ebene. Sie wissen, dass sie dort ohne diese Politik in ihrem individuellen Risikokalkül gefangen sind und von dort aus hilflos zuschauen müssen, wie die Dinge aus dem Ruder laufen. Auf dieser Ebene geht es also nicht. Aber auch auf der mittleren Zentralisierungsebene der Bundesländer reicht es nicht. Dort handelt jeder Ministerpräsident unter dem Druck seiner landesspezifischen Interessengruppen, so dass die landesüberschreitenden Infektionen nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fallen. Am Ende ist für diese unter Ökonomen bekannten „spill overs“ schließlich niemand zuständig. In der Konsequenz bleibt wieder ein großer Teil des Infektionsgeschehens unberücksichtigt, und deshalb sind auch mittlere Zentralisierungsebenen unzureichend.
So finden wir also gleich zwei Erklärungen dafür, warum es jedes Mal die Bundeskanzlerin war, die die längst überfälligen Maßnahmen am Ende durchgesetzt hatte: Erstens versteht sie als Physikerin wirklich, was exponentielles Wachstum ist. Zweitens wäre sie für das innerhalb Deutschlands umfassendste Infektionsgeschehen zuständig, wenn sie denn zuständig wäre; und das ist der Punkt, auf den es hier ankommt. Weil nämlich die Pandemiemaßnahmen aufgrund unserer Verfassung Ländersache sind, dauerte es jedes Mal zu lange, bis sich die Bundeskanzlerin am Ende über die ihr zur Verfügung stehenden informellen Kanäle durchsetzen konnte. Daher erreichen wir mit einem R-Faktor von eins heute nur noch eine Stabilisierung bei rund 20.000 Infektionen täglich. Hätten wir wenige Wochen früher gehandelt, hätten wir bei denselben Einschränkungen und damit demselben R-Faktor eine Stabilisierung bei zum Beispiel 2.000 Infektionen erreichen können. Weil man von dort aus die Infektionswege wieder nachvollziehen kann, könnten die Einschränkungen bei gleichem R-Faktor sogar geringer sein. Und wenn wir nun noch einmal überlegen, welche Dienste eine rigorose Nutzung der (existierenden!) Digitaltechnik dabei hätten leisten können, dann bekommen wir eine Idee davon, wieviel Potenzial für eine effektivere Pandemiebekämpfung wir noch haben.
Daraus sollten wir lernen: Die Epidemie- oder Pandemiebekämpfung gehört in einem föderalen System nicht auf die dezentrale Ebene. Sie gehört auf die Ebene, die die jeweiligen Staatsgrenzen umfasst, denn dort wird erstens über Einreisebestimmungen entschieden und zweitens über die Regeln innerhalb der Grenzen des betreffenden Staates. (Das ist im Schengen-Raum eigentlich die EU, aber das ist noch einmal ein anderes Thema.) Schließlich sollten wir nicht noch einmal den Fehler machen, in Pandemiezeiten auf die Nutzung der Digitaltechnik weitestgehend zu verzichten. Wenn es schon nicht ohne Einschränkung der Bürgerrechte geht, dann sollte das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gegen anderer Bürgerrechte abgewogen werden.
Leider hat man in Deutschland von Mitte Juli bis Anfang November praktisch gar nichts getan, um die damalige Zeit des Durchatmens zu nutzen. Geradezu stolz war man darauf, dass man in unserem Land auf jedwede Beschränkungen des Datenschutzes glaubte, verzichten zu können. Jens Spahn wurde mit seinem ursprünglichen Plan zur zentralen – wenngleich verschlüsselten (!) – Speicherung der Handy-Daten mit den inzwischen landesüblichen Empörungsritualen geradezu vorgeführt. Zugleich wurde Merkels Warnung vor „Öffnungsdiskussionsorgien“ durch den Kakao gezogen. Das ist ja erlaubt, klar, aber sachlich angemessen war es sicher nicht. Und es geht weiter: Sogar bei gröbsten Verstößen gegen die seinerzeit moderaten Regeln wurde wieder und wieder weggeschaut. Die Vergnügungsmeilen der Innenstädte waren voller Menschen, die sich dicht an dicht drängten.
