Der deutsche Steuerzahler sieht sich als Resultat der gescheiterten Einführung einer PKW-Maut unter maßgeblicher Federführung des damaligen Bundesverkehrsministers, Andreas Scheuer, einer Schadensersatzforderung in dreistelliger Millionenhöhe gegenüber (https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/auto-verkehr/pkw-maut-so-viel-geld-kostet-das-projekt-den-bund-19013351.html). Zunehmend werden Stimmen laut, die eine mögliche persönliche Haftung Scheuers diskutieren (https://www.tagesspiegel.de/politik/brauchen-minister-bald-eine-versicherung-die-causa-scheuer-konnte-zum-prazedenzfall-werden-10246168.html). Dabei ist die Causa Scheuer kein Einzelfall. Immer wieder können politische Entscheidungen beobachtet werden, die anhand bekannter Daten kaum rational erklärbar sind. Man denke nur an die kostenintensive Verteilung der FFP2-Masken über Apotheken (Gleißner und Follert 2022) oder die innerhalb weniger Tage (!) getroffene Entscheidung zum vorgezogenen Ausstieg aus der Kernkraft nach dem Unglück im japanischen Fukushima im März 2011 (Follert, Gleißner und Möst 2021).
Schnell wird der naheliegende Vergleich zur Managerhaftung gezogen. Vorstände von Aktiengesellschaften haften der Aktiengesellschaft gemäß § 93 Abs. 2 AktG für einen durch ihre Pflichtverletzung entstandenen Schaden. Als Sorgfaltsmaßstab legt das Aktiengesetz die „Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters“ (§ 93 Abs. 1 S. 1 AktG) zugrunde. Aber auch dem Gesetzgeber ist bewusst, dass unternehmerisches Handeln von Unvollkommenheiten geprägt ist, weshalb die Haftungsregel von einem Freiraum (sog. Business Judgment Rule) begleitet wird. Gemäß § 93 Abs. 1 S. 2 AktG liegt eine Pflichtverletzung nämlich nicht vor, „wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“. Wäre Andreas Scheuer der Vorstand einer Aktiengesellschaft, müsste er insbesondere den Beweis erbringen, dass er „auf Basis angemessener Information“ und „zum Wohle der Gesellschaft“ handelte. Wenngleich der Gesetzgeber der Aktiengesellschaft ein eigenes Interesse zuspricht, ist dies aus Sicht des methodologischen Individualismus als problematisch anzusehen. Sobald mehrere Eigentümer mit teils unterschiedlichen finanziellen oder nichtfinanziellen Zielvorstellungen die Anteile an einer Gesellschaft halten, kann ein „Wohl der Gesellschaft“ meist nur noch näherungsweise ermittelt werden (Olbrich & Rapp 2013; S. 227). In der Praxis wird es daher regelmäßig entscheidend sein, dass ein strukturierter, transparenter und dokumentierter Entscheidungsprozess vorliegt, in dem die Handlungsoptionen hinsichtlich ihrer erwarteten Kosten und Nutzen risikoadäquat bewertet werden (siehe Gleißner 2021), sodass von einer angemessenen Informationsbasis im Entscheidungszeitpunkt ausgegangen werden kann. Dabei ist immer zu berücksichtigen, dass die Unvollständigkeit der Information und die Unsicherheit keine optimalen Entscheidungen zulassen (etwa Hering 2017, S. 11). Auch die Entscheidungsvorbereitung im Hinblick auf die Informationsbeschaffung und -auswertung orientiert sich somit am Wirtschaftlichkeitspostulat.
Haftung der Entscheidungsträger ist nicht nur für die Aktiengesellschaft aufgrund der strikten Trennung zwischen Eigentum und Verfügungsgewalt ein zentrales Charakteristikum. Vielmehr ist Haftung ein zentrales Prinzip der marktwirtschaftlichen Ordnung: „Wer den Nutzen hat, muß auch den Schaden tragen“ (Eucken 2004 [1952], S. 279). Aufgrund der treuhänderischen Funktion der politischen Akteure in einer Demokratie und der hinreichend bekannten diskretionären Spielräume, die aus den Unvollkommenheiten des politischen Prozesses im Allgemeinen (Daumann 1999) sowie des Markts für politische Dienstleistungen im Speziellen (Follert 2020; Stadelmann & Frank 2021; Follert 2023) resultieren, ist es überraschend, dass eine entsprechende Institution, die den politischen Entscheidungsträger einer Haftung unterzieht, bislang kaum diskutiert wurde – dass sie im Recht noch nicht verankert ist, ist hingegen rational erklärbar (Follert 2023). In einer aktuellen Publikation konzipiert Follert (2023) erstmals eine konkrete Haftungsregel für politische Entscheidungsträger, die darauf abzielt, dass Entscheider bereits im Vorfeld einer Entscheidung eine entsprechende Sorgfalt beachten, Handlungsalternativen nach ihren Risken und Chancen analysieren (lassen), und den Entscheidungsprozess sowie das Ergebnis intersubjektiv nachprüfbar dokumentieren, sodass eine Haftung im besten Fall gar nicht eintritt, weil der Entscheider nachweisen kann, dass er keine Sorgfaltspflichtverletzung begangen hat.
