Der Umgang mit der Coronakrise erweist sich immer mehr als Prüfstein für die Qualität, Ernsthaftigkeit und Angemessenheit von politischem Handeln. Die Krise wird dabei zum ultimativen Eignungstest für Regierungen und politisches Personal. Die Mehrzahl der deutschen Regierungsverantwortlichen, nicht nur in Berlin, sondern auch in den Bundesländern, sind im Begriff, bei diesem Test „mit Wumms“ durchzufallen, ironischerweise in einem Super-Wahljahr. Deutschlands Regierung schlafwandelt durch die größte Krise der letzten Jahre, obwohl Schnelligkeit, Schlagkraft und Zielgenauigkeit das Gebot der Stunde wären.
Vieles wurde in den letzten Wochen gesagt über den schleppenden Verlauf der Impfkampagne in Deutschland. Auch der fragwürdige und für viele Unternehmen existenzbedrohende Umgang deutscher Ministerien mit zugesagten Corona-Hilfszahlungen ist hinlänglich bekannt. Und selbst die eigentliche Vorgeschichte – der naive, bürokratische und ineffiziente Umgang der EU Kommission mit einer der bedrohlichsten Krisen der letzten Jahrzehnte – wurde hinreichend problematisiert. Trotz all dieser Belege für politisches Missmanagement fällt auf, wie wenig sich in den letzten Monaten an den neuralgischen Punkten verändert hat, speziell in Deutschland. Das Bild deutschen Regierungshandelns in einer der größten Krisen der letzten Jahre wirkt schläfrig, inkompetent und merkwürdig entrückt. Mit übertriebener Bürokratie und dem scheinbar unerschütterlichen Gefühl, selbst in einer massiven Pandemie über alle Zeit der Welt zu verfügen, hat Deutschland die Chance auf einen besseren Verlauf der Krise verstolpert.
Die Illusion vom guten Krisenmanagement
Der Anfangserfolg aus dem Frühjahr 2020, schon damals nur zum Teil kluger Politik zuzurechnen, war rückblickend ein Belastungsfaktor: Das relativ gute Abschneiden in der ersten Welle der Pandemie hat die Politik in der Zeit danach zu selbstgefällig (oder schlafmützig?) werden lassen. In den mehr als 6 Monaten bis zum zweiten Lockdown scheint bei vielen politisch Verantwortlichen weder in Gedanken noch in Taten eine sinnvolle Vorbereitung auf die Zeit einer zweiten (oder gar dritten) Welle stattgefunden zu haben.
Wie sonst ist zu verstehen, dass Pflegeheime und andere Einrichtungen in der zweiten Welle scheinbar zwingend zu gefährlichen Corona-Hotspots wurden, mit einer tragischen Zunahme (möglicherweise vermeidbarer) Todesfälle? Wie anders ist zu erklären, dass Deutschlands Schulen auch zu Beginn des zweiten Lockdowns im November noch immer völlig unvorbereitet waren? Und wie sonst ist zu begreifen, warum das Anlaufen einer (noch so bescheidenen) Test- und Impfstrategie – immerhin gut 1 Jahr nach dem Beginn der Pandemie – noch immer an massiven Schwächen und erkennbarer Planlosigkeit krankt?
Der Umgang mit der Coronakrise wird für Deutschland so zu einem Monument der Mutlosigkeit, zugleich aber auch zu einem Symbol deutscher Schwerfälligkeit und Unbeweglichkeit. Der Mangel an zupackendem Regierungshandeln, verstärkt durch die bürokratischen Hindernisse eines überdehnten Föderalismus, führt nun zum Zerrbild eines Landes, das in deutscher Gemütlichkeit und Seelenruhe, scheinbar schlafwandelnd, durch die entscheidende Phase der Coronakrise stolpert.
Auch die internationale Blamage könnte kaum größer sein: Populistisch regierte Länder wie Großbritannien und (bis vor kurzem noch) die USA, die im Jahr 2020 beim Umgang mit der Pandemie nahezu jeden Fehler gemacht haben, ziehen nun in Sachen Impferfolg mit Dynamik, Entschlossenheit, Bestimmtheit und klarer Fokussierung an Europa vorbei. Sowohl Großbritannien als auch die USA werden wohl bereits im Frühsommer näherungsweise Herdenimmunität erreichen. Entscheidend für diesen Erfolg sind dort ganz offensichtlich Entschlossenheit und Fokussierung, eine strikte Mobilisierung staatlicher Kräfte sowie – nicht zuletzt – eine gehörige Portion Pragmatismus. (Wer sieht, dass in den USA Impfungen sogar in Drugstore-Ketten und Supermärkten stattfinden, versteht den Punkt sofort.)
