Gastbeitrag
Warum ist die Besetzung des Finanzministeriums so wichtig?

Wird künftig ein Vertreter der Gruppe der Makroökonomen oder der Mikroökonomen über Deutschlands Finanzen wachen? Was diese Entscheidung so bedeutungsschwer macht – und was die wichtigsten Herausforderungen sein werden.

Die Koalitionsverhandlungen dauern an, und kaum etwas dringt in die Öffentlichkeit. Das ist einerseits gut, weil es zeigt, dass die Verhandlungsführer diszipliniert und hoffentlich vertrauensvoll miteinander arbeiten. Zur Erinnerung: In den Verhandlungen zur Jamaika-Koalition wurden die Ergebnisse des jeweiligen Vortages von einigen gar nicht direkt beteiligten Politikern am nächsten Morgen genussvoll zerpflückt. Das vernichtete Vertrauen. Andererseits deuten die Dauer der Verhandlungen und die Verschwiegenheit auch auf viele noch ungeklärte Fragen hin.

Darunter befindet sich sicherlich die nach der zukünftigen Ausrichtung der Finanzpolitik. Hier scheinen sich zwei recht unversöhnliche Lager gegenüberzustehen, die je nach Sichtweise als progressiv gegen konservativ, modern gegen altbacken, austeritätsgläubig oder verschwenderisch gegen verantwortungsvoll angesehen werden könnten. Wenn man nicht auf eine ideologische Positionierung setzen möchte, könnte man sie auch als die „Makroökonomen“ auf der einen Seite und die „Mikroökonomen“ auf der anderen bezeichnen kann. Dieser Lesart wird hier gefolgt, weil man davon ausgehen muss, dass beide Gruppen glauben, dass sie jeweils das Beste für den Standort und die Menschen in Deutschland vorhaben. Niemand will verschwenden, keiner will bewusst altbacken sein – also sind moralisierende Zuspitzungen unnötig.

Die Makroökonomen sind dabei diejenigen, die in Aggregaten denken und glauben, man könne Wachstum durch staatliche Mehrausgaben sozusagen erzwingen. Sie argumentieren mit den enormen Herausforderungen und dem niedrigen Zins und erklären, dass es fahrlässig wäre, den niedrigen Zins nicht zu einer Investitionsoffensive zu nutzen. Gleichzeitig sehen sie nur wenig Probleme, wenn die Finanzierung dieser Investitionen durch eine Verschuldung bei der Europäischen Zentralbank (EZB) erfolgt. Es geht ihnen darum, die Nachfrage so zu stärken, dass Wachstumsprozesse initiiert werden. Manche gehen noch einen Schritt weiter und fordern, dass diese Verschuldung in der Europäischen Union (EU) gemeinschaftlich vorgenommen werden sollte. Diese Gruppe traut dem Staat offenbar zu, Güter und Dienste zum Teil besser produzieren zu können und mehr über die Präferenzen der Kunden zu wissen als die Unternehmen und Konsumenten selbst.

Demgegenüber stehen die Mikroökonomen, die die Antwort auf die gegenwärtigen Herausforderungen weniger in der massiven Staatsverschuldung und staatlichen Investitionsoffensiven sehen, sondern vielmehr darin, dass der Staat die Voraussetzungen dafür schafft, dass private Akteure investieren. Sie setzen auf Strukturreformen bei nachhaltigen Staatsfinanzen, ohne deshalb den Staat als irrelevant oder staatliche Ausgaben als unangemessen zu beurteilen. Sie sehen es als richtig an, die Arbeitsteilung zwischen Staat und Wirtschaft klar zu definieren: hier der Staat als Regelsetzer und -durchsetzer und Bereitsteller von Infrastruktur aller Art; dort die Unternehmen als Produzenten von Gütern und Diensten innerhalb des Regelrahmens. Es geht also um die Angebotsbedingungen. Kompetenz und Haftung gehören demnach in eine Hand, weswegen man in dieser Gruppe auch einer Vergemeinschaftung europäischer Staatsschulden sehr skeptisch gegenübersteht.

