Nachdem Frank Elderson im Dezember Nachfolger von Yves Mersch im EZB-Direktorium geworden ist, wird der nächste Posten dort erst in sechs Jahren frei. Auch das Stühlerücken bei den nationalen Notenbankpräsidenten dürfte merklich nachlassen. Geblieben ist eine deutliche Mehrheit der Tauben im Rat. Welche Rückschlüsse daraus für die Geldpolitik möglich sind und welche nicht, erläutern wir in diesem Text.
Im Frühjahr 2019 hatten wir in der „Woche im Fokus“ auf das bevorstehende große Stühlerücken im EZB-Rat aufmerksam gemacht. Nachdem nun aber Frank Elderson aus den Niederlanden im Dezember den Posten von Yves Mersch im Direktorium übernommen hatte, wird der nächste Posten dort erst in sechs Jahren frei, wenn die Amtszeit von Vizepräsident de Guindos endet.
Auch bei den nationalen Notenbankpräsidenten wurden in den letzten beiden Jahren gut die Hälfte der Posten neu besetzt, auch hier dürfte es also in puncto Neubesetzung ruhiger zugehen. In absehbarer Zeit enden lediglich die Amtszeiten des Litauers Vitas Vasiliauskas und des Maltesers Mario Vella. Möglicherweise werden sie ihre eigenen Nachfolger, denn eine weitere Amtszeit ist in beiden Fällen möglich.
Nachdem wir letztmalig vor rund einem halben Jahr unsere Einschätzung über die Falken und Tauben im EZB-Rat analysiert hatten, erscheint es nunmehr also an der Zeit, das Thema wieder aufzunehmen. Um es gleich vorwegzunehmen: Unseres Erachtens ist die Ausrichtung im Rat nochmals etwas täubischer geworden.
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Adieu, Falken
Dass nach unserer Einschätzung der Vorsprung der Tauben in letzter Zeit noch etwas gewachsen ist, liegt an zwei Punkten.
Erstens sehen wir Robert Holzmann aus Österreich im Unterschied zu bisher nur noch als gemäßigten Falken an. Teilweise äußert er sich zwar immer noch strikt. Nach der Entscheidung der EZB im Dezember, das PEPP-Volumen nochmals um 500 Mrd Euro anzuheben, betonte er beispielsweise, das Volumen müsse keineswegs vollständig genutzt werden. Teilweise fallen Holzmanns Äußerungen aber auch sprunghaft aus. Zu Beginn seiner Amtszeit plädierte er sogar für ein Inflationsziel unter 1½%, zuletzt sprach er sich dagegen für ein Ziel von glatt 2% aus.
Zweitens schätzen wir den Nachfolger von Yves Mersch im EZB-Direktorium, den Niederländer Frank Elderson, als weniger falkenhaft ein als seinen Vorgänger. Diese Einschätzung ist allerdings vorläufig, denn letztendlich handelt es sich bei unserer Zuordnung der EZB-Ratsmitglieder zum Tauben- bzw. Falken-Lager um eine subjektive Einschätzung auf Basis bisheriger Äußerungen der Geldpolitiker.1 Und die sind bei Elderson rar gesät, da er zwar schon lange bei der holländischen Zentralbank arbeitet, sich zur Geldpolitik aber nicht äußerte. Seine Themenpunkte waren Bankenaufsicht, digitaler Euro und grüne Geldpolitik. Unsere Einschätzung über Elderson beruht deswegen im Wesentlichen auf seinen Antworten bei seiner Vorstellung beim Europäischen Parlament Ende 2020. Dort äußerte er sein Einverständnis mit den Maßnahmen der EZB, ging aber auch auf Nebeneffekte der Geldpolitik ein und äußerte eine gewisse Distanz zum Beschluss der US-Notenbank, auf ein sogenanntes „flexibles durchschnittliches Inflationsziel“ überzugehen.
Dominanz der Tauben, aber …
Insgesamt sind wir der Ansicht, dass von dem großen Stühlerücken im EZB-Rat in den letzten zwei Jahren eher die Tauben im Rat profitiert haben (Tabelle 1). 16 Tauben stehen nur 5 Falken gegenüber. Dies spricht für sich genommen für eine Fortführung der sehr expansiven Geldpolitik.