Als die Folgen all dessen schließlich unübersehbar wurden, wurde immer noch zugewartet, zögerlich die Schraube der Einschränkungen zunächst regional nur leicht angezogen, um abermals auf Drängen der Kanzlerin erst zum „Lockdown-light“ zu greifen, als die Zahl der täglichen Neuinfektionen deutlich über 10.000 lag. Dann musste wiederum lange die Einsicht reifen, dass man von einem derart hohen Niveau nicht binnen weniger Wochen wieder zurückkommt, und damit war der Rest des Verlaufs vorprogrammiert – selbst ohne die jüngsten Mutationen.
Die südostasiatischen Demokratien erleben gerade ebenfalls eine neuerliche Welle, obwohl sich das Niveau der Neuinfektionen auf einem Niveau bewegt, von dem wir nach wie vor nur träumen könnten. Wie schon zuvor, haben sie darauf sehr rasch und sehr durchgreifend reagiert. Ob sie damit abermals Erfolg haben werden, wissen wir nicht zuletzt angesichts der jüngsten Mutationen des Virus natürlich noch nicht. Bis heute sind sie aber ebenso wie Australien und Neuseeland um Kategorien erfolgreicher in der Pandemiebekämpfung gewesen als die Staaten Europas und Amerikas, und es sieht nach wie vor nicht danach aus, als würde sich das grundlegend ändern. Der bisherige Erfolg von Korea, Japan und Taiwan wird zwar gern auf eine dort vermeintlich oder tatsächlich vorherrschende Minderschätzung bürgerlicher Rechte zurückgeführt, dessen Preis wir in unserer liberalen Gesellschaft nicht zu zahlen bereit sind. Dem mag man sich nur zu gern anschließen, aber das setzt voraus, dass damit er wirklich relevante Zielkonflikt wiedergeben wird. Das ist aber nicht so, zumindest nicht im Ergebnis. Denn die Einschränkungen ebenjener Rechte fällt in diesen Ländern bis heute deutlich geringer aus als bei uns. Es muss uns zu denken geben, dass unsere westlichen Demokratien in der Pandemiebekämpfung weltweit besonders schlecht dastehen, ohne dass sie auf der anderen Seite zumindest ein Plus in Bezug auf die Bewahrung von Bürgerrechten vorweisen können. Da geht also mehr, gerade in den westlichen Demokratien.
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[1] Die Zahl der durchschnittlich von einer infizierten Person weiter angesteckten Personen.
[2] Das rechnet sich als 100(1-0,00002)100 bzw. 100(1-0,00002)500.
[3] Wer Beispiele für diese Argumentation sucht, sei auf den Finanzwissenschaftler Stefan Homburg verwiesen (www.stefan-homburg.de/coronakrise.html), der auch in diesem Blog geschrieben hat. Um es klar zu sagen: Es ist inakzeptabel, die Quellen von Argumenten, die man nicht teilt, zu diskreditieren oder mundtot zu machen. Manche begreifen das nie. Hier wird aus diesen Gründen der gebotene Weg der argumentativen Auseinandersetzung gewählt.
[4] Stefan Homburg hat wiederholt darauf hingewiesen, dass Virus-Epidemien keinen exponentiellen, sondern einen s-förmigen Verlauf haben. Da hat er Recht. Denn tatsächlich folgt der Ansteckungsprozess einer (s-förmigen) logistischen Funktion, in der die Zuwächse zunächst immer größer und später immer kleiner werden. Das liegt daran, dass das Virus im Verlaufe der Zeit auf immer mehr Menschen trifft, die es nicht befallen kann, weil sie schon immun sind. Das ist aber ebenso richtig wie irrelevant. Denn solange der R-Faktor größer ist als eins, steigen die Infektionszahlen exponentiell. Zwar fällt der R-Faktor entlang der logistischen Funktion, bis er irgendwann „von allein“ unter eins liegt. Das tut er aber erst, nachdem gut ein Drittel der Bevölkerung infiziert gewesen ist (und es dabei mindestens 250 Tsd. Todesfälle gegeben hat). Und auch danach steigen die Infektions- und Todeszahlen weiter, nur eben nicht mehr exponentiell.