Schlafwandler Deutschland
Dieser – verglichen mit Deutschland und dem Rest der EU – sehr unterschiedliche Verlauf ist nicht nur erstaunlich, sondern aus europäischer Sicht auch entlarvend. Speziell Deutschland muss damit leben, in der Liste der weltweiten Impffortschritte weit hinten zu rangieren, und dies obwohl eines der wirksamsten Vakzine von einem deutschen Unternehmen entwickelt und in Rekordzeit bereitgestellt wurde. Umgekehrt herrscht in Großbritannien große Genugtuung, dass mit dem schnellen Impferfolg – ganz ohne bremsende Mitwirkung der EU – eine erste BREXIT-Dividende vorgezeigt werden kann.
Nicht zuletzt dieser eklatante Unterschied erzeugt und unterstreicht das Bild von Deutschland als einem Land, das ganz offensichtlich von Schlafwandlern regiert wird.
Schlafwandler…
- … die weiter versuchen, einer tückischen Krise mit anhaltenden Lockdowns, unabgestimmten Trippelschritten und größtmöglicher Bürokratie Herr zu werden.
- … die zu vergessen scheinen, dass Zeit (und Zeitgewinn) ein elementarer Faktor beim Kampf gegen eine Pandemie ist, die sich mit exponentieller Geschwindigkeit ausbreitet und laufend neue Mutationen ins Rennen schickt.
- … die es für ausreichend halten, in einer existenziellen Krise hauptsächlich (zunehmend überfordert wirkende) Minister und Beamte vorzuschicken, statt in einer nationalen Anstrengung die jeweils besten Kräfte einzubinden.
Dieses Bild vom überforderten Schlafwandler ist so traurig wie realistisch; es wirft inzwischen eine erhebliche Anzahl an Fragen auf. Diese Fragen stehen seit einigen Wochen im Raum wie der sprichwörtliche Elefant, sie werden aber leider noch immer viel zu wenig diskutiert. Und sie dienen noch immer nicht als Anlass für kritische Selbstreflexion oder gar beherztes Umsteuern einer zunehmend ineffizienten Corona-Politik. Das gilt speziell in Deutschland, sollte stellvertretend aber auch für die gesamte EU selbstkritisch erörtert werden.
Offene Fragen und kritische Feststellungen
Was also sind die relevanten Fragestellungen, und warum steht sich Deutschland selbst im Weg?
1. Planlosigkeit
Obwohl Deutschland bereits seit einem Jahr durch die Corona-Krise stolpert, scheint noch immer kein echter Plan dafür zu existieren, was genau mit welcher Strategie unter Einsatz welcher Mittel und unter Inkaufnahme welcher Risiken erreicht werden soll:
- Bundeskanzlerin Merkel verfolgt einen übervorsichtigen Kurs, der zwar grundsätzlich richtig erscheint, aber immer wieder nur das stumpfe Instrument möglichst rigoroser Lockdowns zum Einsatz bringt.
- Der Bundesgesundheitsminister scheint gar nicht erst über irgendeinen Plan zu verfügen; anders sind die verstörenden Entwicklungen der letzten Monate nicht erklärbar.
- Die Länder schwanken in schöner Regelmäßigkeit zwischen prozyklischer Lockerung und hartem Lockdown hin und her; sie scheinen mit anspruchsvollen logistischen Maßnahmen (Stichwort Impfkampagne) überfordert und riskieren so jeden ernsthaften Geländegewinn.
Im Gegensatz dazu würde ein wirklich durchdachter Plan alle verfügbaren Bausteine einer klugen Anti-Corona-Politik sinnvoll, abgestuft und gleichzeitig zum Einsatz bringen. Dies umfasst speziell die Kernelemente, die sich in anderen Ländern als erfolgreich erwiesen haben:
- Aufbau umfassender Testkapazitäten und breite Verfügbarkeit von Schnelltests, speziell im Bereich potentieller Hotspots,
- laufende Sequenzierung der Testproben zur Bestimmung der jeweiligen Virus-Eigenschaften,
- Erhebung und Auswertung umfassender Daten zum Infektionsgeschehen (etwa in Schulen),
- massive Priorisierung und Beschleunigung der Impfkampagne mit Entschlossenheit, Pragmatismus und unter Einsatz aller zur Verfügung stehender Mittel (hier liegt mittelfristig der größte Gewinn).
