Sind Sie heute mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren? Ist Ihre Heizung nicht zu warm eingestellt? Essen Sie noch Fleisch? Ob Fleisch oder nicht, sind ihre Nahrungsmittel nachhaltig? Achten Sie darauf, dass sie aus Ihrer Region sind? Aus welchem Holz aus welchem Teil der Erde sind Ihre Möbel? Muss es im kommenden Sommer wirklich eine Flugreise sein? Oder sind sie kürzlich gar innerdeutsch geflogen? Ist ihre Kleidung um die ganze Welt gereist, bevor sie in Ihrem Schrank landete? Überhaupt: Denken Sie in Ihrer Lebensplanung stets die Nachhaltigkeit mit? Haben Sie je Ihren persönlichen CO2-Abdruck ermittelt?
Hinter solchen Fragen steht das vielleicht gravierendste Problem dieses Jahrhunderts. Es scheint naheliegend, dass man es dadurch und vielleicht nur dadurch lösen kann, dass sich jeder ernsthaft an die eigene Nase fasst und bei allem, was er tut, die Konsequenzen für das Klima bedenkt. Dieser Eindruck drängt sich schon deshalb auf, weil er arithmetisch bestens fundiert ist: Auf der Erde leben inzwischen bald acht Milliarden Menschen. Wenn jeder Einzelne davon nur so viel CO2-Emissionen verursacht, wie es – multipliziert mit acht Milliarden – mit dem 1,5-Grad-Ziel vereinbar ist, dann würde das Ziel schon rein rechnerisch erreicht.
Folgerichtig werden wir auf allen medialen Kanälen überhäuft mit gutgemeinten Ratschlägen, die uns erklären, wie wir unsere Ernährungs-, Wohn-, Arbeits- und Reisegewohnheiten und was sonst noch nachhaltig und klimafreundlich gestalten können. Auch werden uns regelmäßig Vorbilder von Menschen präsentiert, welche sich offenbar klimapolitisch vorbildlich verhalten und welche es sich zum Beispiel zum Ziel für den Rest ihres Lebens gemacht haben, diese Welt einmal nach einem CO2-neutralen Leben zu verlassen.
Dagegen ist bis zu einem noch zu besprechenden Grad nichts einzuwenden. Dennoch wird nichts davon das Klimaproblem lösen. Zwar ist die Arithmetik der acht Milliarden Menschen nicht zu bestreiten. Aber sie greift bei weitem zu kurz. Das liegt unter anderem daran, dass auf der Ebene eines individuellen Menschen die Konsequenzen des eigenen Handelns für das weltweite CO2-Problem in seiner Vielschichtigkeit gar nicht bemessen werden kann, weil das Handeln von acht Milliarden Menschen in viel zu komplexer Weise ineinandergreift.
Ein Beispiel: Ein mit einem Elektromotor ausgestattetes Lastenfahrrad wird derzeit unter anderem zu 18,2 Prozent mit Braunkohle und zu 8,1 Prozent mit Steinkohle sowie zu 12,2 Prozent mit Erdgas betrieben, zusammen mit einigen weiteren also zu rund 40 Prozent mit fossilen Brennstoffen sowie zu 12,8 Prozent mit Kernenergie (s. Abbildung 1).
Das spricht natürlich nicht gegen ein Lastenfahrrad. Der Punkt ist ein anderer. Angenommen, die Besitzer des Lastenfahrrads wollten sicherstellen, dass ihr Fahrrad allein mit erneuerbaren Energien betrieben wird. Auf der individuellen Ebene ist das kein Problem, denn viele Stromerzeuger bieten 100 Prozent Ökostrom an. Welchen Effekt hat es also auf die CO2-Emissionen, wenn die Besitzer des Lastenfahrrads ihren Strom allein aus erneuerbaren Energien beziehen? Die Antwort lautet: gar keinen. Nicht einen kleinen, weil es sich nur um ein unbedeutendes Lastenfahrrad handelt, sondern überhaupt keinen. Genau null.
