Gastbeitrag
Das Governance-Paradox

Weltweit werden Gesetze, Pflichten und Haftungsregeln für Unternehmen systematisch verschärft, Anforderungen an „Good Governance“, „Best Practice“ und „Compliance“ werden immer härter. In krassem Gegensatz zu diesem Trend agiert jedoch zuletzt immer öfter die Politik. Demokratische Regierungen und Regierungschefs erlauben sich eklatantes Fehlverhalten, ohne dafür je zur Rechenschaft gezogen zu werden. Diese massive Diskrepanz ist ungerecht, undemokratisch und gesellschaftspolitisch destruktiv; sie sollte nicht länger akzeptiert werden.

Die Pandemie-Panne

Die Corona-Pandemie konfrontiert Regierungen und Gemeinwesen weltweit mit einer der härtesten Herausforderungen seit Jahrzehnten. Sie erweist sich als ultimativer Test für schnelles, koordiniertes und effektives Krisenmanagement, aber zugleich auch als Prüfstein für intelligentes, strukturiertes und vorausschauendes Regierungshandeln. Systematische Vorbereitung auf Pandemie-Szenarien war dabei ein wichtiger Schlüssel, aber auch das agile – und zugleich ernsthafte – Umsetzen, Anpassen und Nachsteuern erforderlicher Krisenmaßnahmen. Nicht viele westliche Länder haben diesen Test bislang überzeugend bestanden; selbst anerkannt rationale politische Systeme wie die Schweiz machten im bisherigen Pandemieverlauf keinen guten Eindruck.

In Deutschland erlaubte sich die Politik lange Zeit den Luxus, von einem „sehr guten Management“ der Corona-Krise zu sprechen. Diese schmeichelhafte Selbsteinschätzung wurde jedoch im Zuge der – für Virologen schon früh und sehr klar absehbaren – „zweiten Welle“ schnell als Illusion entlarvt. Ein steiler Anstieg der Todesfallzahlen zeigt inzwischen deutlich, dass die Politik im Vorfeld keinesfalls so überzeugend agiert hat wie von ihr behauptet.

Um fair zu sein: Das CoViD-19-Virus agiert überaus tückisch, weshalb der bisherige Verlauf der Pandemie weder geradlinig noch einfach zu managen war. Auch das anfängliche EU-Chaos um Lockdowns, Grenzschließungen und Exportverbote für medizinische Ausrüstung soll hier nicht weiter thematisiert werden. Dennoch bleiben einige sehr grundlegende Fragen, deren Beantwortung die Politik bislang erfolgreich verdrängt hat:

Eine dieser Fragen betrifft die sogenannte „Pandemy Preparedness“. In vielen Ländern Europas ist belegt, dass schon deutlich vor dem CoViD-19-Ausbruch umfassende Pandemie-Szenarien durchgespielt und in schriftlichen Planungen, Empfehlungen und Risikobewertungen hinterlegt wurden. (In der Schweiz gab es Planspiele unter Einbezug der militärischen Stäbe.) Eine solche Vorgehensweise entspricht guter strategischer Planung, führte aber in der Politik offenkundig zu keinen sichtbaren Konsequenzen. Stattdessen offenbarte die CoViD-19-Pandemie überall in Europa einen eklatanten Mangel an gezielter Vorbereitung.

Diese Ignoranz markiert nicht nur sträfliches Versagen der Politik, sondern steht auch in auffallendem Widerspruch zu vergleichbaren Anforderungen an den Unternehmenssektor. Dort müssen Unternehmen regelmäßig detaillierte Strategien, Risikoanalysen und sogar „Testamente“ für den Fall ihrer Abwicklung erstellen. Ein Verstoß gegen die Geschäftsstrategie, insbesondere das Ignorieren erkennbarer Risiken, kann zu harten Sanktionen führen und umfangreiche Haftungsansprüche oder Klagen nach sich ziehen.

