Der renommierte Buch- und Drehbuchautor Thomas Brussig hat in der Süddeutschen Zeitung vom 9. Februar einen Namensbeitrag veröffentlicht, den er unter die prägnante Überschrift „Mehr Diktatur wagen“ gestellt hat. Er will offenkundig provozieren, und das schafft er auch (zumindest bei mir). Sein Beitrag ist quasi das Kontrastprogramm zu einem Interview-Beitrag von Heribert Prantl, der der Süddeutschen Zeitung als ihr ehemaliger Politik-Chef ebenfalls eng verbunden ist, seinen Beitrag mit dem Titel „Ich hoffe, dass die Gesellschaft aufwacht“ aber in der Berliner Zeitung veröffentlicht hat (31. Januar 2021). Ihm zufolge besteht „das Wesen der Grundrechte darin, dass sie gerade in einer Krise gelten müssen. Deswegen heißen sie Grundrechte. Sie sind die Leuchttürme, die in der Demokratie leuchten. Es ist fatal zu glauben, man könne sie ja eine Zeit lang geringer leuchten lassen.“
Brussigs Kernthese lautet, unsere Ohnmacht gegenüber der Pandemie rühre vor allem daher, „dass wir die Corona-Krise mit den Mitteln der Demokratie bewältigen müssen. … Ist das Virus gebannt, kehren wir gerne zurück zur geliebten Normalität“, schreibt er. Aber in der aktuellen Situation solle die Demokratie „ihre Rituale und Umständlichkeiten nicht so wichtig nehmen.“ Eindeutig besser als wir sei China mit dem Virus zurechtgekommen, das ihn bereits in früheren Jahren durch das „chinesische Wirtschaftswunder“ beeindruckt hatte. China habe mit seinem konsequenten Lockdown das Virus auf eine Weise eingedämmt, die auf gleiche Weise in einer westlich geprägten Demokratie gar nicht durchsetzbar wäre.
Brussigs Beitrag hat große Resonanz in der öffentlichen Debatte gefunden. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass seine Argumentationslinien in weiten Kreisen der Bevölkerung explizit oder implizit viel Zustimmung finden. Es erscheint somit angebracht, auf einige seiner Argumentationslinien näher einzugehen.
Zunächst einmal argumentiert Brussig, in der Krise dürfe man nicht der Politik oder der Wirtschaft folgen, sondern müsse sich an die Ratschläge der Wissenschaft halten. Aber welcher Wissenschaft? Für Brussig scheint Wissenschaft gleichbedeutend mit Naturwissenschaft und insbesondere mit Epidemiologie zu sein. Es gibt aber doch auch noch die Sozialwissenschaften und insbesondere die Rechtswissenschaften (von den Wirtschaftswissenschaften ganz zu schweigen). Auch Juristen wie Prantl sind durchaus in der Lage, wissenschaftlich seriös zu argumentieren, auch wenn sie dabei auf Quellenangaben und Fußnoten verzichten.
Brussig übersieht (oder ignoriert), dass derzeit nicht die Wissenschaft, sondern nach wie vor die Politik regiert. Lockdowns usw. werden von Politikern beschlossen und durchgesetzt. Und zwar keineswegs nach streng (natur-)wissenschaftlichen Kriterien. Das Schaulaufen von Söder und Laschet ist doch nicht zu übersehen. In der Drittmittelforschung erfahrene Wissenschaftler können ein Lied davon singen, wie sich die Politik ihren Rat dort holt, wo sie erwarten kann, ihre eigenen Überzeugungen bestätigt zu finden. Und das ist derzeit vor allem von Epidemiologen zu erwarten und nicht von Verfassungsrechtlern oder Ökonomen.
Die größte Provokation liegt für mich in dem persiflierten Willy Brandt-Zitat, das Brussig für seine Überschrift wählt. Demnach wäre Demokratie eine Schönwetter-Veranstaltung, die für Krisen nicht geeignet sei. Covid-19 erscheint ihm immer noch „nicht dramatisch genug, um Überzeugungen über Bord zu werfen, die daran hindern, das Nötige zu tun.“ Zu diesen Überzeugungen zählt er offenbar auch und gerade die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte, die sich übereifrige Väter des Grundgesetzes ausgedacht hätten, ohne an die Gefahr von Seuchen zu denken. Brussig geht es nicht um Abwägen zwischen verschiedenen Grundrechten (das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist ohne Zweifel ein wichtiges Grundrecht, das derzeit unter anderem mit der freien Entfaltung der Persönlichkeit und der freien Berufswahl konkurriert). Brussig behauptet, „die Ausübung von Grundrechten“ (also selbst nach Abwägen zwischen ihnen) stelle derzeit per se „eine Gefahr für die Gesamtbevölkerung“ dar.
Ähnliche Argumentationen gibt es ja auch in der Volkswirtschaftslehre, wenn es um die Frage geht, ob und unter welchen Bedingungen die Marktwirtschaft zu gesellschaftlich optimalen Ergebnissen führt. Wir arbeiten hier aus didaktischen Gründen gerne mit der Figur des wohlmeinenden Diktators und fragen modelltheoretisch, ob es ihm möglich wäre, die Marktergebnisse zum Wohle der Allgemeinheit zu verbessern. Die Antwort lautet in aller Regel: Ja. In sehr vielen Situationen ist die Marktlösung nicht optimal, und es wäre zumindest theoretisch denkbar, sie durch diktatorische Eingriffe zu verbessern. Die meisten Ökonomen halten es aber für fraglich, dass Diktatoren in der realen Welt tatsächlich wohlmeinend sind.
Diese Grundsatzfrage erreicht gerade mit Macht die wirtschaftspolitische Debatte in Deutschland und Europa, und zwar – genau wie in der Epidemiologie – ausgelöst durch die angeblich überlegene Politik im diktatorischen China – hier der Industriepolitik.
Eine Nachbemerkung aus aktuellem Anlass: Falls Roland Wiesendanger Recht haben sollte mit seiner Vermutung, das Virus sei nicht von Gürteltier oder Marderhund als Zwischenwirt auf den Menschen übertragen worden, sondern sei aus einem Großlabor in Wuhan entwischt, dann würden vielleicht auch bei Brussig Zweifel geweckt an der überlegenen Fähigkeit der chinesischen Diktatoren, angemessen mit Viren und anderen gesellschaftlichen Herausforderungen umzugehen.
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