Rechnungslegungszwecke
Differenzierung ist notwendig – auch beim Gläubigerschutz

Unternehmensrechnung und ihre Zwecke

Die Güte einer Unternehmensrechnung kann nur in Abhängigkeit von dem mit ihr verfolgten Zweck beurteilt werden (Schmalenbach 1963, S. 141). Die interne Unternehmensrechnung – etwa die Kosten- und Leistungsrechnung oder die Investitionsrechnung – verfolgt naturgemäß andere Ziele als die externe Unternehmensrechnung (Rechnungslegung), deren Zwecke durch den Gesetzgeber im Bilanzrecht festlegt werden. Auch die Ziele der Rechnungslegung können sich abhängig von der Rechnungslegungs- und Rechtstradition eines Landes unterscheiden. Die einzig wahre oder richtige Bilanz kann es nicht geben, was Stützel (1967) veranlasste, eine „funktionsanalytische Bilanztheorie“ auszuarbeiten.

Das deutsche Bilanzrecht ist im Handelsgesetzbuch (HGB) geregelt und unterscheidet nach heutigem Verständnis grundsätzlich die Zwecke Dokumentation, Rechenschaft und Kapitalerhaltung (etwa Baetge, Kirsch und Thiele 2019). Während die Dokumentationsfunktion sich überwiegend auf die Pflicht zur Buchführung bezieht und insofern eine Basisfunktion darstellt, müssen Rechenschaft und Kapitalerhaltung einer spezifischeren Betrachtung unterzogen werden.

Leffson (1987, S. 64) definiert Rechenschaft als

Offenlegung der Verwendung anvertrauten Kapitals in dem Sinne, daß dem Informationsberechtigten – das kann auch der Rechenschaftslegende selbst sein – ein vollständiger, klarer und zutreffender Einblick in die Geschäftstätigkeit gegeben wird, daß dieser sich ein eigenes Urteil über das verwaltete Vermögen und die damit erzielten Erfolge bilden kann.

Kapitalerhaltung bedeutet nach Baetge, Kirsch und Thiele (2019, S. 98)

Dass jener Periodenerfolg ermittelt wird, der – auch wenn er vollständig entnommen würde – das (nominelle) Eigenkapital nicht reduzieren würde (Sicherung des nominellen Haftkapitals).

Die Zwecke der Rechnungslegung und damit einhergehend der Schutz bestimmter Jahresabschlussadressaten verlangen eine normative Wertung, welche dem Gesetzgeber obliegt. Baetge, Kirsch und Thiele (2019) gehen mit Verweis auf die Intention des Gesetzgebers davon aus, dass die bilanzrechtlichen Normen keinen Vorzug eines der beiden Zwecke erkennen lassen. Dennoch lassen zentrale Rechnungslegungsvorschriften wie das in § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB normierte Vorsichtsprinzip und die imparitätische Behandlung nicht realisierter Gewinne und Verluste (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB) erkennen, dass der Gläubigerschutz und mit ihm die Kapitalerhaltung im deutschen Bilanzrecht eine exponierte Stellung einnehmen. Dies ist historisch und ökonomisch begründbar. Zum einen unterscheidet sich die Finanzierungsstruktur deutscher – gerade mittelständischer Betriebe – in erheblichem Maße von den Gegebenheiten in anderen Rechtsräumen, etwa den Vereinigten Staaten (etwa Fülbier und Klein 2015). Zum anderen mag diese Fokussierung ein Resultat negativer Erfahrungen aus der Gründerzeit sein (hierzu etwa Haaker und Velte 2013; Schmitz 2016).

Gläubiger als heterogene Gruppe

Allerdings sind Gläubiger ebenso wenig eine homogene Gruppe wie Eigenkapitalgeber. Es ist ein großer Unterschied, ob der Fremdkapitalgeber ein Sparer ist, der sein Vermögen als Einlage bei einem regionalen Kreditinstitut verwaltet und der Bank insofern einen Kredit gewährt (zum Gläubigerschutz in der Bankenaufsicht siehe etwa Waschbusch, Rolle und Biewer 2017; Biewer 2020), oder ob ein institutioneller Anleger eine Anleihe eines im DAX notierten Unternehmens erwirbt, um sie nach Kurssteigerungen am Markt weiterzuverkaufen. Genauso ist das Kreditverhältnis zwischen einem mittelständischen Automobilzulieferer, der seine Produkte auf Ziel an einen der großen Automobilhersteller verkauft, bereits aufgrund der Machtasymmetrie anders zu beurteilen als ein Schuldscheindarlehen, welches demselben Automobilhersteller durch ein internationales Bankenkonsortium gewährt wird. Dennoch wird im Rahmen des Kapitalerhaltungszwecks unterstellt, dass Gläubiger eine eindeutige Zielfunktion aufwiesen, und vornehmlich an einem hohen Schuldendeckungspotential interessiert seien. Insofern wird – und dies ist eine Parallele zum Verbraucherbegriff – ein Gläubigerbild skizziert, das für die praktische Rechtsanwendung als zu undifferenziert erscheint. Zudem wird oftmals vernachlässigt, dass auch Einleger als Gläubiger von Kreditinstituten ein hohes Informationsbedürfnis haben (etwa Bieg und Waschbusch 2017, S. 26 f.). Wenngleich die Unsicherheit zukünftiger Umweltzustände jede Entscheidung begleitet, kann doch eine hinreichende Informationsbasis das Risiko reduzieren, in ein bonitätsschwaches Unternehmen zu investieren, insofern stellt die Rechnungslegung „die Visitenkarte der Unternehmung“ (Albach 2000, S. 1 bezogen auf die Gewinn- und Verlustrechnung im Speziellen) dar.