Für Unternehmen wird dadurch (im Prinzip) sichergestellt, dass nicht nur laufend vorausschauend gedacht und gewirtschaftet wird, sondern dass gravierende Umfeldveränderungen oder ernsthaft drohende Risiken eine zielgerichtete Anpassung des eigenen Handelns zur Folge haben.

Diese Stringenz – und der Zwang zur laufenden Zukunftsanalyse – wäre nicht nur für Unternehmen, sondern auch in der Politik sehr sinnvoll.

  • Zentrales Instrument dafür wäre eine „strategische Planung“ der Regierung, die mit großer Sorgfalt und Ernsthaftigkeit – und unter Einbeziehung anerkannten Expertenwissens – laufend erstellt und vorgelegt werden müsste.

Inhalt und Bandbreite dieser Planung müssten die zentralen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Fragestellungen der näheren Zukunft abdecken, in Umfang und Anspruch also sehr deutlich und grundlegend über das jährliche „Budget“ hinausgehen. (Schröders „Agenda 2010“ ist hierfür ein griffiges Beispiel, blieb aber bekanntlich ein Ausnahmefall.)

  • Die Mindestanforderungen an vorausschauende Planung und strategische Zielsetzung für die Politik wären damit ebenso gewährleistet wie ein Minimum an strategischer Transparenz.
  • Analog zu jedem größeren Unternehmen müssten Regierungen eine solche Zielplanung nicht nur laufend aktualisieren, sondern auch ihr politisches Handeln erkennbar daran ausrichten.

Ergänzend dazu wäre auch in der Politik, analog zur Wirtschaft, ein direkter Zusammenhang zwischen „Handlung“, „Verantwortung“ und „Haftung“ erforderlich:

  • Dies bedeutet, dass auch für politische Akteure eine stärkere Verknüpfung zwischen laufenden Gefährdungsanalysen, drohenden Risiken und entsprechendem politischen Handeln (oder Nichthandeln) herzustellen ist.
  • Die Qualität (oder das Versagen) der jeweiligen Aktionen und Problemlösungen muss zum Gegenstand kritischer Überprüfung und Bewertung werden, weit hinausgehend über wohlfeile „Alibi-Revisionen“ (wie etwa Ausgabenprüfungen durch den Bundesrechnungshof).
  • Offensichtliche (oder notorische) Inkompetenz von Regierungschefs, Regierungen und Fachministerien sollte ähnlich konsequent geahndet werden, wie dies in der Wirtschaft seit langem üblich ist. (Der partielle Verfall von Pensionsansprüchen könnte dafür ein zielführender Ansatz sein.)

Die Notwendigkeit verschärfter Qualitätsanforderungen und Haftungsmechanismen auch in der Politik ist offensichtlich. Nicht erst der zweifelhafte (in vielen Fällen grob fahrlässige) Umgang einiger Regierungen mit der Corona-Pandemie liefert dafür eindringliche Belege.

Die Föderalismus-Falle

Im Fall Deutschlands sind darüber hinaus weitere klare Versäumnisse der Politik anzuführen, die in Schlüsselbereichen wie Klimaschutz, Schulwesen oder digitaler Infrastruktur zunehmend sichtbar und virulent werden. Speziell dort leidet die Stringenz des politischen Handelns seit vielen Jahren unter einem strukturellen Problem, das eigentlich ein Vorteil sein soll: Föderalismus.

Der föderale Aufbau ist ein wichtiges Merkmal des deutschen Staatswesens und soll (unter anderem) politischem Machtmissbrauch vorbeugen. Der Föderalismus legt deshalb die Zuständigkeit für wichtige Aufgaben wie Erziehung, Schulwesen und öffentliche Sicherheit in die Verantwortung der (inzwischen 16) Bundesländer.

  • In „normalen“ Zeiten mit geringer Anpassungsnotwendigkeit hat diese dezentrale Aufgabenverteilung viele Vorteile.
  • In Zeiten gesellschaftlicher Herausforderungen und abrupter Verwerfungen, die schnelles, zielgerichtetes und einheitliches Handeln erfordern, stößt das Prinzip des Föderalismus jedoch sichtbar an seine Grenzen.