Der Sorgfaltsmaßstab könnte wie folgt formuliert werden (Follert 2023):
Bei ihren politischen Entscheidungen als Vertreter der Bürger haben Politiker die Sorgfalt eines ordentlichen Vertreters zu beachten, der die entsprechenden Pflichten gewissenhaft erfüllt. Insbesondere müssen sie die Sorgfalt walten lassen, die ihrer Bedeutung als Treuhänder auf Zeit gerecht wird.
Wird diese Sorgfaltspflicht verletzt, ist eine Schadensersatzpflicht die Rechtsfolge.
Eine Political Judgment Rule würde die Enthaftung ermöglichen (Follert 2023):
Keine Pflichtverletzung liegt in Fällen vor, in denen der politische Akteur bei einer politischen Entscheidung vernünftigerweise davon ausgehen konnte, auf Grundlage angemessener Informationen zu handeln, die in einem transparenten und strukturierten Entscheidungsprozess vorgelegt werden.
Natürlich stehen einem solchen Vorschlag Bedenken gegenüber. Beispielsweise, dass eine Schadensersatzforderung in Millionenhöhe die wirtschaftliche Existenz eines Menschen bedrohen könnte, sodass Selektionseffekte zu befürchten wären und nur noch vermögende Personen das politische Parkett betreten würden. Dies ist indes kein Alleinstellungsmerkmal des Politikers, sondern gilt für Vorstände, Wirtschaftsprüfer, Architekten, Ärzte und jede Person, die Auftragsarbeiten durchführt, ebenso. Insofern sollte es eine logische Konsequenz der Einführung einer entsprechenden Institution sein, dass Versicherungsunternehmen diesen Markt für sich erschließen und Haftpflichtversicherungen für Politiker anbieten (Follert 2023). Auch das Argument hoher Bürokratiekosten und verzögerter Entscheidungen ist aus der Unternehmenswelt bekannt (z.B. Gurrea-Martinez 2019). Es zeigt sich jedoch, dass die Installierung einer effizienten Ablauforganisation in der Praxis Abhilfe schafft (Gleißner 2021), sodass auch Ministerien von den Erfahrungen profitieren würden (Follert 2023). Dass Politiker Vertreter des gesamten Volks sind, ist korrekt, führt jedoch keinesfalls dazu, dass der Vergleich mit der Managerhaftung „ins Leere“ liefe (Decker 2023). Vielmehr wird bereits aufgrund der heterogenen Präferenzen innerhalb einer Gesellschaft und ihrer Nichtaggregierbarkeit (Arrow 1951) klar, dass eine Politikerhaftung als prozessorientierte Institution konzipiert werden sollte.
Hinweis zum aktuellen Forschungspapier:
Follert, F. (2023). Learning from corporate governance: First conceptualization of liability for political decision-making. Kyklos, https://doi.org/10.1111/kykl.12351.
Weitere Literatur:
Arrow, K. J. (1951). Social choice and individual values, New York.
Daumann, F. (1999). Interessenverbände im politischen Prozess: Eine Analyse auf Grundlage der Neuen Politischen Ökonomie, Tübingen.
Decker, D. (2023). Ein verheerendes Erbe. FAZ.net vom 31.07.2023, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/maut-verheerendes-erbe-von-scheuer-und-dobrindt-19071679.html.
Eucken, W. (2004 [1952]). Grundsätze der Wirtschaftspolitik (7. Aufl.), Tübingen.
Follert, F. (2020). Improving the relationship between citizens and politicians: Some economic remarks from an agencytheoretical perspective. Munich Social Science Review, New Series, 3, 171–184.
Follert, F., Gleißner, W., & Möst, D. (2021). What can politics learn from management decisions? A case study of Germany’s exit from nuclear energy after Fukushima. Energies, 14(13), 3730.
Gleißner, W. (2021). Entrepreneurial decisions. Avoiding liability risks (Section 93 AktG, Business Judgement Rule). Controller Magazin, 45(1), 16–23.
Gleißner, W., & Follert, F. (2021). Wie das teure FFP2-Masken-Desaster hätte vermieden werden können. In WirtschaftsWoche Online vom 23.03.2021. https://www.wiwo.de/politik/deutschland/coronakrise-wie-das-teure-ffp2-masken-desaster-haette-vermieden-werden-koennen/27028752.html.
Gurrea-Martinez, A. (2019). Re-examining the law and economics of the business judgment rule: Notes for its implementation in non-US jurisdictions. Journal of Corporate Law Studies, 18(2), 417–438.
Hering, Th. (2017). Investitionstheorie (5. Aufl.), Berlin und Boston.
Olbrich, M., & Rapp, D. (2013). Einige bewertungstheoretische Anmerkungen zur aktienrechtlichen Sorgfaltspflicht bei Unternehmenstransaktionen. In Seicht, G. (Hrsg.), Jahrbuch für Controlling und Rechnungswesen 2013, Wien, 223–236.
Stadelmann, D., & Frank, M. (2021). Market failure on the market for political services: A basic evaluation framework. Munich Social Science Review, New Series, 4, 33–46.