Wie ist das möglich? Der Anteil der erneuerbaren Energien ist zu jedem Zeitpunkt fix. Zuletzt lag er in Deutschland bei 47,9 Prozent. Wenn unter diesen Bedingungen ein klimabewusster Verbraucher seinen Strom künftig aus erneuerbaren Energien bezieht, wird der Anteil fossiler Energieträger bei anderen in exakt demselben Maße ansteigen, in dem er bei dem Klimabewussten gesunken ist.
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Aber führt die zunehmende Ökostromnachfrage unserer Lastenfahrradbesitzer nicht zu einem steigenden Angebot an Ökostrom am gesamten Energiemix? Auch das nicht, und das liegt an dem zugrundeliegenden Mechanismus des CO2-Problems. Den nennen Ökonomen einen externen Effekt, weil die Verbrennung eines fossilen Brennstoffs CO2-Ablagerungen verursacht, deren Kosten nur zu einem verschwindend kleinen Teil auf den jeweiligen Verursacher zurückfallen, also „externalisiert“ werden. Angenommen, ein Teil der Bevölkerung – nennen wir sie die „Klimasensiblen“ – „internalisiert“ den externen Effekt moralisch durch Kauf erneuerbarer Energieträger, und zwar auch dann, wenn das mit steigenden Energiekosten für sie persönlich verbunden ist. Nehmen wir realistischer Weise aber an, dass es auch einen anderen Teil der Bevölkerung gibt – nennen wir diese Menschen die „Preissensiblen“ –, welche aus welchen Gründen auch immer vor allem am niedrigsten Preis interessiert sind.
Wenn dann die Zusatznachfrage der Klimasensiblen nach Ökostrom dessen Preis tendenziell ansteigen lässt, dann würde das normalerweise einen Investitionsanreiz in Ökostromkapazitäten auslösen. Wenn es nun aber auch noch einen hinreichend großen Anteil an Preissensiblen gibt, dann verpufft der Investitionsanreiz, weil jede noch so kleine Preissteigerung beim Ökostrom die Preissensiblen in einen verstärkten Bezug fossiler Energieträger treibt. Durch diese Ausweichreaktion wird der für einen Investitionsanreiz notwendige Preisanstieg beim Ökostrom bereits im Ansatz vernichtet.
Das ist ein Teil der Logik des zugrundeliegenden Problems und unterscheidet die Investitionsanreize in einem „normalen“ Markt von einem, auf dem es solche externen Effekte gibt. Der dem Klimaproblem zugrundliegende externe Effekt kommt trotz der „moralischen Internalisierung“ seitens der Ökostromnachfrager durch die Hintertür wieder zurück ins Geschehen, und das vernichtet jeden Anreiz zum Ausbau des Ökostromanteils, solange es noch hinreichend viele preissensible Energienachfrager gibt[1] – was realistisch ist, und was nebenbei bemerkt auch deren Recht ist, solange die Energieerzeugung mit fossilen Trägern nicht verboten wurde. Als einziger Effekt des Ökostromumstiegs verbleibt den Klimasensiblen unter diesen Bedingungen nur noch das schöne Gefühl eines guten Gewissens. Aber das zugrundeliegende Problem wird durch ihre moralische Vorbildlichkeit nicht gemindert, und das ist der Punkt, auf den es hier ankommt.
Daraus folgt freilich weder, dass man nichts ändern kann, noch, dass man nichts ändern muss. Es geht vielmehr um die Frage, wie man etwas ändern kann. Will man das, ist zunächst nur eines klar: Man muss den Anteil CO2-neutraler Stromerzeugung auf gesamtwirtschaftlicher Ebene erhöhen und nicht allein auf der Ebene der klimasensiblen Ökostromnachfrager. Das geht aber nur mit Hilfe staatlicher Eingriffe und deren weltweiter Koordination. Die Individualmoral versagt hier. Denn die aus ihr folgende und immer lückenhafte individuelle Umstellung auf Ökostrom erzeugt bei den Umsteigern nur eine klimapolitisch nutzlose Illusion und vielleicht auch das Gefühl moralischer Überlegenheit, nach dem Motto: Wenn nur alle so handeln würden wie ich, wäre die Welt besser. Gleichwohl oder vielleicht gerade deshalb setzen viele Firmen und Stadtwerken inzwischen die schöne Illusion als wirksames Marketinginstrument ein; und natürlich hat es auch die Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands nicht versäumt, medienwirksam den Umstieg auf Ökostrom zu verkünden.