Die Frage danach, wer nun die besseren Argumente hat, lässt sich am einfachsten empirisch klären. Die Geschichte lehrt, dass es für das Wachstum, die Beschäftigung und die Bewältigung des Strukturwandels immer besser ist, auf eine klare Arbeitsteilung zwischen Markt und Staat und langfristig solide Staatsfinanzen zu setzen. Wenn die Angebotsbedingungen stimmen wird privat investiert und Beschäftigung steigt. Die Jahre nach 2003 (dem Jahr der Agenda 2010 durch den bisher letzten deutschen Wirtschaftspolitiker Gerhard Schröder) zeigen dies in Deutschland recht klar; aus dem kranken Mann Europas wurde eine Lokomotive. Zusätzlich hat es die haushaltspolitische Vorsicht der letzten Jahre erst ermöglicht, die Covid-19-Krise beherzt anzugehen.

Das Bild wird noch klarer, wenn man sich die Ausgabenseite der öffentlichen Hand genauer ansieht. Denn leider hat es die Bundesregierung über viele Jahre versäumt, bei Rekordausgaben auch tatsächlich öffentliche Investitionen zu steigern, weswegen wir heute über den Investitionsstau zu Recht klagen. Stattdessen gab es ein Wahlgeschenk nach dem anderen; besonders herauszuheben ist die Rente mit 63, die den Fachkräftemangel in der Wirtschaft massiv verschärft (aber immerhin als Nachfrageprogramm für die Kreuzfahrtanbieter gewirkt!) haben dürfte. Hinzukommen noch Subventionen für schwächelnde Unternehmen in dreistelliger Milliardenhöhe, darunter laut Bundesumweltamt über 65 Milliarden Euro in 2018 für klimaschädliche Aktivitäten.

Dies wirft die Frage auf, warum die Bundesregierung mit noch mehr öffentlichen Ausgaben nun alles besser machen sollte. Es wird wieder eine Wahl geben, und die Wahlprogramme der Ampel-Verhandler sind nicht frei von Versprechen an ihre jeweilige Klientel. Im Gegenteil, angesichts der niedrigen Zinsen dürfte der Anreiz, weiterhin öffentliches Geld für unproduktive Zwecke auszugeben, sehr hoch sein. Dies gilt umso mehr auch dann, wenn ein Teil dieser Ausgaben in den Parlamenten Europas, jedoch nicht im Bundestag beschlossen, aber hierzulande aufgebracht werden muss.

Was hat das alles mit dem Finanzministerium zu tun? Die Besetzung der Leitung des Finanzministeriums entscheidet darüber, ob ein Vertreter der Gruppe der „Makroökonomen“ oder der „Mikroökonomen“ über die Finanzen wacht. Gerade um die vielen Herausforderungen zu meistern, muss sehr überlegt und vorsichtig mit öffentlichen Finanzen umgegangen werden. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Zinsen in Kürze steigen müssen, auch wenn die EZB nach wie vor so tut, als sei Inflation kein Thema. Steigen die Zinsen, wird der fiskalische Spielraum der öffentlichen Hand umso stärker eingeschränkt, je stärker sie verschuldet ist.

Eine vorsichtiger Finanzminister erzwingt darüber hinaus, dass die anderen Ressorts sich viel stärker mit den Wirkungen ihrer Politik auf die Unternehmen und Beschäftigten befassen müssen, als wenn sie mit schnell ausgereichten Subventionen ihre angebotspolitischen Versäumnisse ausgleichen können. Da das Bundeswirtschaftsministerium schon seit Jahren in der Bedeutungslosigkeit dämmert und eine Änderung dieses Zustandes nicht zu erwarten ist, spielt der künftige Bundesfinanzminister eine tragende Rolle (im Moment gibt es mit Robert Habeck und Christian Lindner nur zwei männliche Kandidaten). Gerade angesichts der dringend benötigten Investitionen muss es ein dringendes Anliegen der kommenden Bundesregierung die Ausgabenstruktur zu verändern: weg von Subventionen zum Erhalt klimaschädlicher und unproduktiver Strukturen und weg von Sozialausgaben für ohnehin gutgestellt Rentner und hin zu Ausgaben für die Zukunft. Dies wären Infrastruktur, Bildung und Klimaschutz. Dafür braucht es einen Finanzminister, der „mikroökonomisch“ denkt oder denken lässt!

Hinweis: Der Beitrag erschien am 5. November 2021 in der Online-Ausgabe der Wirtschaftswoche.

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