Während der derzeitige Verlauf der USA diesem Bild sehr nahe kommt und dazu beiträgt, den monatelangen Rückstand des Landes in der Corona-Bekämpfung zu neutralisieren, gefällt sich Deutschland weiter in der Rolle des behäbigen Beamtenstaats, der keines der erforderlichen Teilelemente auch nur ansatzweise in den Griff bekommt. Da jedes Land eine „Nachdenkphase“ von rund 12 Monaten zur Entwicklung eines Planes hatte (die neue Regierung in den USA sogar deutlich weniger), lässt dieser Nicht-Fortschritt Deutschland in keinem guten Licht erscheinen.
2. Organisierte Verantwortungslosigkeit
Die Zuständigkeiten für das Management der Coronakrise sind in Deutschland offensichtlich nicht klar verteilt oder (was noch schlimmer wäre) werden nicht verantwortlich ausgeübt. Während der Bundesgesundheitsminister (BMG) seit März 2020 mit zahlreichen Sondervollmachten eigentlich das Heft des Handelns in der Hand hält, wurden seitdem viele Zuständigkeiten beim Bundeskanzleramt zusammengezogen, offensichtlich nicht ohne Grund. Gleichzeitig ist das Thema Gesundheit, wie auch das Thema Schule und Erziehung, grundsätzlich Ländersache. In dieser unklaren Konstellation sind Missverständnisse und Widersprüche vorprogrammiert. Die zwangsläufig entstehende Dissonanz ist bei jeder der Bund-Länder-Konferenzen (BLK) von Bundeskanzleramt, Corona-Kabinett und den Ministerpräsidenten klar erkennbar. Typischerweise enden die BLK mit gegenseitigen Schuldzuweisungen, unklaren Aussagen, weichen Kompromissformeln und entsprechend dehnbarer Auslegung widersprüchlicher Beschlüsse. Glaubwürdigkeit und Substanz dieser Koordinationsrunden sind inzwischen, nicht ganz unerwartet, auf dem Niveau von Kaffeefahrten angelangt.
3. Ungenügende zentrale Steuerung und mangelnde Koordination
Wenn Gesundheitsminister Spahn in der Frage der Beschaffung von Schnelltests zunächst zentrale Ankündigungen macht, die den Eindruck einer Federführung des Bundes erwecken, später aufkommende Kritik an erneut gebrochenen Versprechen jedoch mit dem Vorwurf kontert, der Bund (und das BMG) fühle sich dafür nicht verantwortlich, denn dies sei Sache der Länder, die „das mal wieder nicht hinkriegten“, dann ist das definitiv kein gutes Zeichen. Während in der Frage der Beschaffung von Impfstoffen die EU als zentraler Koordinator vorgeschoben wurde, scheint nun in Deutschland sowohl beim Impfen als auch beim Testen plötzlich das Gegenteil richtig zu sein. Nicht mehr zentrale Steuerung und Koordination wichtiger Beschaffungs- und Verteilungsvorgänge durch den Bund, sondern ein „jeder für sich“-Modell der Länder. Nach bisherigen Erfahrungen wäre jedoch eine vorausschauende Entwicklung zentraler Leitlinien, Vorgaben oder Werkzeuge durch ein zielorientiertes BMG oftmals sinnvoll. (Die Tatsache, dass erst jetzt eine spezielle „Task Force“ zur Abarbeitung komplexer Logistikfragen gebildet wurde, spricht für sich).
4. Bürokratie und überzogener Föderalismus
In Krisen wie der Corona-Pandemie stößt das deutsche Modell eines „gesunden“ Föderalismus unweigerlich an seine Grenzen. Obwohl ein dezentrales Prinzip die Schnelligkeit von Entscheidungen und die Angemessenheit und Zielgenauigkeit von Maßnahmen grundsätzlich fördert, kommen all diese Vorteile in der Pandemie nicht mehr zum Tragen. Immer wieder werden Reibungspunkte, Missverständnisse und schwerfällige Abstimmungsprozesse zwischen Bund und Ländern sichtbar, die ein schnelles und zielgerichtetes Handeln unmöglich machen. Der Bürger fragt sich unwillkürlich, warum dem BMG seit März 2020 umfassende Sondervollmachten und Befugnisse erteilt wurden, um die Bekämpfung der Pandemie zentral organisieren und vorantreiben zu können. Entweder ist diese Befugnis weniger durchgreifend als bislang bekannt, oder sie wird vom Bevollmächtigten nicht sinnvoll ausgeübt. Für die Zukunft nach Corona bleiben hier viele Fragen. Eine grundlegende Föderalismusreform sollte aber ganz oben auf der Agenda stehen.