Das sei ihnen auch alles gegönnt. Aber vernünftigerweise muss es uns immer darum gehen, das Problem effektiv lösen und nicht darum, sich den Platz unter den Wahren und Guten zu sichern. Eine hierzu wichtige Einsicht lautet, dass das Klimaproblem an die Politik adressiert gehört und nicht dadurch zu lösen ist, dass rund um den Globus jeder der knapp acht Milliarden Menschen bei jeder persönlichen Entscheidung glaubt, ausrechnen zu können, ob diese Entscheidung klimapolitisch sinnvoll ist. Das funktioniert nämlich nicht, und es scheitert wie gesagt allein schon daran, dass ein zu großer Teil der Weltbevölkerung das einfach nicht tun wird.
Unabhängig von ihrer jeweiligen Effektivität gibt es also zwei grundlegende klimapolitische Ansätze: Nach dem ersten Ansatz folgt das klimafreundliche Verhalten aus der Absicht jedes Einzelnen, seinen persönlichen Beitrag zur Lösung des Problems zu leisten – bei solchen, die diese Absicht nicht haben, muss es dann ein individualmoralischer Druck tun. Nach dem zweiten Ansatz ist das Verhalten der Menschen nur im Ergebnis klimafreundlich, weil es nicht aus deren Individualmoral folgt, sondern aus deren – im Zweifel durchaus eigennützig motivierter – Anpassung an klimapolitische Rahmenbedingungen, welche die Politik setzen muss. Hier denkt man an Steuern, Emissionszertifikate und natürlich an bestimmte Ge- und Verbote. Der erste Ansatz wird spontan als der aufrichtigere erscheinen. Der zweite wird vielen dagegen schon allein deshalb verdächtig erscheinen, weil er an das Bild von der „unsichtbaren Hand“ von Adam Smith erinnert. Nach diesem Bild ist es bekanntlich nicht die Absicht des Bäckers,[2] uns Verbraucher mit Lebensmitteln zu versorgen, wohl aber das Ergebnis.
Warum dieses Bild auch nach über 200 Jahren noch immer so kontrovers ist, hängt vermutlich weniger mit sachlichen Problemen als vielmehr damit zusammen, dass es tief verwurzelten moralischen Gefühlen zuwiderläuft. Etwas überspitzt könnte man formulieren: Wenn es nicht in der handlungsleitenden Absicht des Bäckers liegt, mich mit Brot zu versorgen, dann soll er es lieber gleich bleibenlassen. In der Praxis des Lebens gilt das freilich nicht, wohl aber in ethischen Diskursen. Denn dort will man sich bei Adam Smith‘ Bäcker ebenso wie bei unseren klimarelevanten Alltagsentscheidungen ungern am Ergebnis orientieren, sondern hält es für unabdingbar, das gute Verhalten, geleitet von der guten Moral eines jeden Einzelnen, an den Anfang zu stellen.
Moralphilosophisch betrachtet liegt das an einer verbreiteten und meist tiefgründigen Abneigung gegen den ethischen Konsequentialismus, welcher die Güte einer Handlung unabhängig von den Absichten der Handelnden allein daran bemisst, welche Konsequenzen sie unter Berücksichtigung aller systemischen Wechselwirkung – zum Beispiel auf das Klima – hat. Die bekannteste Variante des Konsequentialismus ist der Utilitarismus, und mit dem kann man mit großer Zuverlässigkeit die große Mehrheit der deutschsprachigen Ethiker auf die Palme bringen.
