EU-Subventionskontrolle in Zeiten der Pandemie

Und wieder einmal herrscht der Ausnahmezustand: Bereits im Gefolge der globalen Finanzkrise, die im Jahr 2008 ihren Anfang nahm, musste die Kommission der Europäischen Union ihre wettbewerbspolitischen Grundsätze  über mehrere  Jahre zurückstecken. Aktuell ist es die Covid-19-Pandemie, die die Mitgliedstaaten zu zahlreichen Subventionsprogrammen veranlasst hat. In „normalen“ Zeiten ist die Eindämmung der Subventionitis vieler Mitgliedstaaten durch die Kommission weitaus effektiver als durch die nationalen Mitgliedstaaten, die sich naturgemäß schwertun, sich selbst Zügel anzulegen und die sich allzu leicht im Gestrüpp nationaler Lobbygruppen verheddern. Die Kommission, die ansonsten nicht überall durch ordnungspolitische Geradlinigkeit glänzt, spielt hier eine ganz zentrale Rolle bei der Aufsicht über ordnungspolitische Verfehlungen der Mitgliedstaaten.

Die vertragliche Grundlage dafür liefert Artikel 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU-V). Danach sind „staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährten Beihilfen gleich welcher Art, die  … den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.“ Das betrifft – abgesehen von den in Absatz 2 und 3 explizit aufgeführten Ausnahmen –  praktisch sämtliche nationale Subventionen. In den Jahren 2020 und 2021  ging die Kommission mit ihrer Subventionskontrolle aber weitgehend auf Tauchstation – zumindest soweit es Subventionsprogramme betraf, die in irgendeinem Zusammenhang mit der Corona-Krise standen.

Man mag sich fragen, ob die Sicherung eines vitalen Wettbewerbs eine Schönwetterveranstaltung ist, auf die in Krisenzeiten verzichtet werden müsse. Eigentlich sollte doch gerade ein funktionsfähiger Wettbewerb dafür sorgen, die Flexibilität aller Marktteilnehmer in ihren Reaktionen auf die Veränderung der relativen Preisstrukturen, die von Covid-19 ohne Zweifel ausgelöst wurden, zu gewährleisten. Mangelnder Wettbewerb führt aller Erfahrung nach nicht nur zu unerwünschten Umverteilungen, sondern auch und gerade zu erstarrten Unternehmensstrukturen mit trägen Anpassungsreaktionen an veränderte Marktbedingungen. Nach wie vor gilt der Satz  von John R. Hicks, nach dem der beste aller Monopolgewinne ein ruhiges Leben ist (John R. Hicks: Annual survey of economic theory: The theory of monopoly, Econometrica, Volume 3, (1), 1935, S. 8).

Doch es kann aus ordnungspolitischer Sicht durchaus argumentiert werden, dass der Staat kompensationspflichtig ist, wenn wirtschaftliche Schieflagen von staatlichen Anordnungen (hier: dem Lockdown) ausgehen, die das betroffene Unternehmen selbst weder beeinflussen kann noch zu verantworten hat. Außerdem könnten in ausgeprägten Krisen Marktstrukturen unwiederbringlich zerstört werden, falls der Staat nicht helfend eingreift. Nach Überwindung der Krise hätte dann zwar der Staat seine ordnungspolitische weiße Weste bewahrt, aber die Wettbewerbsdynamik wäre möglicherweise schwächer als ohne staatliche Kriseninterventionen.

Diese Sicht vertritt in der aktuellen Situation auch die Kommission, indem sie darauf abstellt, ob die von staatlichen Corona-Hilfen begünstigten Unternehmen vor Ausbruch der Pandemie noch überlebensfähig waren, oder  ob die Pandemie das letzte Steinchen war, das ohnehin dem Untergang geweihten Unternehmen den letzten  Stoß versetzt hätte. Das ist zwar im  Einzelfall nicht leicht zu beurteilen, aber die Kommission hat sich diese Leitlinie zur Beurteilung der Corona-Beihilfen auferlegt, die zumindest vom Grundsatz her für die Adressaten der Beihilfenaufsicht (also für die Regierungen der Mitgliedstaaten und die jeweils begünstigten Unternehmen) nachvollziehbar erscheint.

Bereits am 13. März 2020 hatte die Kommission in einer Mitteilung erläutert, welche Beihilfen der Mitgliedstaaten als Reaktion auf die Pandemie auch ohne vorherige Freigabe durch die Kommission nutzen können. Im Anschluss daran erließ die Kommission einen Befristeten Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft, der mehrfach nachjustiert wurde und die ansonsten geltenden Beihilferahmen ergänzt und teilweise auch ersetzt (Europäische Kommission: Befristeter Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft angesichts des derzeitigen Ausbruchs von Covid-19. ABl C 91I vom 20. März. 2020). Dieser Beihilferahmen ist nach wie vor in Kraft.

Unter diesem Regime wurden umfangreiche Beihilfeprogramme zahlreicher Mitgliedstaaten freigegeben, darunter ein 7 Mrd. Euro umfassendes Programm aus Frankreich. In diesem Zusammenhang wurde auch eine Reihe von Beihilfen zur Forschung und Entwicklung Corona-relevanter Produkte freigegeben, unter anderem in Deutschland, wo sowohl die Entwicklung von Impfstoffen als auch die Bereitstellung von medizinischen Hilfsmitteln und Testkapazitäten subventioniert wurden.