[5] Bis auf einen, der zog sich in die Talkshows zurück.
[6] Am 7. Januar 2021 waren es laut ARD/infratest schließlich 88 Prozent (www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend; abgerufen am 10. Januar 2021).
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Institutionenökonomisch fundierter liberaler Realismus in der Corona-Krise
Professor Dr. Apolte gelingt eine faktenreiche und institutionenökonomisch basierte, insgesamt äußerst treffende und sehr empfehlenswerte Lektüre zur Corona-Herausforderung. Die profunde ökonomische Analyse des Aufsatzes adressiert zentrale „wunde Stellen“ in der „Pandemie-Governance“ mit wichtigen ordnungspolitischen und föderalistischen Implikationen.
Der Autor konstatiert gewisse Verzerrungen in der Debatte, deren Auflösung sich bisher als schwierig erwiesen hat. Dies ist so, obwohl die zugrundeliegende (mikroökonomischen) Sachverhalte offensichtlich erscheinen. Das „hohe Lied“ auf die individuelle Freiheit, welche negative („technologische“) externe Effekte während der Pandemie weitgehend ausblendet , hat bei praktisch jeder kollektiven staatlichen Regulierung zu „alarmistischen“ Schlagzeilen vorrangig in Teilen der Boulevard-Presse und der Politik geführt. Denn staatliche Freiheitsbeschränkungen unterliegen der auch gerichtlich anfechtbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung, sodass kontroverse Einschätzungen hierzu unvermeidlich erscheinen.
Dabei ist ökonomisch bekannt, dass eine rein am Eigeninteresse ausgerichtete Nutzung des öffentlichen und privaten Raums während einer Pandemie von empirisch fast 30 Prozent der Personen, welche sich selbst durch das Virus praktisch nicht als gefährdet ansehen (https://www.diw.de/de/diw_01.c.797306.de/publikationen/wochenberichte/2020_34_7/werbung_fuer_corona-app_staerker_auf_junge_leute_konzentrieren__kommentar.html), zu Infektionsrisiken für eigentlich unbeteiligte Dritte bei weigehend ungeschützten physischen Begegnungen führen muss, wenn der Staat hier nicht klare Handlungsgrenzen und -regeln in Bezug auf Hygieneregeln, Wahrung physischer Distanz und Verbindlichkeit von Maskenregeln in bestimmten Situationen vorrangig zum Schutz anderer setzt.
Das wochenlange Hin und Her bei diesen öffentlichen Diskussionen dürfte die Anerkennung vieler der von Fachleuten (trotz noch immer rech hoher Unsicherheit) zumindest nach und nach weitgehend akzeptierten Fakten zum Corona-Virus und dessen gesundheitspolitischer Bekämpfung bei Teilen der Bevölkerung beeinträchtigt haben. Die Regeltreue bei der Einhaltung von direkten Hygienevorschriften sowie die Akzeptanz zusätzlicher staatlicher Vorschriften zur Eindämmung von Infektionen, welche gerade wegen ihres häufigen politischen Kompromisscharakters und aufgrund ihres teilweisen Ursprungs in einer politischen Priorisierung vielen Menschen als willkürlich erschienen, dürfte hierunter gelitten haben. Dabei sind ein gewisser pauschalierender Charakter staatlicher Regelungen („One-size-does-not-fit-all“-Problem) und die Festlegung etwa von Schwellenwerten in der Praxis unvermeidbar, um diese überhaupt administrativ umsetzbar und bei Zuwiderhandlungen staatlich sanktionierbar zu machen.
Für die auffällig mangelnde Antizipation künftiger „Worst-Case“- oder „Bad Case“-Szenarien infolge der Virus-Herausforderung durch große Teile von Politik, Medien und Wissenschaft zahlen wir nun mit wiederholten Lockdowns gesellschaftlich einen höheren Preis als es bei rationalerer Politikgestaltung bis zur Verfügbarkeit flächendeckender Impfmöglichkeiten eigentlich nötig (gewesen) wäre.