Zudem stellt sich die ökonomische Frage, ob ein alleiniges Abstellen auf die Vermögensausstattung eines Schuldners der Praxis einer Kreditentscheidung entsprechen kann. Das Schuldendeckungspotential stellt für den Gläubiger die Haftungsmasse seines Schuldners und somit die letzte Rückzugslinie dar. In der Kreditpraxis wird aber neben dem verwertbaren Vermögen regelmäßig auch die Kapitaldienstfähigkeit des Schuldners über die Kreditgewährung entscheiden. Keine Bank würde ein durch Grundschulden besichertes Immobiliendarlehen vergeben, wenn bereits das Einkommen des Kreditnehmers nicht ausreicht, um die Zinsen des Kredits zu begleichen. Um die Fähigkeit zur Leistung von Zins und Tilgung beurteilen zu können, sind jedoch aus Sicht des potentiellen Fremdkapitalgebers auch verlässliche Informationen hinsichtlich der Finanz- und Ertragslage des Schuldners von Belang, sodass sich ein Spannungsfeld zeigt. Nun ist es für ein Regelrecht natürlich nicht möglich, zwischen verschiedenen Fallgruppen zu unterscheiden. Gerade das ist möglicherweise das Charmante einer prinzipienorientierten Rechnungslegung im Gegensatz zu einem Fallrecht, was nicht bedeutet, dass eine differenzierte Betrachtung der ökonomischen Folgen obsolet ist. Das Spannungsfeld zwischen Rechenschaft und Kapitalerhaltung soll im Folgenden am Beispiel der Bildung und Auflösung sog. stiller Reserven verdeutlicht werden.

Stille Reserven und Gläubigerschutz

Dieter Schneider (1987, S. 411-414) zeigt am Beispiel der stillen Reserven (hierzu am Beispiel stiller bankspezifischer Vorsorgereserven Bieg und Waschbusch 2017, S. 480-483), dass hier aus ökonomischer Perspektive ein Bruch im deutschen Bilanzrecht vorliegen könnte: Stille Reserven entstehen grundsätzlich durch eine Unterbewertung des Vermögens oder eine Überbewertung der Schulden des Bilanzierenden (Baetge, Kirsch und Thiele 2019). Auf der Aktivseite eines Unternehmens resultieren stille Reserven insbesondere aus der Anschaffungskostenrestriktion (§ 253 Abs. 1 S 1 HGB), wonach der Buchwert eines Vermögensgegenstands die (fortgeführten) Anschaffungskosten nicht übersteigen darf. Hierdurch bildet sich eine stille Reserve als Differenz zwischen dem potentiellen Verkaufspreis und dem Buchwert, die gemäß § 252 Abs.  1 Nr. 4, 2. HS HGB erst als realisiert angesehen werden darf, wenn der Verkauf getätigt ist. Zahlreiche Bilanzierungswahlrechte im Handelsrecht eröffnen dem Bilanzierenden zudem die Möglichkeit, Bilanzpolitik zu betreiben. Grundsätzlich wird dabei davon ausgegangen, dass ein zu niedrig ausgewiesenes Vermögen und c.p. ein zu niedriger Gewinn dem Gläubigerschutz diene (Schneider 1987, S. 412 mit Verweis auf Neukamp 1899). Schneider argumentiert nun auf Basis der Agenturbeziehung zwischen dem Rechenschaftslegenden und den Abschlussadressaten, dass „derjenige, der Rechenschaft zu geben hat, nicht selbst darüber entscheiden darf, wie weit er sich der Rechenschaft entzieht“, was in letzter Konsequenz ein Verbot aller Wahlrechte bedeutete (Schneider 1987, S. 411). Nach Schneider (1987, S. 412) führe die Unterbewertung der Aktiva zu einer „verzerrten Messung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage […] und bewirke keinen verstärkten Schutz für die Gläubiger oder Anteilseigner“. Dies begründet er damit, dass es in Perioden mit positiven Erfolgen für den Gläubigerschutz irrelevant sei, ob stille Reserven gebildet würden oder nicht. In Verlustjahren lösten sich die stillen Reserven jedoch auf und suggerierten ein falsches Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des potentiellen Schuldners. Aufgrund der asymmetrischen Informationsverteilung zwischen dem Unternehmen und den potentiellen Kreditgebern, achten diese jedoch auf Signale und interpretieren den Jahresabschluss des Unternehmens zu positiv, was zu einer Kreditentscheidung führen kann, die sie bei Kenntnis der tatsächlichen Vermögens-, Finanz- und Ertragslage nicht getroffen hätten (zur Bedeutung von Informationen bei Investitionsentscheidungen siehe Follert 2017).

