Für und Wider einer Impfpflicht
Eine kurze spieltheoretische Betrachtung

Der Deutsche Ethikrat hat in einer – mit 20 von 24 Mitgliedern verabschiedeten – Erklärung mitgeteilt, dass eine Impfpflicht als Schutz vor den gravierenden Folgen künftiger Pandemiewellen gerechtfertigt sei. Wie sie ausgestaltet werden könnte, ist jedoch im Ethikrat umstritten: Nur 13 der 24 Mitglieder plädieren für eine allgemeine Impfpflicht für Erwachsene (ARD, 2021). Auch die Gesellschaft streitet über die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht zwecks Senkung der gleichzeitigen Anzahl der Covid19-Infektionen. Es drohen bei diesem Streit tiefe Risse im gesellschaftlichen Miteinander: Nach wie vor verstehen nicht alle Menschen die Bedeutung von exponentiellem Wachstum. Viele haben Sorgen wegen des kurzen Evaluationszeitraumes für den Impfstoff. Andere haben Panik vor einer Ansteckung und schotten sich von der Gesellschaft ab. In einer solchen Situation sollte stets versucht werden, die Positionen der jeweils anderen zu verstehen. Dieser Beitrag möchte das Problem mit Hilfe der Spieltheorie beleuchten, um zu diesem Verständnis beizutragen.

Zunächst sei uns aber ein Blick auf die Daten und Fakten gegönnt. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrags ist die Inzidenz leicht sinkend, mit Omikron steht die nächste große Bedrohung aber vor der Tür. Die Impfquote stagniert nicht gänzlich, doch noch immer sind keine drei von vier Menschen in Deutschland ohne Erstimpfung. Betsch et al. (2021) haben mit den Ergebnissen aus dem „COVID-19Snapshot MOnitoring COSMO: Die psychologische Lage“ die Resultate einer deutschlandweiten Quotenstichprobe zur Corona-Thematik, die die erwachsene Allgemeinbevölkerung für die Merkmale Alter, Geschlecht und Bundesland abbildet, mit etwa 1000 Befragten vorgelegt. Die Impfbereitschaft war einer der adressierten Punkte der Auswertung der Wellen 56 und 57.

Insgesamt befürworten laut der Studie aktuell 67% aller Befragten (eher) eine allgemeine Impfpflicht, 46 % befürworten sie stark. Dabei sind, so die Studie, die Merkmale

  • Jüngeres Alter
  • Geschlecht: weiblich
  • Elternschaft
  • Keine Impfung gegen Corona

mit einer geringeren Akzeptanz der Impfpflicht assoziiert. Erstaunt stellt man fest, dass laut den Studienergebnissen mehr als 10 Prozent der Ungeimpften ebenfalls für eine Einführung der Impfpflicht stimmen würden. Dies deutet die Vielschichtigkeit der Motive, sich nicht impfen zu lassen, an.

Impfverweigerer, so die Studie, halten die Impfung eher für überflüssig; sie wägen indes auch mehr ab, inwiefern sie sich impfen lassen wollen. Impfverweigerer und Ungeimpfte mit einer mittel hoch ausgeprägten Impfabsicht zeigen die Tendenz, den sozialen Nutzen von Impfungen persönlich auszunutzen und, wie die Studie es nennt, „trittbrettzufahren“.

Während vieles angesichts der (lediglich) 119 befragten Ungeimpften lediglich im Bereich Vermutung anzusiedeln ist, da die empirische Basis doch relativ dünn ist, ist einiges trotzdem erkennbar: Klar zu entnehmen ist den Resultaten der Studie, dass die Entscheidung, sich (noch) nicht impfen zu lassen, diverse Motivationen haben kann. Auf Basis dieser einführenden Zahlen lässt sich die Diskussion um die Impfpflicht gut spieltheoretisch veranschaulichen.

Unser Eingangs-Szenario ist so einfach gestaltet wie möglich. Wir wählen zwei beliebige Gesellschaftsmitglieder als repräsentativ für eine bestimmte Gruppe an Motivationslagen aus: die beiden Spieler. Jeder Spieler startet mit einer willkürlich gewählten Anfangsauszahlung von 10 in die Pandemie. Diese Zahl sei die Bewertung der subjektiven Lebensqualität des Spielers vor Pandemiebeginn. Wir unterstellen zunächst, dass ein jeder Spieler selbst keine Angst vor einer Ansteckung empfinde, weil alle Spieler felsenfest von ihrem guten Immunsystem überzeugt sind.

Man frage zur Plausibilisierung für die Motivlage meine Studierenden: Viele von ihnen (keineswegs alle) haben für sich selbst keine Bedenken. Zudem sei beiden Spielern auch Sorge um eine Ansteckung anderer Person durch Weitergabe des Virus fremd (dies gilt zumeist nicht für meine Studierenden, weil es sich bei ihnen um sehr verantwortungsbewusste Menschen handelt).