5. Schwerfälligkeit und Ambitionslosigkeit
In vielerlei Hinsicht wirkt die deutsche Corona-Politik merkwürdig entrückt, schwerfällig und aus der Zeit gefallen. Mehrmonatige Lockdown-Regimes werden von der Politik als „alternativlos“ dargestellt und „verordnet“, trotz gravierender Schäden für Wirtschaft, Wohlstand und Wohlergehen. Die Frage muss erlaubt sein, warum es der Politik so unendlich schwerfällt, in einer schweren Krise wie dieser mehr Ehrgeiz, Schnelligkeit und Ambition zu entwickeln. Speziell die Möglichkeit zur umfassenden Testung ist nach Ansicht aller Virologen ein unverzichtbarer Baustein jeder sinnvollen Corona-Politik, der jedoch in Deutschland bislang (unverständlicherweise) nicht wirklich genutzt wurde – im Gegensatz zu Ländern wie Großbritannien, Österreich oder Südkorea, die dieses Instrument schon seit längerem offensiv einsetzen. Der Blick auf andere Länder zeigt auch deutlich, dass Geschwindigkeit und Entschlossenheit wichtige Schlüssel im Kampf gegen die Pandemie sind. Dennoch wirken in Deutschland viele Prozesse, von der Zulassung neuer Impfstoffe und Schnelltests über die Errichtung funktionierender Impfportale bis zur schnellen Aufsetzung effektiver Testzentren so, als ob dafür noch jahrelang Zeit bliebe. Diese Bräsigkeit ist für viele Bürger nicht nur schwer zu ertragen, sie gefährdet auch unnötig Menschenleben und zerstört Existenzen und Werte.
6. Ideenlosigkeit und fehlender Pragmatismus
Große Krisen sind immer auch Zeiten für große Chancen und geben die Möglichkeit, altes Denken zugunsten neuer Ideen über Bord zu werfen. Dieses Prinzip hat bei vielen Unternehmen in Deutschland und Europa, die ihr Geschäftsmodell quasi über Nacht umgebaut oder sich regelrecht neu erfunden haben, sehr gut funktioniert. Auf dem Feld der deutschen Politik, speziell bei den zuständigen Stäben, Ministerien und Arbeitsgruppen ist ein ähnlicher Effekt jedoch nicht erkennbar. In immer gleichen Denkmustern verordnet die Politik immer wieder neue Lockdowns, als letztes Mittel zur Eindämmung grassierender Infektionen. Wo ist hier die Fantasie, auch neue Wege auszuprobieren, zumindest unter kontrollierten (experimentellen) Bedingungen? Wo ist der Pragmatismus, bei erkennbaren Mängeln in der Organisation einer Impfkampagne auch ein weniger starres Vorgehen zu ermöglichen? Wo ist der politische Wille, eine neue, flexible und unbürokratische Tracking App zu entwickeln? Allzu oft stützt sich der Staat – der eine Schutzfunktion gegenüber seinen Bürgern zu erbringen hat – auf die individuelle und kreative Eigenvorsorge der Bürger, anstatt seiner Verantwortung für die Unversehrtheit seiner Bürger gerecht zu werden.
7. Widersprüchlichkeit und Intransparenz
Der jüngste Streit zwischen Bund und Ländern um die fristgerechte Beschaffung, Verteilung und Bereitstellung von Corona-Schnelltests wirkt grotesk, scheint aber symptomatisch. Lautstark kündigte der Gesundheitsminister an, dass am 1.3.2021 allen Bürgern kostenlose Schnelltests zur Verfügung stehen sollten. Wieder einmal musste der Minister danach jedoch zurückrudern, da seine Aussagen nicht belastbar waren. Auch von Seiten der Länder kam umgehend Protest. Diese erfuhren erst aus der Zeitung, dass diese Tests nicht wie angenommen zentral vom BMG organisiert, sondern von den Ländern selbst zu beschaffen seien. Sollte dieser Vorfall symptomatisch für die Art der (Nicht-)Kommunikation in den Krisenstäben und der BLK sein, dann ist klar, warum Deutschland in der Coronakrise bislang nur schleppend vorankommt.
