Im Jahr 2009 wurde die sogenannte Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge eingeführt. Seitdem werden Zinsen, Dividenden und Veräußerungsgewinne einheitlich mit 25 Prozent (zzgl. Solidaritätszuschlag) besteuert.[1] Zuvor unterlagen Kapitalerträge der Einkommensteuer und wurden somit prinzipiell genauso hoch besteuert wie Arbeitseinkommen. Steuerzahler, deren Steuersatz über 25 % liegt, werden durch die Abgeltungsteuer entlastet. Für Steuerzahler mit einem geringeren Steuersatz besteht ein Veranlagungswahlrecht. Ihre Kapitalerträge werden durch die Abgeltungsteuer somit nicht höher besteuert als ihre Arbeitseinkommen.
Rückblick: Gründe für die Abgeltungsteuer
Der Einführung der Abgeltungsteuer ging eine jahrelange Kontroverse über die angemessene Besteuerung von Kapitalerträgen voraus. Steuersystematische, steuerpraktische, wachstums- und verteilungspolitische Argumente prallten aufeinander.
Steuersystematisch spricht viel für die Gleichbehandlung aller Einkunftsarten („Synthetische Einkommensteuer“). Für die Art der Besteuerung soll es keine Rolle spielen, aus welcher Tätigkeit oder aus welcher Quelle die zu versteuernden Einkommen stammen. Das gesamte Einkommen sollte einheitlich besteuert werden. Das deutsche Einkommensteuerrecht trug diesem Ansatz bis 2008 Rechnung: Kapitaleinkünfte waren mit dem individuellen Steuersatz zu versteuern.
Steuerpraktisch sah die Situation jedoch anders aus. Viele Bürger empfanden die hohe Besteuerung von Kapitalerträgen als unangemessene Doppelbelastung, da die Erträge meist aus bereits versteuerten Einkommen stammen. Da es damals relativ leicht war, Kapitalerträge vor dem Fiskus zu verheimlichen, entzogen sich die Bürger reihenweise dem steuerlichen Zugriff des Staates. Auch diverse Versuche, die Anleger mit einer Quellensteuer in Richtung Steuerehrlichkeit zu bewegen, waren nicht sonderlich erfolgreich. Der Staat befand sich deshalb in einer misslichen Lage: De jure griff er mit der vollen Höhe des Einkommensteuertarifs auf Kapitalerträge zu. Doch de facto nahm er kaum Steuern ein, weil die Bemessungsgrundlage durch die Ausweichreaktionen der Bürger erodiert war. Diese Situation veranlasste den damaligen Bundesfinanzminister Peer Steinbrück bei der Diskussion um eine mögliche Abgeltungsteuer zu der prägnanten Aussage: „25 Prozent Steuern auf einen Betrag X sind besser als 42 Prozent auf gar nix.“ Damit ebnete er der Idee einer Abgeltungsteuer argumentativ den Weg. Mit einem vergleichsweise geringen Steuersatz und einem einfachen Quellenabzug sollten die Akzeptanz bei den Bürgern und das Steueraufkommen erhöht werden.
Steinbrück brachte damit auch Bewegung in die ideologisch verhakte Gerechtigkeitsdebatte. Eine Steuersenkung für Vermögende mit hohen Kapitaleinkünften war von jeher problematisch. Dass der hohe Steuersatz wegen der Ausweichreaktionen für viele vermögende Steuerzahler nur auf dem Papier stand und die Abgeltungsteuer in Höhe von 25 Prozent faktisch für sie eine Steuererhöhung darstellte, relativierte viele bis dahin bestehende Bedenken. Zumal Kursgewinne aufgrund der damals geltenden Spekulationsfristen vollkommen legal vielfach steuerfrei vereinnahmt wurden.
Viele Ökonomen hatten aus anderen Gründen für eine geringere steuerliche Belastung von Kapitalerträgen plädiert. Niedrigere Kapitalertragsteuern bieten Anreize, weniger zu konsumieren und mehr zu sparen. Dadurch sollte das Kapitalangebot steigen, die Zinsen sinken und das Wachstum angekurbelt werden.
In den neunziger und nuller Jahren gab es eine breite finanzwissenschaftliche Debatte darüber, ob nicht der Konsum die bessere Steuerbemessungsgrundlage als das Einkommen sei.[2] In der Diskussion waren unter anderem eine sparbereinigte und eine zinsbereinigte Einkommensteuer. Beide Varianten liefen darauf hinaus, Sparen attraktiver zu machen und damit die Kapitalbildung zu fördern. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre lag der Nominalzins der zehnjährigen Bundesanleihe noch durchgehend deutlich über 5 %. Höhere Kapitalbildung und niedrigere Zinsen waren damals also noch erstrebenswerte, wachstumsfördernde Ziele.
Die Einführung der Abgeltungsteuer konnte mit gesamtwirtschaftlichen Argumenten gut begründet werden. Für die politische Entscheidung war letztlich aber das fiskalisch-pragmatische Argument ausschlaggebend, das Peer Steinbrück mit seiner oben zitierten Aussage auf den Punkt brachte.
Zeiten ändern sich: Folgen für die Abgeltungsteuer
Einige der damaligen Argumente für die Abgeltungsteuer treffen heute nicht mehr zu. Der internationale automatische Informationsaustausch ermöglicht eine nahezu lückenlose Kontrolle der Kapitalerträge. Steuerumgehung ist so kaum noch möglich. Die Erosion der Bemessungsgrundlage ist gestoppt.