Ob Terrorismus, Migration, Bildungsmisere, Energiewende oder Glasfaserkabel: Stets erweist sich die föderale Struktur Deutschlands als retardierendes Element, das schnelle und gezielte Fortschritte auch dann bremst, wenn diese in eine gesamtgesellschaftlich sinnvolle Richtung gehen.

  • Föderalismus verkommt dann schnell zur organisierten Verantwortungslosigkeit, die dringende Probleme so lange zwischen unterschiedlichen Ebenen hin und her schiebt, bis sie irrelevant oder unlösbar geworden sind.

Die strukturellen Nachteile des Föderalismus zeigen sich schlaglichtartig in der jüngsten Corona-Pandemie: Der Ausbruch einer hochansteckenden Viruskrankheit erfordert schnelles Handeln sowie klare und möglichst einheitliche Antworten der Politik. Diese Forderung gilt für das Management von Schutzkleidung und Intensivbetten ebenso wie für spätere „Lockdown-Regimes“ oder die effiziente Beschaffung und Verteilung verfügbarer Impfstoffe.

Bekanntlich wurden diese Anforderungen in Deutschland, speziell im Zuge der „zweiten Welle“, nicht überzeugend erfüllt; stattdessen entstand ein Bild föderaler Verschleppung, Verwässerung und Zersplitterung dringend gebotener Maßnahmen.

Schon seit längerem, deutlich vor der Corona-Krise, wurde diese „dunkle Seite“ des Föderalismus erkannt und von weitsichtigen Beobachtern kritisiert. Bereits mehrfach wurden hochrangige Föderalismus-Kommissionen eingesetzt, um das Ziel einer zeitgemäßen Verschlankung des Föderalsystems in Deutschland voranzutreiben. Es spricht für sich, dass diese Versuche bislang ohne jedes greifbare Ergebnis versandet sind. Auch hier wird deutlich, dass die Politik für eigenes Handeln völlig andere Maßstäbe an „Good Governance“ anlegt, als umgekehrt von Wirtschaft und Unternehmen eingefordert wird.

Das Populismus-Problem

Noch drastischer zeigt sich das Problem politischer „Bad Governance“ in Ländern mit klar populistischem Regierungsstil. Neben Russland und der Türkei sind dies vor allem die USA, Großbritannien und Brasilien; Namen wie Donald Trump, Boris Johnson oder Jair Bolsonaro stehen dort für wahre Meisterleistungen an gesellschaftlicher Ignoranz und politischem Versagen.

Neben einem unwürdigen, anmaßenden und notorisch auf dreisten Lügen basierenden Politikstil ist es vor allem das katastrophale Missmanagement der Corona-Krise, das diese populistischen Regimes charakterisiert. Nicht ohne Grund ist inzwischen eine hohe Zahl an Corona-Toten ihr Markenzeichen.

Das Verharmlosen, Negieren und Ignorieren der Pandemie auf höchster politischer Ebene führte dort zu eklatant schlechten Ergebnissen bei ihrer gezielten Bekämpfung. Dieses Ergebnis ist bereits schlimm genug und sollte für Angehörige der CoViD-19-Opfer Anlass zu politischem Protest und strafrechtlicher Prüfung sein.

Gleichzeitig stellen sich genau hier entscheidende Fragen an den Anspruch auf „Good Governance“, den Bürger – zu Recht – an ihre Regierungen stellen und von diesen erwarten sollten:

  • Wenn Regierungen (bzw. deren Spitzenvertreter) systematisch lügen, wissenschaftliche Erkenntnisse unterdrücken oder politisch manipulieren;
  • wenn normales staatliches Handeln zum Wohle der Bürger nicht mehr stattfindet und durch reine Polit-Shows und „Reality-TV“-Auftritte ersetzt wird;
  • wenn politische Verantwortung dreist ignoriert, abgelehnt oder vorsätzlich auf nachrangige Ebenen verschoben wird;
  • wenn durch plumpe Polit-Propaganda enorme wirtschaftliche, soziale und medizinische Risiken erzeugt, verstärkt oder billigend in Kauf genommen werden;
  • wenn (wie im Fall Donald Trumps) Nepotismus, Amtsmissbrauch, Korruption und persönliche Bereicherung zum Normalfall werden;
  • wenn (wie im Fall der USA und Donald Trumps) etablierte demokratische Grundregeln und Gesetze mit voller Absicht gebeugt, verletzt oder gebrochen werden;
  • spätestens dann sollte die Frage nach der Substanz politischer Governance sehr deutlich und zugleich äußerst nachdrücklich gestellt werden.