8. Mangelnde Ernsthaftigkeit
Anfang März hat sich die deutsche Politik auf ein vorsichtiges Lockerungskonzept geeinigt – ein echter Paradigmenwechsel. Dies geschah trotz zunehmender Risiken infolge neuer Corona-Mutationen. Offensichtlich hat die Politik hier kurzsichtig auf den Druck der Öffentlichkeit reagiert, anstatt ein wirklich durchdachtes Konzept umzusetzen. Denn: Auch wenn die angedachten Lockerungsschritte prinzipiell nachvollziehbar sind, haben sie ein entscheidendes Problem. Ihre Umsetzbarkeit erfordert massive Flankierung durch andere, starke Elemente der Pandemiekontrolle. Vorrangig sind dabei schnelle Impfungen sowie breit angelegte Tests. Obwohl die Wichtigkeit dieser Bausteine von niemandem bestritten wird, stehen beide bislang nicht wirklich zur Verfügung. Anders formuliert: Die Politik beschließt Lockerungen am Beginn einer drohenden dritten Welle, hat aber die erforderlichen Kontrollinstrumente „Impfen“ und „Testen“ nicht ansatzweise in Stellung gebracht. Ein solches Verhalten lässt jede Ernsthaftigkeit und Sinnhaftigkeit vermissen, erscheint grob fahrlässig und könnte erneut Menschenleben gefährden.
9. Unglaubwürdigkeit
Zu Beginn der Pandemie galt die Politik der deutschen Regierung noch als besonnen und rational – speziell im Vergleich zu Ländern wie den USA oder Großbritannien. Die damals gefassten Beschlüsse und umgesetzten Maßnahmen erschienen sinnvoll und der Lage angemessen. Dieses Bild hat sich nach einem Jahr Pandemie stark eingetrübt. Der Mangel an Führung, die kontroversen Diskussionen in der BLK, die unabgestimmten Sonderwege einzelner Länder sowie die Tatsache, dass nahezu jede der bedeutenden Ankündigungen der letzten Zeit umgehend wieder kassiert werden musste, untergraben inzwischen ganz klar die Glaubwürdigkeit der deutschen Politik. Die Bereitschaft der Bevölkerung, sich über viele Monate unausgegorenen Corona-Maßnahmen zu unterwerfen, wird dadurch kaum steigen. Das Glaubwürdigkeits-Problem der deutschen Politik muss also dringend gelöst werden. (Zumal der Verdacht, ein Amigo-Netzwerk innerhalb der Regierungsparteien könnte an der Pandemiebekämpfung kräftig mitverdient haben, das Thema zusätzlich belastet).
10. Selbstzufriedenheit und Immobilität
Die Coronakrise stellt der deutschen Politik derzeit kein gutes Zeugnis aus. Doch wie unter einem Brennglas offenbart die Coronakrise in Deutschland zugleich auch ein sehr viel tiefer liegendes Problem, das bereits seit längerem schwelt und sich in drei Kernthesen zusammenfassen lässt:
- Keine Bereitschaft zu neuem Denken (Mutlosigkeit)
- Keine strategische Vision für die Zukunft (Planlosigkeit)
- Keine gezielte Vorgabe ehrgeiziger Ziele (Ambitionslosigkeit)
Mit anderen Worten: Deutschland ist erstarrt in einer Pose der Selbstzufriedenheit, die schon lange vor Corona charakteristisch war. Die letzten Legislaturperioden haben dieses Bild verfestigt und Deutschland in einer Art Biedermeier 2.0 eingemauert. Der Reflex dieser Bräsigkeit zeigt sich nun sehr deutlich in dem Unvermögen, auf die Anforderungen einer dynamischen Krise agil, flexibel und dennoch durchdacht und zielgerichtet zu reagieren.
Fazit
Zusammenfassend zeigt sich, dass Deutschland – speziell in der zweiten Phase der Corona-Pandemie – dem Selbstbild eines modernen, effizienten und leistungsfähigen Industrielandes nur sehr begrenzt gerecht wird. Die Ursachen dafür liegen tief, haben ihre Wurzeln jedoch oft in grundlegenden Versäumnissen und strukturellen Problemen der Politik. Seit vielen Jahren fehlt es der deutschen Politik an klaren Zielvorstellungen, zukunftsgerichteter Ambition und vielfach auch an der nötigen handwerklichen Qualität. Den Preis für diese Defizite bezahlen nun die Bürger, schlimmstenfalls mit ihrer Gesundheit. Keine guten Aussichten für die Zukunft.
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