Ein Corona-spezifischer Beihilfeschwerpunkt mehrerer Mitgliedstaaten lag im Flugverkehr, der infolge der Pandemie weitgehend zusammengebrochen war.  Dazu erließ die Kommission im Jahr 2020 insgesamt 42 Beschlüsse, mit denen umfangreiche Liquiditätsbeihilfen und Kapitalaufstockungen freigegeben wurden. Die Liste der geförderten Fluggesellschaften ist lang: sie reicht von Air France über Lufthansa, SAS, Austrian Airlines, airBaltic, Blue Air, KLM, Nordica, Alitalia bis zur Brussels Airlines. Daneben wurden Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfen freigegeben, darunter für Corair, die rund 140 Mio. Euro vom französischen Staat erhielt. Die für die portugiesische Fluglinie TAP vorgesehenen Beihilfen wurden dagegen von der Kommission untersagt, da sich dieses Unternehmen bereits vor Ausbruch der Corona-Krise in erheblichen finanziellen Schwierigkeiten befunden hatte. Doch auch TAP ging nicht völlig leer aus, denn ein Rettungsdarlehen der portugiesischen Regierung in Höhe von 1,2 Mrd. Euro wurde von der Kommission nicht beanstandet.

Nach längerem Tauziehen wurden auch die deutschen Beihilfen für die Lufthansa freigegeben. Insgesamt hatte das Rekapitalisierungs-Pogramm ein Volumen von 6 Mrd. Euro; davon entfielen 300 Mio. Euro auf  eine Kapitalbeteiligung durch Zeichnung neuer Aktien durch den Staat. Aus dieser Kapitalbeteiligung hat der deutsche Fiskus vermutlich sogar  einen Gewinn erzielt, wenn die Aktien jetzt zumindest teilweise wieder verkauft werden (Monika Schnitzer: Ist der Staat ein kluger Anleger? Die ZEIT, Nr. 34, 19. August 2021, S. 22). Aber das ändert nichts daran, dass auch dieser Teil des Rettungspakets eine notifizierungspflichtige Beihilfe darstellte. Ohne den Befristeten Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft  wäre dieser Staatseingriff wohl am Veto der EU-Kommission gescheitert.

Von den genehmigten Corona-Beihilfen insgesamt entfielen 52 Prozent auf Deutschland, 15 Prozent auf Italien und 14 Prozent auf Frankreich. Auf Spanien und Polen dagegen entfallen nur 5 Prozent bzw. 2 Prozent. Gemessen daran, in welchem Umfang die Beihilfen tatsächlich ausgezahlt wurden und in Relation dieser Auszahlungen zum jeweiligen Bruttoinlandsprodukt landet Deutschland dagegen eher auf den hinteren Rängen. Hier liegen Spanien, Frankreich, Italien und Griechenland vorne (in dieser Reihenfolge). Für alle 27 Mitgliedstaaten zusammen erreichten die ausgezahlten Corona-Beihilfen ein Niveau von rund 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU (Europäische Kommission: Bericht über die Wettbewerbspolitik 2020, COM(2021) 373 final. Brüssel, 7. Juli 2021).

Ob das beträchtliche Ausmaß all dieser Subventionen tatsächlich notwendig und unabweisbar war, dürfte weder für die Kommission noch für den außenstehenden Betrachter zweifelsfrei zu beurteilen sein.  Die Kommission hatte in Ihrer Beihilfenaufsicht aber sicherlich kaum eine andere  Wahl als großzügig zu sein. Denn zugleich hatten ja die Mitgliedstaaten den mit 750 Mrd. Euro ausgestatteten NextGenerationEU-Fonds aufgelegt. Diese Summe wurde über gemeinsame europäische Anleihen am Kapitalmarkt aufgenommen – ein Novum in der Geschichte der EU, mit dem nach Ansicht mancher Beobachter gegen die Regeln des EU-Vertrags verstoßen wurde, nach der die Kommission keine eigenen Schulden machen darf (Artikel 311 und Artikel 322 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)). Selbst der deutsche Bundesrechnungshof meldet Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit an und pocht darauf, dass dieser Sonderfonds nach dem Ende der Pandemie wieder aufgelöst werden sollte (Bundesrechnungshof: Sonderbericht. EU-Wiederaufbaufonds darf keine Dauereinrichtung werden. Bonn, 11. März 2021).

Wenn sich nun auch noch das Wettbewerbskommissariat der EU-Kommission den Corona-Subventionen in den Weg gestellt hätte, wäre das politisch wohl kaum durchsetzbar gewesen. Denn mit der Errichtung des NextGenerationEU-Fonds hatten die Mehrheit der Kommissionsmitglieder und der Mitgliedstaaten ihre Entschlossenheit dokumentiert, dessen Maßnahmen ohne allzu große Rücksichten auf wettbewerbspolitische Bedenken umzusetzen. Gleichwohl erscheint es ordnungspolitisch als nicht unbedenklich, wie sich die Gemeinschaftliche Wettbewerbspolitik von einer Ausnahmesituation zur nächsten hangelt, weil dadurch ihr ordnungspolitischer Kompass auf Dauer Schaden nehmen könnte. Es bleibt zu hoffen, dass nicht gleich wieder die nächste Krise heranrückt, die es politisch notwendig machen könnte, erneut ganz viele wettbewerbspolitische Augen zuzudrücken.

Henning Klodt

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