Wie kommt das? Bei aller philosophischen Tiefe ethischer Diskurse dürfte es am Ende an einem grundlegenden Gefühl liegen, das den evolutionsbiologischen Wurzeln unseres Gehirns entspringt und sich nur arg widerwillig verdrängen lässt. Dieses Gefühl signalisiert uns mit Macht die Überlegenheit individualmoralischer Steuerungsprozesse auf allen Ebenen menschlicher Interaktion, und das lässt sich zwar nicht rational begründen, in seinen Ursachen aber verstehen: Die moderne Massengesellschaft ist evolutionsbiologisch gesehen eine ziemlich neue Erscheinung. Viele zehntausend Jahre und mehr haben unsere Vorfahren in überschaubaren Verbünden von Individuen gelebt, die sich im Wesentlichen untereinander kannten und die dazu verdammt waren, eng miteinander zu kooperieren. Und dort – ebenso wie bis heute in Familien, Freundeskreisen, kleinen Firmen, Vereinen und so weiter – ist die Individualmoral der überlegene Steuerungsmechanismus. In den Stammesgefügen unserer Vorfahren gab es daher genau definierte, damit aber auch sehr enge Verhaltensregeln, die zu brechen von schlechter Moral und oft auch von fehlender Gottesfürchtigkeit zeugte und bis in die Neuzeit hinein drakonisch bestraft wurde.
Aber so zuverlässig der individualmoralische Steuerungsmechanismus mit oder ohne drastischer Strafandrohung in der Stammesgesellschaft auch war, so hat er im Rahmen der Koordination des Verhaltens in der anonymen Massengesellschaft zwei gravierende Nachteile: Erstens ist er tendenziell intolerant und illiberal; und zweitens verliert er genau dann seine Funktionsfähigkeit, wenn sich eine Massengesellschaft zu einer liberalen Massengesellschaft entwickelt.
Nur, damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Erstens gilt das nur im Zusammenhang mit der Massengesellschaft, während Individualmoral innerhalb von Kleingruppen selbstverständlich nach wie vor funktional und bedeutsam ist. Zweitens gibt es auch in der liberalen Massengesellschaft einen – im Vergleich zu früher allerdings deutlich weniger eingrenzenden – Fundus grundlegender moralischer Normen, an die zu halten für uns alle überlebenswichtig ist.
Aber für die konkrete Verhaltenssteuerung und -koordinierung vieler Millionen oder gar Milliarden Menschen im Rahmen anonymer und offener Massengesellschaften ist das Instrument der Individualmoral weitgehend ungeeignet. Die wichtigsten Gründe dafür sind: Erstens sind die Ausweichmöglichkeiten zu groß, so dass sich außerhalb einer totalitären Gesellschaft jeder Mensch fast immer und fast überall ungestraft aus dem Korsett moralischer Verhaltensvorschriften befreien kann; und zweitens sind noch so eng definierte moralische Verhaltensgebote der Komplexität des Zusammenwirkens der Aktivitäten vieler Millionen Menschen nicht mehr gewachsen. Was also gut und moralisch erscheint und was womöglich durchaus auch so gemeint ist, muss gesamtgesellschaftlich nicht die guten Folgen haben, die es verspricht – man denke nur an das Fahrradbeispiel.
Um der massengesellschaftlichen Komplexität gerecht zu werden, braucht es daher anderer Koordinationsmechanismen, und glücklicherweise sind die zugleich vereinbar mit dem hohen Maß an Liberalität und Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensentwürfen, das wir heute gewohnt sind. Die Tatsache, dass unsere Vorfahren ein solches Maß bis vor kurzem nicht gekannt hatten, ist ebenso wenig ein Zufall wie die Tatsache, dass praktisch alle autoritären Regime nach wie vor auf eine engstirnige Individualmoral setzen, mit der sie ihre Untertanen unter Kontrolle halten. Für die Verhaltenskoordination der Menschen im Rahmen der modernen und liberalen Massengesellschaften ist der individualmoralische Ansatz dagegen nicht geeignet. Denn soweit er leidlich funktioniert, macht er uns unfrei; und soweit er uns Freiheiten lässt, funktioniert er nicht. Kein Wunder also, dass es ausgerechnet der Moralphilosoph Adam Smith war, der ausgerechnet im Anbruch der industriellen Revolution und der Massengesellschaft das dazugehörige Bild geprägt hat.
