Wieviel Staat für die Schweiz?

Wie gross ist der staatliche Fussabdruck in der Schweiz? Ökonomen beantworten diese Frage, indem sie die Staatsquote betrachten – das heisst die staatlichen Ausgaben im Verhältnis zum erwirtschafteten Sozialprodukt. In der Schweiz beträgt diese mittlerweile über 36% – 2017 waren es noch 32%. Nimmt man die obligatorische Krankenversicherung und die Beiträge für die berufliche Vorsorge hinzu, landet man bei rund 45 Prozent. Eine stolze Zahl.

Die EU ist im Durchschnitt bei über 50% angekommen. Über die Hälfte der gesamten Wirtschaftsleistung läuft über den staatlichen Haushalt und muss über Steuern und die Kreditaufnahme finanziert werden.

50 Prozent und mehr sind im historischen Vergleich enorm hoch. Damit stellt sich die Frage nach dem Sinn des Staats und seiner Politik. Denn Politik sollte mehr sein als ein Spiel von Macht und Interessen. Politik bedarf der ordnungspolitischen Grundlage – schliesslich ist der Staat für die Bürger da, und nicht die Bürger für den Staat.

Es ist das Verdienst von Richard A. Musgrave, die Kernaufgaben des Staats bereits 1959 in seinem einflussreichen Buch «Theory of Public Finance» definiert und kategorisiert zu haben. Er hält sich an einen Dreiklang: Der Staat hat die Funktionen von Allokation (Markteffizienz), Distribution (Einkommensverteilung) und Stabilisierung der Konjunktur. Ich möchte hier vor allem auf den ersten Punkt fokussieren, der gerade besonders en vogue ist.

Musgrave’s Konzept ist breiter gefasst als der klassische Marktschutz und die Bereitstellung öffentlicher Güter. Der deutschamerikanische Ökonom entwickelt dazu das Konzept der meritorischen Güter. Dabei handelt es sich um Eingriffe des Staats, die trotz funktionierenden Märkten vorgenommen werden. Die private Nachfrage hinkt quasi der öffentlich gewünschten nach, weshalb der Staat aktiv werden sollte.

Das Konzept ist analytisch unscharf und zog daher zu recht Kritik auf sich. Nichtsdestotrotz erlebte diese Rechtfertigungstheorie mit dem Aufkommen der Verhaltensökonomie eine Renaissance. Der geforderte Instrumentenkasten von staatlichen Möglichkeiten zur Überwindung psychologischer Widerstände scheint unbegrenzt. Sie werden «Nudges» genannt mit Idee, dass der Zwang, das Verbot, die Regulierung oder die Lenkungssteuer gelegentlich weniger geeignet seien als ein kleiner Schubs in die richtige Richtung. So können die sozialen Ingenieure alleine durch die strategische Positionierung der Salatbar in der Kantine die Menschen zur gesünderen Ernährung animieren oder alleine durch Veränderung der Standardoption den Mix im Energieverbrauch in Richtung nachhaltiger Ressourcen beeinflussen.

Freilich ist auch diese moderne Variante meritorischer Eingriffe des Staats analytisch unscharf und paternalistisch. Wer wollte schon die Verantwortung dafür übernehmen, dass uns der Staat tatsächlich in die richtige Richtung schubst? Woran erkennen wir echte Umbrüche von blossen Modeströmungen? Zeichnet sich eine offene Gesellschaft nicht gerade auch dadurch aus, dass wir die Freiheit haben zu scheitern und uns nicht anmassen zu wissen, was die Zukunft erfordert? Ist nicht der Prozess aus Versuch und Irrtum die Quelle aller Innovationen ökonomischer, politischer und kultureller Art? Wäre es nicht so und wüsste der Staat alles schon im Voraus, dann bräuchte es in der Tat keine Politik und Diskussion mehr – dann könnte ein Waisenrat alles entscheiden. Und dann wäre eine Demokratie nicht mehr von einer Technokratie zu unterscheiden.

Erschwerend kommt hinzu, dass staatliche Funktionen nicht in jedem Fall zwingende Voraussetzung für die Bereitstellung gesellschaftlicher Leistungen sind. Das wird bereits aus Ernst-Wolfang Böckenfördes Diktum von 1976 klar. Der ehemalige deutsche Bundesverfassungsrichter formulierte pointiert: «Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.» Nämlich von «der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft» – und die kann er nur um den Preis erzwingen, in einen «Totalitätsanspruch» zurückzufallen, den er gerade überwinden will.

Während es bei Böckenförde um das Sozialkapital geht, auf das sich der Staat stützen muss, haben andere Autoren gezeigt, dass dieses Sozialkapital auch staatliche Strukturen dort ersetzen kann, wo man Marktversagen direkt vermuten müsste. Die Forschung von Elinor Ostrom, Nobelpreisträgerin 2009 in Ökonomie, hat dazu Bahnbrechendes beigetragen: Mitunter durch die Analyse der gemeinschaftlich genutzten Alpweiden in der Walliser Gemeinde Törbel kam sie zu dem Ergebnis, dass für eine nachhaltige Bewirtschaftung lokaler Allmende eine staatliche Kontrolle weder notwendig noch sinnvoll sei. Die institutionalisierte Selbstorganisation der direkten Nutzniesser in lokalen Kooperationen übernimmt in diesen Fällen pragmatisch und effizient staatliche Funktionen.