1.      „Der Pieks tut weh“

In diesem ersten Szenario haben Spieler 1 und Spieler 2 jedoch per Annahme diesbezüglich kein Gewissen. Lassen sich beide nicht impfen, haben also beide immer eine Auszahlung von 10. Die 10 links im entsprechenden Feld der Auszahlungsmatrix vor dem „/“ sei dabei immer die Auszahlung für Spieler 1, die Zahl rechts sei stets die Auszahlung für Spieler 2.  Wer sich impfen lässt, hat allerdings Opportunitätskosten durch die Impfung, weil er einen Arzt aufsuchen muss und zweitens mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wegen Impfnebenwirkungen einen oder mehrere Tage krank ist. Der Pieks tut also weh, und dies möge die Auszahlung um fünf vermindern.

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Lässt Spieler 1 sich impfen, ist seine Auszahlung also nur noch fünf (siehe untere Zeile). Lässt Spieler 2 sich impfen, ist dessen Auszahlung ebenfalls fünf (rechte Spalte). Es ist sofort ersichtlich, dass die Strategie „nicht impfen“ für beide Spieler immer die überlegene Strategie ist. Die Spieltheorie nennt eine solche Strategie, bei der sich ein Spieler immer besserstellt, unabhängig von der gewählten Strategie des anderen Spielers, eine dominante Strategie. Im Spielergebnis lassen sich in diesem Eingangsszenario mit Spielern frei von jeder Sorge um sich selbst und um mögliche Ansteckungsketten beide Spieler nicht impfen. Und es geht Ihnen gut mit dieser Entscheidung.

2.      „Oma darf nicht angesteckt werden“

In unserem zweiten Szenario entdecken jetzt beide Spieler ihr Gewissen. Beide haben erfahren, dass das Virus für ältere Menschen gefährlich ist, und beide haben jetzt Sorge davor, andere Menschen anzustecken (wegen eines schlechten Gewissens und/oder einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Lockdown-ähnlichen Maßnahmen zur Unterbindung der Ansteckungsketten). In unserer Auszahlungsmatrix mit nur zwei Spielern möge diese Sorge so groß sein, dass sie die Auszahlung von 10 um sechs (auf 4) vermindert; und dieses Minus von sechs steht für die Angst, andere anzustecken. Wir gehen vereinfachend davon aus, dass eine Impfung beide zu 100% schützt, daher besteht die Ansteckungsgefahr nur dann, wenn sich beide nicht impfen. Wer hingegen nicht geimpft ist und kein Risiko eines Lockdowns und einer Ansteckung anderer trägt, weil die Infektionsketten durch die Impfung der anderen Spieler bereits unterbunden werden, erhält weiterhin eine Auszahlung von 10. Der Ungeimpfte muss sich nicht um Oma sorgen (wenn sich der andere Spieler sorgt und damit geimpft ist) und auch nicht die Kosten der Impfung, den Pieks, tragen.

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Aus der Auszahlungsmatrix geht hervor, dass es nun keine dominanten Strategien mehr gibt. Beide Spieler können erst dann ihre optimale Strategie benennen, wenn sie wissen, wie sich der andere Spieler sich entscheidet. Trotzdem gibt es zwei mögliche stabile Spielergebnisse (in der Spieltheorie auch Nash Gleichgewichte genannt). Diese liegen bei 10/5 und 5/10. Eine Person lässt sich impfen, woraufhin die andere Person eine Impfung als nicht mehr notwendig erachtet. Es ist ebenfalls ersichtlich, dass es beiden sinnvoll erscheinen wird, mit ihrem Spielzug abzuwarten, und dass sich dieses Abwarten lohnt. Wer sich zuerst impfen lässt, ist bei dieser Auszahlungsmatrix sozusagen der „Dumme“. Er erhält eine niedrigere Auszahlung. Damit haben wir eine erste Motivation dargestellt, warum sich Menschen in unserer Gesellschaft nicht impfen zu lassen. Diese Menschen sind weder gewissenlos noch hartnäckige Impfverweigerer; sie hoffen lediglich, dass die Infektionsketten auch ohne ihre eigene Anstrengung unterbunden werden können. Anders formuliert: Ist Oma erst selbst geimpft, und ist die Impfquote hoch, so dass weitere Ansteckungen unterbleiben, muss man sich nicht mehr impfen lassen, um Oma zu schützen. Wir können den so motivierten Spielertypus in der Terminologie der oben zitierten Studie als typischen Trittbrettfahrer des Impfschutzes der Anderen bezeichnen.

3.      „Großer Ärger: Geimpft und trotzdem im Lockdown“

In nächsten Schritt reichern wir das Szenario um ein weiteres Detail an. Es sei nun möglich, dass es aufgrund weiter existierender Ansteckungsketten auch in dem Fall, dass ein Spieler sich impft, zu einem Lockdown kommt, um die Pandemie einzudämmen. Der Impfschutz einer Person reicht nicht aus, die Ansteckungsgefahr für eine andere Person zu unterbinden. Der Ärger über diesen Lockdown führt nun bei all jenen, die sich extra impfen lassen haben, um die Ansteckungsketten zu unterbinden und den Lockdown zu vermeiden, zu einer weiteren Reduzierung der Auszahlung um zwei (also von 5 auf 3). Nicht nur der Pieks tut weh, auch der Lockdown ärgert. Wenn sich beide Spieler impfen lassen, kommt es indes nicht zum Lockdown. Hier bleibt es bei der Auszahlung 5/5.