Im Nachhinein wundert man sich zwar darüber. Dies aber durchaus erklärbar. Beispielsweise konstatiert der Berliner Politikwissenschaftler Professor Dr. Herfried Münkler ein „Katastrophen-Paradox“. Hiernach besteht in der Politik ein Grundproblem: „Wenn sie erfolgreich ist, generiert sie ein Paradox. Weil die Politik die Katastrophe abwendet, verhindert sie die Erfahrung der Katastrophe, die erst ihr Eingreifen rechtfertigt. … Die Gesellschaft hat falsche Schlussfolgerungen daraus gezogen, dass Deutschland im europäischen Vergleich recht gut aus der ersten Welle herausgekommen ist “ (https://plus.tagesspiegel.de/herfried-muenkler-ueber-die-bundeskanzlerin-von-angela-merkel-wird-eine-menge-bleiben-85859.html).
Heute steht fest: Es wäre unbestritten zielführender gewesen, die Lage unter Beachtung solcher Erkenntnisse im Sommer systematischer zu erörtern und genau diese paradoxen Folgen vorherzusehen, statt vor allem mögliche weitere Lockerungen im Auge in den Vordergrund zu rücken, wie es stattdessen häufig in der Debatte der Fall war.
Doch für die tatsächliche Diskussion in Deutschland gab es durchaus nachvollziehbare Gründe. So schien es im Sommer ordnungspolitisch (fast) eindeutig klar zu sein: Einen erneuten Lockdown würde und dürfe es auf keinen Fall geben. So lautete zumindest der weit verbreitete Tenor in der öffentlichen bzw. veröffentlichten Debatte, in der erneute strikte Begrenzungen der Menschen – angefeuert unter anderem durch einige Lobbykampagnen – vielfach und teils reflexhaft abgelehnt worden sind. Diese Festlegung in der öffentlichen Diskussion erfolgte, aus heutiger Sicht weitgehend unabhängig davon, ob sich die tatsächliche Infektionslage wieder in der kälteren Jahreszeit verschärfen könnte oder ob neue wissenschaftliche Erkenntnissen hierzu strikte Kontaktbeschränkungen erneut erforderlich machen würden, insbesondere damit es nicht doch noch zu einer Überlastung der Intensivbettenkapazitäten hierzulande kommt. Eine solche Überlastung soll aus ethischen Gründen unbedingt vermieden werden.
Die Erfahrungen anderer Länder – auch von nicht wenigen demokratischen Ländern, etwa Neuseeland oder Australien – mit zunächst strikter Viruseindämmung und erfolgversprechenden Lockerungen danach wurden zugleich wenig oder vielfach als „völlig unrealistisch“ für eine Übertragung auf Deutschland wahrgenommen, Dieser Fokus ergab sich nicht zuletzt deshalb, weil in der Regel der Blick auf geografisch näherliegende „Sonderwege“, charakterisiert durch relativ wenige wirtschaftlichen und individuelle Beschränkungen der Freiheit der Menschen, teilweise als mögliche Erfolgsmodelle auch für Deutschland angesehen worden sind (insbesondere Schweden, Niederlande und später dann auch die Schweiz). Angesichts des geringeren staatlichen Interventionismus erschien dies ordnungspolitisch nicht zuletzt Teilen der liberal ausgerichteten Ökonomen und Politiker als bedenkenswert oder sogar als attraktiv.
Zugleich gab es teilweise auch Zustimmung zu einer Abkehr von der bis dahin offiziell regierungsamtlich verfolgten strikten Viruseindämmung durch Teile der führenden Virologen hierzulande und von einigen Ärztevertretern, die diese Position ebenfalls stützten. Dies hat sich jedoch angesichts der seitdem erheblich verschärften Problemlagen in diesen zunächst weniger die Freiheiten der Menschen beschränkenden Ländern wesentlich geändert, da dort angesichts gestiegener Todes- und Intensivbettenbelegungen ,mittlerweile eine ebenfalls deutlich dirigistischere staatlichen Corona-Politik eingeführt wurde, um die massiv gestiegenen Infektionslage wieder in den Griff zu bekommen.