Ein Good Governance-Kodex

Die Tatsache, dass selbst in „alten“ Demokratien wie den USA und Großbritannien derart eklatante Verstöße sowohl gegen Grundprinzipien liberaler Demokratie als auch gegen Mindestansprüche an „Good Governance“ stattfinden können, ist äußerst beunruhigend. Dahinter steht ein gefährlicher Trend, der für die Politik sehr verlockend erscheint und sich schon deshalb weiter ausbreiten könnte. Der aktuelle Konflikt zwischen Ungarn/Polen und der EU zum Thema Rechtsstaatlichkeit gibt dazu bereits eine sehr klare Indikation.

Wird dieser Trend nicht frühzeitig gebrochen, drohen langfristig gefährliche und sehr destruktive Entwicklungen:

  • Politische Führung könnte staatliche Pflichten immer mehr vernachlässigen, sich aber zugleich grundsätzlich von Verantwortung freisprechen.
  • Politik würde immer stärker „freihändig“ agieren und wäre letztlich in einem „verantwortungs- und haftungsfreien Raum“.
  • Demokratische Grundwerte, aber auch konkrete Rechte und Ansprüche der Bürger an den Staat verkämen dann zu reiner Makulatur.

Aus der jüngsten Entwicklung wird deutlich, dass verantwortungslose „Freifahrten“ der Politik (wie zuletzt speziell in den USA und GB) nicht länger akzeptabel sind. Dies gilt umso mehr, als viele Menschen im Zuge der Corona-Pandemie strikte Einschränkungen und rigide „Lockdown-Regimes“ hinnehmen müssen, deren Einhaltung mit oft drakonischen Sanktionen belegt ist. Das Missverhältnis zum weitgehend „folgenlosen“ Agieren der Politik könnte nicht größer sein!

Folglich sollte sich die Politik in westlichen Ländern, ähnlich wie die Wirtschaft, an einem klaren Kodex orientieren, der Grundregeln für „Good Governance“ definiert und verpflichtend einfordert:

  • Staatliches Handeln, insbesondere aber eklatantes Regierungsversagen, sollte zu jeder Zeit an diesem „GovernanceKodex“ gemessen und bei Verstößen geahndet werden.
  • Ähnlich wie am Beispiel staatlicher Ausgabenprüfung („Bundesrechnungshof“) sollte auch allgemeines Regierungshandeln zum Gegenstand unabhängiger Überprüfung werden.
  • Zusätzlich sollte, speziell bei vorsätzlichen Pflichtverletzungen von Amtsträgern, eine juristische Überprüfung möglich sein, die über klare Sanktionen verfügt und deutlich über das übliche politische Verfahrensrecht hinausgeht.

Es ist klar, dass die hier formulierten Ansprüche sehr ambitioniert sind und aktive Mitwirkung der Politik erfordern würden. Genau das ist der Grund, warum auf diesem Feld bislang kein sichtbarer Fortschritt erzielt werden konnte. Dennoch wäre es völlig falsch, angesichts der bestehenden Problemlage zu resignieren.

Die massive Diskrepanz zwischen einem immer engeren Regulierungs-Korsett der Wirtschaft und den immer breiteren Freiräumen der Politik ist undemokratisch, ungerecht und nicht länger akzeptabel. Politische Reformkräfte sollten deshalb das „Governance-Paradoxon“ baldmöglichst ambitioniert angehen. Der Beifall aus Wirtschaft und Wählerschaft wäre sicher.

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