Es ist aber auch kein Wunder, dass sich so viele mit diesem Bild bis heute nicht recht anfreunden wollen. Denn im überwältigenden Teil seiner Entstehung hat sich unser Gehirn an den Anforderungen der Kleingruppengesellschaft ausrichten müssen, und nun will es einfach nicht davon ablassen, die so lange so wichtigen individualmoralischen Regeln an den Anfang aller ethischen Diskurse zu stellen. Das macht vor dem Klimaproblem nicht halt. Zwar weiß man längst – zumindest im Grundsatz – wie so ein Problem im Ergebnis zu lösen wäre: vor allem mit einem intelligenten Mix aus Steuern und/oder Emissionshandel, dessen Parameter so eingesetzt werden, dass möglichst dort Emissionen eingespart werden, wo dies die geringsten Folgen für den Wohlstand hat; außerdem mit Innovationsanreizen sowie mit flankierender Infrastrukturpolitik des Staates. Aber weil alles das nur im Ergebnis funktioniert und nicht dadurch, dass jeder Einzelne in bewusster und moralisch motivierter Absicht seine Lebensgewohnheiten umstellt, erscheinen alle diese Instrumente stets verdächtig.
Das sieht man allein schon an dem Hohn und Spott, der von Satirikern und Kabarettisten regelmäßig über das Instrument des Emissionshandels gegossen wird – vor allem von jenen, die sich für besonders fortschrittlich halten. Dabei arbeiten sie in stets zuverlässiger Treffsicherheit die Pointe heraus, dass sie die Logik ebenjener Sache nicht verstanden haben, über die sie sich lustig machen – was einer gewollten Komik allerdings eher abträglich ist. Sie lassen davon trotzdem nicht ab, denn für einen diskreditierenden Treffer scheint ihnen der Hinweis auf den Kommerz zu reichen, nach dem das System klingt, und auf den Ablasshandel, an den es (fälschlicherweise) erinnert. Genau hier ist er nämlich verortet: der vermeintlich so bitter fehlende individualmoralische Startpunkt aller guten Dinge. Folgerichtig ist es der Kern ihrer Beanstandung, dass der Emissionshandel das Erwerbsstreben an die Stelle setzt, an die die moralisch motivierte Bereitschaft zum Verzicht gehört.
Wer in dieses Denkkorsett mit dem Hinweis einbricht, der Handel mit Emissionszertifikaten reduziere die Wohlstandsfolgen realer CO2-Reduktionen, was eine vor allem im Weltmaßstab unabdingbare Voraussetzung klimapolitischer Akzeptanz ist, wird sich folgerichtig dem Spott der Ahnungslosen ausliefern. Angesichts ihres meist soliden intellektuellen Selbstvertrauens ist ihre Botschaft dagegen ebenso schlicht, wie sie mindestens im globalen Maßstab weltfremd ist, und sie lautet: Was heißt hier schon Wohlstand, wo es doch um die persönliche Bereitschaft zur Abkehr von der Wohlstandsgesellschaft geht?
Alles das beruht auf dem überwältigenden Drang, aus dem Klimaproblem eines der Individualmoral sowie des aus individuellem Willen folgenden Verzichts zu machen, verbunden mit gehöriger gegenseitiger moralischer Kontrolle. Wer anspruchsvollere Sender wie den Deutschlandfunk oder auch Ratgebersendungen im Fernsehen verfolgt, einschlägige Zeitschriften liest oder Podcasts hört, kennt die Folgen. Dort kann man sich bereits jetzt vor Anleitungen zu nachhaltigen Lebensformen kaum retten, ohne dass nur irgendjemand wenigstens zwischendurch einmal die Frage stellt, ob der persönliche Askese-Ansatz klimapolitisch überhaupt sinnvoll ist.