Überbewerten sollte man die Dominanz der Tauben aber auch nicht. Zwar ist die geldpolitische Gesinnung ohne Zweifel wichtig für die Entscheidungen im EZB-Rat, letztlich ist aber die Datenlage entscheidend. Beispielsweise sei daran erinnert, dass 2006, also in dem Jahr, in dem der Rat die Leitzinsen bisher am zügigsten erhöhte, der Vorsprung der Tauben wohl ähnlich ausgeprägt war wie heute. Schließlich waren damals die drei baltischen Staaten noch nicht Mitglieder in der Währungsunion, deren recht falkenhafte Notenbankpräsidenten also auch noch nicht im EZB-Rat vertreten.
Mitunter wurde in den Medien auch über mangelnde Fachkenntnis spekuliert, zum Beispiel, als Christine Lagarde zur EZB-Präsidentin ernannt wurde, die von Haus aus Juristin ist. Das Gleiche trifft übrigens auch auf das jüngste EZB-Direktoriumsmitglied Frank Elderson zu. Es wird dann ab und zu unterstellt, dies begünstige eine täubische Grundhaltung. Allerdings haben 21 der insgesamt 25 Ratsmitglieder Wirtschaftswissenschaften studiert, vier hatten sogar eine Professur (Lane, Schnabel, Holzmann, Vella).
Daneben steht auch in der Kritik, dass einige neuere Ratsmitglieder vorher als Minister in den Regierungen ihrer Länder gewirkt haben. Christine Lagarde, Mario Centeno und Peter Kazimir waren Finanzminister in ihren Ländern, Olli Rehn Wirtschaftsminister. Daneben hatten zwölf Ratsmitglieder gehobene Positionen in den Ministerien in Ihren Ländern inne, meist im Finanzministerium. Darunter waren aber eben auch die Falken Weidmann, Knot und Müller, was vielleicht ein Hinweis ist, eine solche Vergangenheit auch nicht überzubewerten.
Rotation, na und?
Schließlich werden wir im Zusammenhang mit den Tauben und Falken im Rat immer wieder gefragt, wie sich die Rotation der Stimmrechte im Rat auf die geldpolitischen Entscheidungen auswirken könnte. Zur Erinnerung: Seit dem Beitritt Litauens Anfang 2015 sind mehr als 18 nationale Zentralbanken im EZB-Rat vertreten, und für diesen Fall war 2008 beschlossen worden, dass nicht mehr alle Notenbanken bei jeder Sitzung abstimmen dürfen. Während die sechs Mitglieder des EZB-Direktoriums ihr Stimmrecht stets behalten, werden die Präsidenten der nationalen Notenbanken in zwei Gruppen unterteilt. Die (gemessen an der Wirtschaftskraft) fünf größten Länder (Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und die Niederlande) erhalten vier Stimmrechte, so dass jeweils ein Land einen Monat lang nicht mitstimmen darf. Die Gruppe der anderen 14 Länder hat 11 Stimmrechte, immer drei ihrer Mitglieder müssen also drei Monate hintereinander aussetzen.
Deswegen ist es in den letzten Jahren mitunter vorgekommen, dass mehrere Falken kein Stimmrecht hatten, der Vorsprung der Tauben also noch ausgeprägter war. Wir haben die Rotation der Stimmrechte widerholt in unseren Publikationen analysiert. Einen Einfluss auf die Entscheidungen im EZB-Rat konnten wir nicht feststellen.
Tatsächlich könnte der Einfluss der wenigen Falken im Rat in letzter Zeit sogar etwas gestiegen sein. Schließlich hatte es sich Christine Lagarde bei ihrem Amtsantritt auf die Fahnen geschrieben, abweichende Meinungen im Rat stärker als ihr Vorgänger Draghi zu berücksichtigen. Dessen Alleingänge bei den Entscheidungen waren zum Ende seiner Amtszeit zunehmend kritisiert worden.