Ein Kompromissvorschlag könnte darin bestehen, die Möglichkeit zur Bildung stiller Reserven zu reduzieren, und gleichzeitig Ausschüttungssperren zu verhängen, um dem Unternehmen keine Haftungsmasse zu entziehen. Einschränkend – und dies gilt insbesondere für potentielle Kreditgeber kapitalmarktorientierter Unternehmen – ist natürlich darauf hinzuweisen, dass ein parallel zum HGB aufgestellter Abschluss nach den International Financial Reporting Standards (IFRS), die primär die Vermittlung sog. entscheidungsnützlicher Informationen anstreben (siehe CF.1.2), zu Rate gezogen werden kann.

Fazit

Aufgrund historischer und ökonomischer Gegebenheiten ist es nachvollziehbar, dass der Gläubigerschutz in Deutschland eine prominente Stellung einnimmt. Allerdings erfordert auch dieser Adressatenkreis eine spezifische Analyse. Vielfach suggeriert die Darstellung eines „Gläubigers“ nämlich das Bild eines unterlegenen und hilfsbedürftigen Verhandlungspartners, was für gewisse Gläubigergruppen zutrifft, jedoch kaum verallgemeinerbar ist. Auch wenn man annimmt, dass sich Kapitalerhaltung und Rechenschaft gleichwertig gegenüberstehen, zeigen die Ausprägungen der Kapitalerhaltungsgrundsätze (etwa Baetge, Kirsch und Thiele 2019, S. 136-142) ein Spannungsfeld. Am Beispiel der stillen Reserven zeigt Dieter Schneider bereits 1987, dass der intendierte Zweck des Gläubigerschutzes hier sogar verfehlt werden kann. Es soll keinesfalls der Eindruck erweckt werden, dass die grundsätzliche Ausrichtung der deutschen Rechnungslegung zu verwerfen sei – dies zeigen auch die Erfahrungen vergangener Krisen (etwa Schmitz 2016) –, allerdings erfordert die Rechnungslegung als gesellschaftliche Institution im Zeitablauf einen regelmäßigen Diskurs und eine differenzierte Betrachtung.

Literatur

Albach, Horst (2000). Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 2. Aufl., Wiesbaden.

Baetge, Jörg, Kirsch, Hans-Jürgen, Thiele, Stefan (2019). Bilanzen, 15. Aufl., Düsseldorf.

Bieg, Hartmut, Waschbusch, Gerd (2017). Bankbilanzierung nach HGB und IFRS, 3. Aufl., München.

Biewer, Johannes (2020). Zur Zweckadäquanz der IFRS-Rechnungslegung als Informationsinstrument für die Bankenaufsicht, Baden-Baden.

Follert, Florian (2017). Einige entscheidungstheoretische Anmerkungen zu § 37b WpHG. Der Konzern 15, 274-278.

Fülbier, Rolf U., Klein, Malte (2015). Balancing past and present: the impact of accounting internationalisation on German accounting regulations. Accounting History 20, 342-374.

Haaker, Andreas, Velte, Patrick (2013). Zur Geschichte der Zeitwertbilanzierung in Deutschland. Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 58, 73-104.

Leffson, Ulrich (1987). Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, 7. Aufl., Düsseldorf.

Neukamp, Ernst (1899). Das Dogma der „Bilanzwahrheit“. Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht 48, 450-507.

Schmalenbach, Eugen (1963). Kostenrechnung und Preispolitik, 8. Aufl., Köln/Opladen.

Schmitz, Sascha (2016). Wirtschaftskrisen und Rechnungslegung, Wiesbaden.

Schneider, Dieter (1987). Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 3. Aufl., München/Wien.

Stützel, Wolfgang (1967). Bemerkungen zur Bilanztheorie. Zeitschrift für Betriebswirtschaft 37, 314-340.

Waschbusch, Gerd, Rolle, Andrea, Biewer, Johannes (2017). Überlegungen zur Zweckadäquanz der aufsichtsrechtlichen Eigenmittelunterlegung im Kreditgewerbe. Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis 69, 206-227.

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