Auch das ökonomische Argument der Anreize für Kapitalbildung greift aktuell nicht mehr. Das Nullzinsumfeld ist eine Folge der hohen Ersparnisse. Hinzu kommt die Bereitschaft der Zentralbanken, großzügig Liquidität bereitzustellen und die Zinsen auf diesem außergewöhnlichen Niveau festzuzurren. Aktuell werden also keine steuerlichen Anreize mehr benötigt. Besser kann das Zinsumfeld für Investitionen und damit für das Wirtschaftswachstum nicht werden.
Die Abgeltungsteuer steht deshalb seit einigen Jahren unter Druck. CDU/CSU und SPD haben in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, die Abgeltungsteuer auf Zinseinkünfte wieder abzuschaffen – bisher ohne Ergebnis.
Tatsächlich gibt es immer noch gute Gründe für ihren Erhalt.[3] Das wichtigste Argument ist die Steuervereinfachung. Der Wegfall weiterer Steuererklärungspflichten vereinfacht das Prozedere sowohl für die Bürger als auch für die Finanzverwaltung. Eine Rückkehr zum alten System würde auch bedeuten, u.a. Werbungskostenabzüge wieder einzuführen und das komplexe Anrechnungsverfahren, um eine Doppelbelastung zu vermeiden. Insgesamt würden Steuerzahler, Finanzverwaltung und Kreditwirtschaft mit erheblichen administrativen Kosten konfrontiert.
Auch wenn der automatische Informationsaustausch die Kapitalflucht eingedämmt und die Steuerehrlichkeit erhöht hat, bedeutet der reduzierte Abgeltungssatz keine Ungerechtigkeit. Hinsichtlich Dividenden wird oft vergessen, dass die Gewinne bereits auf Unternehmensebene durch Körperschaft- und Gewerbesteuer vorbelastet sind, bevor beim Anteilseigner die Abgeltungsteuer von 25 % erhoben wird. Insgesamt kann die Steuerbelastung damit höher sein, als wenn Kapitaleinkünfte dem persönlichen Steuersatz unterliegen.
Da es aktuell praktisch keine Zinsen auf Erspartes gibt, ist die Abgeltungsteuer in diesem Bereich derzeit kein wichtiges Thema. Doch mit den steigenden Inflationsraten dürften auch die Zinsen steigen. Damit erhöht sich die Gefahr einer Scheingewinnbesteuerung. Wenn beispielsweise ein Nominalzins von 2 % nur die Inflation in Höhe von 2 % ausgleicht, liegt der Realzins bei 0 %. Versteuert werden muss aber der Nominalzins von 2 %, obwohl die steuerliche Leistungsfähigkeit nicht gestiegen ist. Schon mit der Abgeltungsteuer werden hier Scheingewinne belastet. Eine Rückkehr zur vollständigen Belastung mit dem individuellen Einkommensteuersatz würde das Problem sogar verschärfen. Um derart unangemessene Belastungen künftig zu vermeiden, sollte die Politik über einen höheren Steuerpauschbetrag nachdenken.
Wirtschaftsverbände – darunter auch der Bankenverband – sprechen sich für den Fortbestand der Abgeltungsteuer aus. Auch der Sachverständigenrat hat sich immer wieder für ihren Fortbestand eingesetzt, weil die Vorteile immer noch die Nachteile überwiegen.
Ausblick: Was wollen die Parteien?
Kurz vor der Bundestagswahl stellt sich nun erneut die Frage, wie es nach der Wahl mit der Abgeltungsteuer weitergeht. Der Blick in die Wahlprogramme ergibt kein einheitliches Bild. Von den Parteien, die realistischerweise für eine Koalitionsbildung infrage kommen, sprechen sich lediglich die Grünen und Die Linke für ein Ende der Abgeltungsteuer aus. Kapitalerträge sollen ihrer Meinung nach künftig wieder genauso hoch wie Arbeitseinkommen besteuert werden.
Die CDU/CSU, die SPD und die FDP erwähnen die Abgeltungsteuer in ihren Wahlprogrammen nicht ausdrücklich. Allerdings hat sich die FDP an anderer Stelle klar für ihren Erhalt positioniert: Mit einem Antrag ihrer Bundestagsfraktion hat sich die FDP im März 2021 deutlich für die Abgeltungsteuer ausgesprochen.[4] Bei den Unionsparteien und der SPD muss man schon wegen des aktuellen Koalitionsvertrags davon ausgehen, dass sie tendenziell für ein Ende der Abgeltungsteuer sind. Bei der CDU/CSU würde ein Ende der Abgeltungsteuer gleichwohl nicht zu ihrer generellen steuerpolitischen Ausrichtung – nämlich einem einfachen Steuersystem – passen.
Damit ist lediglich klar, dass eine rot-rot-grüne Regierungskoalition für ein Ende der Abgeltungsteuer stände. Bei allen anderen denkbaren Koalitionen wäre die Lage weniger eindeutig. Insbesondere in Koalitionen, an denen die FDP beteiligt wäre, dürfte die Abgeltungsteuer gute Überlebenschancen haben.
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[1] Es gilt ein Sparer-Pauschbetrag von 801 Euro, bei zusammen veranlagten Personen verdoppelt sich der Betrag auf 1.602 Euro.
[2] Einen guten Überblick gibt Boss, Alfred (2011), Steuerpolitik für Deutschland: Ein Reformvorschlag und Schritte zu seiner Verwirklichung, Kiel Working Papers 1707/2011.
[3] Einen guten Überblick findet sich bei Die Deutsche Kreditwirtschaft (2021), Abgeltungsteuer für alle Kapitalerträge beibehalten.
[4] Deutscher Bundestag (2021), Drucksache 19/27820.
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