Dennoch kann man das alles machen, auch wenn es dem Klima wenig nützt. Bedenklich wird so etwas aber, wenn damit ein besonderer moralischer Anspruch transportiert wird, und das geschieht leider regelmäßig. Als Beispiel wurde in Ratgebersendungen zum Thema „klimabewusste Ernährung“ des Senders WDR5 wiederholt in einer Mischung aus Bedauern und Mitleid festgestellt, es gebe noch immer Menschen, die sich zu einer vegetarischen Ernährung nicht durchringen könnten. Solche harmlos klingenden Bemerkungen stecken in Wahrheit voller Suggestivkraft, denn sie schließen eine ethisch begründbare Entscheidung gegen vegetarische Kost schon vom Ansatz her aus, so dass für die Erklärung nicht-vegetarischer Ernährungsgewohnheiten nur noch Charakterschwäche bleibt.
Mit einem solchen Duktus wird zumindest im Ergebnis eine engstirnige moralische Wertung fremder Lebensentwürfe mit der Folge zur Selbstverständlichkeit erklärt, dass die anschließenden Ratsschläge zur Hilfestellung für die Aufnahme in den Stand der Guten und Rechtmäßigen degenerieren. Dessen moralischer Alleinvertretungsanspruch lässt sich aber nur über die Abgrenzung zu den moralisch Unterlegenen definieren, und das treibt mitunter seltsame Blüten. So entschuldigte sich die Bestsellerautorin Cornelia Funke kürzlich öffentlich bei der jungen Generation für das desaströse Klimaverhalten von sich und ihrer Generation, während sie sich zugleich gezwungen sah, ihren Wohnsitz vom klimageplagten Kalifornien in die Toskana zu verlegen.
Das ist natürlich bewegend. Wer aber als Durchschnittsbürger mit einer derartigen individualmoralischen Wucht in die Pflicht genommen wird, kann zwar heftig eingeschüchtert, aber nur schwerlich gewonnen werden, und hier fangen die Dinge an, sogar den Erfolg des Klimaschutzprojekts selbst zu gefährden. Denn auf der Aktivseite der Individualmoralisierung des Klimaproblems steht so gut wie nichts, weil sie zur Lösung des Klimaproblems keinen substantiellen Beitrag leisten kann. Aber auf der Passivseite steht, dass die Individualmoralisierung ein Klima der Intoleranz befördert, welches ein wenig an vergangen geglaubte Zeiten der Hausflurputzkontrolle seitens eifriger Mietwohnungsnachbarn erinnert. Denn sie schafft eine Avantgarde der selbsternannten Guten, zu denen nur Zutritt hat, wer sich einen immer genauer definierten Lebensstil zulegt, welcher klimapolitisch weitgehend wirkungslos ist.
Es sollte klar sein, was das bei denen auslöst, die sich diesen Regeln nicht anschließen mögen oder – beispielsweise aus finanziellen Gründen – nicht anschließen können. Wem aus solchen oder anderen Gründen die Aufnahme in den Club der Wahren und Guten vorenthalten bleibt, der neigt zur Gründung neuer Bezugsgruppen, die dann ganz anderen moralischen Regeln folgen – in der Regel aus der Umkehrung der Regeln jener Kreise, aus denen man sich ausgeschlossen fühlte. Die Konsequenz ist das, was immer aus übertriebener Moralisierung folgt: Polarisierung und gegenseitige Geringschätzung.