Laut Medienberichten hatte EZB-Präsidentin Lagarde in Dezember-Sitzung einen Kompromiss ausgehandelt, um sich die Unterstützung im Rat für das neue Maßnahmenpaket zu sichern. Den Berichten zufolge hatte der EZB-Rat vor der Sitzung eine Diskussion über eine Anhebung des PEPP-Volumens um 750 Mrd Euro begonnen. Da sich Widerstand zeigte, hatte EZB-Chefvolkswirt Lane den Vorschlag aber kurz vor der Sitzung auf 500 Mrd Euro reduziert. Um in der Sitzung eine Einigung zu erzielen, intervenierte EZB-Präsidentin Lagarde, indem sie den Abweichlern weitere Zugeständnisse anbot, anstatt sie auszuschließen. Deswegen sei die Aussage aufgenommen worden, dass der PEPP-Umfang bei günstiger Entwicklung nicht vollständig genutzt werden müsste. Ferner sei die Obergrenze, bis zu der jede einzelne Bank TLTROs nachfragen könnte, verringert worden.
Obacht, wenn die Falken gurren
Trotz unserer einschränkenden Aussagen zur Bedeutung des Verhältnisses von Tauben und Falken halten wir das Thema für wichtig, allerdings aus einem etwas anderen Grund: Unsere Einteilung der EZB-Ratsmitglieder in das Lager von Tauben und Falken sehen wir im Wesentlichen als einen Service für unsere Kunden, die die vielen Äußerungen von Ratsmitgliedern nicht täglich verfolgen können und denen deswegen eine Einordnung einer Äußerung schwerer fallen könnte. Interessant sind Äußerungen insbesondere dann, wenn ein Ratsmitglied von seiner Grundüberzeugung abweicht, ein Falke also expansive Schritte bzw. eine Taube eine Straffung der Geldpolitik fordert. Ein wichtiges Beispiel ist, dass die Tauben Coeure und Villeroy, die zuvor klar für umfangreiche Anleihenkäufe eingetreten waren, frühzeitig angedeutet hatten, dass die Nettoanleihenkäufe 2018 eingestellt werden könnten.2
Darüber hinaus empfehlen wir, genau auf die Aussagen der „neutralen“ Ratsmitglieder zu achten, da ihre Signale in jedem Fall Tendenzen für die künftige Geldpolitik aufzeigen können, egal in welche Richtung sie gehen.
Beispielsweise hatte Martins Kazaks in einem Interview wenige Tage vor der Dezember-Sitzung gesagt, eine Ausweitung des PEPP-Volumens um 500 Mrd Euro erscheine ihm „realistisch“, es solle aber auch darauf hingewiesen werden, dass der gesamte Umfang des PEPP nicht vollständig ausgenutzt werden müsse. Er persönlich halte eine Verlängerung des PEPP um ein halbes Jahr für angemessen, würde aber auch einer etwas größeren Verlängerung zustimmen. Diese Aussagen waren nicht weit von den tatsächlichen Entscheidungen des EZB-Rates entfernt.
Ein Problem in Bezug auf die neutralen EZB-Ratsmitglieder ist allerdings, dass sich Kazaks und Vasiliauskas nur sporadisch in der Öffentlichkeit äußern, Reinesch sogar so gut wie nie.
Anders sieht das bei Isabel Schnabel aus. Dies und ihre „neutrale“ Grundhaltung sind zwei Gründe für unsere Empfehlung, ihre Äußerungen stets aufmerksam zu verfolgen. Ein weiterer Grund ist, dass sie als Direktoriumsmitglied dem „inneren Zirkel“ der EZB näher sein dürfte als mancher Präsident einer nationalen Zentralbank. Und schließlich führt Schnabel mit „Market Operations“ und „Research“ zwei wichtige Abteilungen in der EZB.3
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1 Unsere Zuordnung der EZB-Ratsmitglieder zum Tauben- bzw. Falken-Lager unterscheidet sich immerhin nicht wesentlich von den Ergebnissen anderer Analysen zum Thema, wie sie zum Beispiel Bloomberg oder ITC Markets veröffentlichen.
2 Vgl. „EZB-Ratsmitglied Coeure bereitet den Boden für QE-Ende“, Economic Briefing vom 26.2.2018.
3 Unsere Empfehlungen, auf die Aussagen bestimmter EZB-Ratsmitglieder zu achten, sollte natürlich nicht als Aufforderung verstanden werden, die Aussagen aller anderen Ratsmitglieder zu missachten. Beispielsweise sind die Erläuterungen von Christine Lagarde und Philip Lane schon aufgrund ihrer Positionen als EZB-Präsidentin und Chefvolkswirt relevant.
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