Wenn dies alles stimmt, dann stellt sich umso drängender die Frage, warum sich der Staat dessen ungeachtet unaufhörlich ausdehnt.

Im Wesentlichen liegt die Kluft zwischen den normativen Theorien zu den Staatsaufgaben nach Musgrave und deren schlechter prognostischer Qualität daran, dass bisher wesentliche Aspekte unberücksichtigt blieben. Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Politische Ökonomie. Die einschlägige Literatur kommt zum Ergebnis, dass neben dem Marktversagen als Grund für staatliches Engagement auch Staatsversagen zu analysieren wäre.

Zu nennen ist hier vor allem die «Tragik der öffentlichen Allmende». Das Problem der fiskalischen Allmende tritt immer dann auf, wenn der Nutzen aus dem staatlichen Haushalt auf bestimmte Gruppen von Wählern konzentriert ist, die Finanzierungskosten jedoch über allgemeine Steuern auf die Bevölkerung breit verteilt werden. Es entsteht also eine Asymmetrie zwischen Ausgaben- und Einnahmenverantwortung, wobei starke Anreize bestehen, eigene Projekte durch andere mitfinanzieren zu lassen. In der Summe werden mehr staatliche Leistungen nachgefragt als es der Zahlungsbereitschaft der Bürger entspricht. Die Staatsausgaben sind übermässig hoch. Und die Staatsverschuldung erlaubt es, die Finanzierung solcher Ausgaben fast beliebig breit zu streuen, nämlich auch auf zukünftige Steuerzahler auszudehnen.

Wegweisendes zur Frage der sinnvollen gesellschaftlichen Entscheidungssysteme und damit zu den staatlichen Institutionen haben Buchanan und Tullock (1962) in Ihrem Werk «The Calculus of Consent» verfasst. Will man die «Tragik der öffentlichen Allmende» im Staat beschränken und gleichzeitig endlose Aushandlungsprozesse ohne direkte Verantwortlichkeiten verhindern, drängt sich ein zweistufiges Vorgehen auf. Über die grundsätzlichen Fragen des Rechtsstaats sollte möglichst einstimmig in der Gesellschaft entschieden werden. Das heisst, bei solchen Fragen darf es keine nennenswerte Minderheit geben, die übervorteilt wird. Diese Aushandlungsprozesse sind notwendigerweise langwierig, weil eine Einigung mit vielen unterschiedlichen Interessen herbeigeführt werden muss.

Wenn es sich um leistungsstaatliche Vorlagen der Tagespolitik handelt, ist der breite Konsens jedoch wenig geeignet. Hier genügt die einfache Mehrheit oder eine Delegation an gewählte Volksvertreter oder gar Verwaltungsexperten. Da der Leistungsstaat immer auf einer rechtsstaatlichen Bestimmung und damit einer breiten demokratischen Legitimation fusst, kann davon ausgegangen werden, dass mit diesem zweistufigen Verfahren das Risiko der Übervorteilung von Minderheiten gering ist.

Was heisst das konkret? Grundsätzliche Fragen der Verfassung, wie die mittelfristig ausgeglichene Finanzierung des Haushalts – also die nachhaltige Nutzung der öffentlichen Allmende – sollten möglichst einstimmig entschieden werden. Es ist wichtig, dass die Ausdehnung des Staats nicht auf der institutionellen Basis der Übervorteilung einer Minderheit durch eine einfache Mehrheit fusst. Das würde langfristig die Identifikation mit dem Staat und das Vertrauen in den Staat untergraben.

Wenn es aber um die Frage der Verwendung der öffentlichen Mittel im Rahmen eines mittelfristig ausgeglichenen Haushalts geht, genügen einfache Mehrheiten. Es setzen sich dann jene Projekte schnell und pragmatisch durch, die im Stimmentausch die erfolgreichste Koalition bilden konnten. Dies alles führt aber nicht zur «Tragik der öffentlichen Allmende».

Wo die Grenze der Staatsgewalt sein soll und wo der individuelle Freiheitsbereich beginnt, ist in einer offenen Gesellschaft selbstverständlich dauernder Verhandlung unterworfen. Entscheidend ist allerdings der breite demokratische Konsens in der konkreten Sachfrage. Das Erfordernis der «Einheit der Materie» ist daher wichtig. Es beschränkt Staatsversagen und die vertrauenszersetzende Kraft von Zufallsentscheiden über den politischen Stimmentausch zu Lasten übervorteilter Minderheiten in einer direkten Demokratie. Werden solche rechtsstaatlichen Prinzipien der Tagespolitik geopfert, führt dies nicht nur zu einem ständig steigenden Staat – sondern parallel auch zur Unzufriedenheit der Bürger mit ihrem Staat.

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