Deshalb ist es ein bedeutender Unterschied, ob sich jemand als Reaktion auf umweltökonomisch durchdachte Regelsysteme aus eigenem Interesse im Ergebnis klimaschonend verhält, ohne dass dies seine handlungsleitende Motivation gewesen sein muss; oder ob er unter Androhung der individualmoralischen Keule zu einer vielleicht nur scheinbaren Einsicht getrieben wird, weil er in Wirklichkeit entweder die soziale Ächtung fürchtet oder sich den Zutritt in eine moralische Avantgarde sichern will. Denn der erste Ansatz ist effektiv und liberal, während der zweite ebenso illiberal wie klimapolitisch ineffektiv ist.
Selbstverständlich gibt es viele, die aus verschiedensten ethischen Grundüberzeugung heraus auf bestimmte Dinge verzichten, die anderen selbstverständlich sind – sei es den Genuss von Fleisch, Autofahren, Flugreisen oder auch ganz andere Dinge. Das entspringt durchaus einer ehrenwerten Haltung, aber nur in Verbindung mit dem Bewusstsein, dass die Betreffenden sich selbst und nur sich selbst aus ihrer ganz persönlichen pflichtethischen Haltung heraus an den Verzicht gebunden fühlen, ohne dies zu verallgemeinern und ohne andere damit gleich mit in die Pflicht zu nehmen. Keine Frage, das ist kein einfach einzulösender Anspruch, und das kann nicht immer perfekt gelingen. Aber der stete Versuch dazu gehört in den vergleichsweise kleinen Bestand der verallgemeinerbaren pflichtethischen Grundsätze einer freiheitlichen Gesellschaft – was im Augenblick beklagenswerter Weise auf vielen Ebenen öffentlicher Diskurse in Vergessenheit zu geraten scheint. Umso mehr müssen wir von allen öffentlich wahrnehmbaren Personen und Institutionen eine Rückbesinnung darauf verlangen – auch und gerade mit Blick auf das Klimaproblem. Wie hoffentlich klargeworden ist, beinhaltet dies mitnichten eine Relativierung der Dimension des Problems. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Denn es muss im Kern immer um die Frage gehen, was effektiv hilft – und wie gesagt, hilft Individualmoralisierung effektiv nicht.
Wenn es derweil hoffentlich einmal gelungen sein sollte, Wirtschaft und Leben weltweit klimaneutral gestaltet zu haben, dann wird es mit Blick auf die Konsequenzen für das Klima tatsächlich egal sein, ob jemand ein noch so großes Auto fährt, Fleisch isst, Kühe züchtet, Inlandsflüge oder andere Flüge bucht, seine Heizung aufdreht oder was sonst noch heute klimaschädlich ist. Vielen Individualmoralisierern mag es dann immer noch nicht egal sein, aber sofern das so ist, sollten sie scharf über die wirklichen Gründe dafür nachdenken, warum es ihnen nicht egal ist.
[1] Bei einem Ökostromanteil von 50 Prozent, reichen 50 Prozent rein preisorientierte Verbraucher aus, denn wenn die Ökostromnachfrager ihren fossilen Anteil auf null Prozent reduzierten, steigt jener der preisorientierten Stromnachfrager gerade auf 100 Prozent, ohne dass sich der Ökostromanteil insgesamt verändern muss.
[2] Nur zur Vollständigkeit: Bei Adam Smith war auch vom Metzger und Brauer die Rede.
- Zwei unangenehme Einsichten zum Krieg in der Ukraine - 31. August 2024
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Wow. Wirklich erhellende Gedanken. Manche eher ideologisch als technologisch geschulten Gegner erneuerbarer Energien verwehren sich ja zu Recht gegen die CO2-Keule, die allenthalben geschwungen wird – dabei schütten sie jedoch das Kind mit dem Bad aus. Die in ihrer Quantität fatalen Auswirkungen menschlichen Handelns auf Ökosysteme und Ressourcen ausschliesslich auf den CO2-Ausstoss zu reduzieren, verhindert geradezu den weltweiten Konsens, dass eine globale Abkehr von fossilen Brennstoffen und nachhaltiges Wirtschaften sinnvoll und notwendig und im Interesse aller ist. Dies nicht so kommuniziert und entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen zu haben ist das eigentliche Versagen der Politik.