Dass bei uns mittlerweile aufgrund der wiederholt erforderlich gewordenen zeitweisen Lockdowns, die hierzulande typischerweise aus politischen und juristischen Gründen tendenziell zu inkonsequent umgesetzt werden, nicht nur menschliches Leid und die Todesraten wesentlich höher als in den physisch weit entfernten Erfolgsländern sind, sondern zugleich – intertemporal betrachtet – die individuellen Freiheiten in Deutschland angesichts der Beschränkungen seit dem „Lockdown-Light“ sogar weniger verwirklicht sein dürften als in manchen Staaten mit zuvor temporär deutlich strengerer und konsequenterer Viruseindämmung, ist ein sehr wichtiger Hinweis des Beitrags von Professor Apolte.
Dieser Befund bedeutet natürlich nicht, begünstigende Sonderfaktoren (z.B. Insellage, klimatische Bedingungen, Demografie etc.) in solchen derzeit als Erfolgsbeispiele angesehenen Ländern in Asien, Australien und Neuseeland zu ignorieren. Eine „Eins-zu -Eins“-Übertragung kann sowieso nicht das Ziel wechselseitigen Lernens zwischen Ländern bei Krisenbewältigungsstrategien bzw. Strukturreformen sein. Vielmehr geht es immer zuallererst um ein „Kapieren“, statt um ein schematisches „Kopieren“. Dennoch dürften sich in den Erfahrungen dieser Staaten „Good Practices“ finden lassen, von deren Anwendung auch wir hierzulande und in der Europäischen Union erheblich lernen und profitieren können.
Anders als in Professor Apoltes glasklarer und ordnungsökonomisch fundierter Darstellung blieb die Balance der Argumentation in der Corona-Debatte vor dem Hintergrund eines nicht seltenen ansteckenden „Überoptimismus“ in Teilen der Medien und der politischen Debatte während der infektionsärmeren Sommerphase bedauerlicherweise zu oft „auf der Strecke“. Dies erstaunt zuallererst vor dem historischen Hintergrund von Pandemien: Denn eigentlich ist aus früheren weit verbreiteten Seuchen bekannt, dass genau in solcher Nachlässigkeit der Keim für eine deutlich schlimmere „zweite Welle“ der Epidemie liegen kann. Doch diese historische Erkenntnis drang offensichtlich insgesamt zu wenig durch.
Dennoch gab es auffällige Unterschiede dabei, wie die Krise medial behandelt worden ist. Von der von Professor Apolte bemängelten „unterkomplexen“ Sichtweise setzte sich insbesondere der weit überwiegende Teil – der Corona-Berichterstattung in der liberal-konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung wohltuend ab.
Dies etwa, als in der Silvesterausgabe 2020 sehr elegant Reinhard Müller die prinzipiell notwendige Ordnungsrolle des Staates in der Pandemie in wenigen Worten verdeutlicht, indem er darauf verweist, dass so „mancher Unternehmer“ sagen würde, „er hätte lieber Corona als pleitezugehen“. Unmittelbar klärt er dann jedoch auf: „Doch um diese Wahl, selbst wenn man sie persönlich hätte, geht es nicht. Denn jeder, der sich ansteckt, belastet auch die Allgemeinheit“ (https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/der-rechtsstaat-bewaehrt-sich-auch-in-der-pandemie-17124598.html#void).
So bringt der FAZ-Redakteur für Zeitgeschehen und juristische Fragen klipp und klar eine wichtige Differenzierung auf den Punkt. Diese hat man bei so manchen Talkshow-Teilnehmern, nicht wenigen journalistischen Verlautbarungen oder auch bei manchen führenden Volksvertretern der traditioneller Parteien in den Parlamenten gar nicht so selten vermisst.
Bewusste Polarisierung ist bekanntlich eines der Erfolgsrezepte nicht nur im Parteienwettbewerb, sondern auch in den Massenmedien, um so mehr Rezipienten zu erreichen. Allerdings unterscheiden sich diese Massenmedien in den selbst auferlegten Schranken, welche eine Mindestqualität der veröffentlichten Argumentation sicherstellen sollen. Ein solcher Qualitätsmaßstab ist vor dem Hintergrund von „rationaler Uninformiertheit“ vieler Menschen bedeutsam, da die Verbreitung von „Teilwahrheiten“ besonders viel Unheil anrichten kann, wie wir nicht nur aus den Erfahrungen mit dem „Trumpismus“ in den USA nur allzu gut wissen (vgl. zu diesem ökonomisch nicht oft diskutierten Thema B. Külp: https://www.xn--bernhard-klp-mlb.de/index_htm_files/laien9.htm).
Die Gründe für die Verbreitung von Halbwahrheiten auch in Massenmedien können in mangelnder Kenntnis über die Sachverhalte liegen, also an Wissens- bzw, Sorgfaltsmangel, welcher durch gewissenhafte Recherche behebbar wäre. Halbwahrheiten können allerdings allerdings auch bewusst zur Manipulation der Rezipienten eingesetzt werden, etwa weil die Anbieter bestimmte eigene Sonderinteressen auch zu Lasten des Gemeinwohls verfolgen oder gewisse Ideologien im vertretenen Leitbild enthalten sind, welche infolge der darin enthaltenen Vereinfachungen empirisch nur unzureichend gedeckt sind. Wegen der hohen Komplexität vieler Sachverhalte ist dies keineswegs immer unmittelbar ersichtlich, sondern Medienredaktionen haben hier angesichts eines eines gewissen Vertrauensvorschusses der Stammrezipienten einen diskretionären Spielraum bei der Erstellung ihrer Informationsgüter.
Seit März 2020 finden sich viele Beispiele, in denen der im Blogtext besonders zentral herausgearbeitete Aspekt bzw. das Problem von „individuell rational – kollektiv irrational“ bewusst oder unbewusst de-thematisiert bzw. „beschönigt“ (Apolte) wird. Das „Kleinreden“ solcher ökonomischen Grunderkenntnisse und deren mangelnde mediale Vermittlung dürften „das Herannahen des Unheils über Monate“, so der Autor, erheblich begünstigt haben. Denn viele missacht(et)en diese Problematik am Ende beim eigenen privaten Handeln.
Darüber hinaus sind institutionell-strukturelle Aspekte äußerst bedeutsam, wie der Blog-Aufsatz klar herausarbeitet: Angesichts des oft per Saldo dysfunktional wirkenden Zusammenspiels der föderalen Ebenen, der verschiedenen Gerichte, bei denen gegen staatliche Eingriffe zur Eindämmung der Pandemie wegen vermuteter Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen mehr oder weniger erfolgreich geklagt wurde (vgl. dazu auch den obigen instruktiven FAZ-Aufsatz von R. Müller), und der miteinander um Kunden konkurrierenden Medien, die ihre Produkte an den Präferenzen der Kernkunden (mit der Gefahr verzerrter Berichterstattung) ausrichten, erscheint die sehr ernüchternde jetzige Situation letztlich unzureichender schneller staatlicher Problemlösungsfähigkeit, die Professor Apolte diagnostiziert, zwar multikausal, aber letztlich dennoch sehr gut ökonomisch erklärbar (vgl. grundsätzlich dazu die zusammenfassende Abbildung wichtiger Einflussfaktoren bei M. Erlei/M. Leschke/D. Sauerland: Neue Institutionenökonomik, 3. Aufl., Stuttgart 2016, S. 375).
Dass hierbei einzelne Leitmedien sehr positiv herausstechen, während andere bis auf einzelne gelungene Artikel eine eher wenig rühmliche Rolle gespielt haben, verdeutlich wiederum ein Beitrag der „FAZ“ (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/die-springer-blaetter-im-corona-panik-modus-17131780.html#void). Die Lektüre des kurzen Artikels ist aus meiner Sicht äußerst erhellend und „trifft den Nagel auf den Kopf“. Verfolgt man die Corona-Berichterstattung verschiedener liberal-konservativer Leitmedien systematisch, so sind dort auffällige Unterschiede feststellbar, deren Ursachen und gesellschaftliche Wirkungen eine tiefergehende Analyse nach der Überwindung der akuten Krise verdienen würden. Die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen können dabei helfen, die Chancen für rationale Gesundheits- und Wirtschaftspolitik zu erleichtern. Zugleich könnten bereits die von Professor Apolte angesprochenen Strukturreformen die Risiken eines zum Teil erst pathologischen Lernens in der Krise vermindern und adäquate Staatseingriffe bei der Prävention und während einer derartigen Krise beschleunigen.