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In diesem Szenario zeigt sich für beide Spieler wieder eine dominante Strategie. Beide lassen sich nicht impfen! Dies ist für beide Spieler die optimale Strategie mit der höchsten Auszahlung, unabhängig davon), was der Mitspieler wählt. Weil die Ansteckungsketten aber nicht unterbunden sind, grassiert jetzt das Virus, oder es kommt politisch zum Lockdown. Daher ist die Auszahlung für beide Spieler im Ergebnis nur vier. Das Spielergebnis, das Nash Gleichgewicht, liegt also bei 4/4. Dieses Szenario spricht eindeutig für eine Impfpflicht für unsere Zwei-Personen-Gesellschaft: Beide Spieler würden hier bessergestellt, als wenn sie individuell nur auf sich selbst schauen. Die Spieltheorie nennt dieses Szenario ein Gefangenendilemma. Ist beiden Spielern diese Situation bewusst, werden sie zwar bei individueller Entscheidung sich nicht impfen lassen, einer Impfpflicht aber gerne zustimmen!

4.      „Spielen mit Angsthasen“

Natürlich ist es auch möglich, legitim und vermutlich auch in vielen Fällen vernünftig, sich um die eigene Gesundheit in Pandemiezeiten zu sorgen. Das nächste Szenario basiert auf dem vorherigen Szenario. Allerdings sei Spieler 1 jetzt ängstlich, er habe sogar gelinde Panik vor einer eigenen Erkrankung. Nicht geimpft zu sein senke seine Auszahlung daher um 20! Ist er nicht geimpft, ist seine Auszahlung damit auf einem negativen Wert von -16, wenn der Rest der Gesellschaft ungeimpft ist. Ist der Rest der Gesellschaft hingegen geimpft, ist die Auszahlung immer noch mit -10 stark negativ. Sobald Spieler 1 hingegen geimpft ist, entfalle die Sorge um eine Ansteckung bei ihm komplett, weil gemäß obiger Annahme die Impfung ihn komplett vor schwerwiegender Erkrankung schützt. Den Ärger wegen eines möglichen Lockdowns habe er aber immer noch, wenn andere ungeimpft bleiben.

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Spieler 1 wird sich jetzt in jedem Fall impfen lassen, weil seine Auszahlungen hier immer höher liegen. Spieler 2 wird sich daraufhin nicht impfen lassen und trittbrettfahren. Das Nash Gleichgewicht liegt bei 3/10. Das Szenario gibt grundsätzlich aus Autorensicht recht gut die Situation in Deutschland wieder. Viele haben sich aus Angst vor Erkrankung oder zum Schutz der Anderen impfen lassen, andere verlassen sich hingegen auf den Schutz durch die Geimpften. Die Einführung einer Impfpflicht (mit dem Ergebnis 5/5) in diesem Szenario ist strittig: Sie bevorteilt Spieler 1, stellt Spieler 2 aber schlechter. Sie ist damit in ihrem Charakter eher eine Verteilungsfrage, wogegen im vorherigen Szenario durch die Impfpflicht beide bessergestellt wurden. Insofern unterscheidet sich die Situation von dem Gefangenendilemma im Szenario zuvor.

5.      „Der Impfskeptiker spielt mit“

Führen wir nun im letzten Szenario den typischen Impfskeptiker ein. Dies muss kein Corona Leugner oder Schwurbler sein – Fantasten und willentlich falsch Informierte müssen hier auch nicht analysiert werden. Wir nehmen beispielhaft eine Person, die sich von den Berichterstattungen in ihrem eigenen sozialen Netzwerk bezüglich möglicher gravierender Impfnebenwirkungen verunsichert fühlt. Spieler 1 habe nun also keine Sorge mehr vor Corona-Ansteckungen (der Abzug von 20 entfällt wieder), sondern vielmehr stattdessen solche Angst vor einer Impfnebenwirkung, dass sich seine Auszahlung bei Wahl der Strategie „impfen“ im Vergleich zu Szenario 3 um 10 vermindert.

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Jetzt haben wieder beide Spieler eine dominante Strategie: Sie lassen sich nicht impfen. Das Nash Gleichgewicht liegt also bei 4/4. Die Pandemie grassiert. Der Impfskeptiker stellt sich mit der Impfung ohnehin immer schlechter. Und der Geimpfte wiederum weiß, dass er trotz Impfung nicht sicher ist: Er erleidet den Pieks und muss trotzdem in den Lockdown. Trotzdem ist eine Impfpflicht auch in diesem Szenario wieder strittig, stellt sie doch auch hier nur einen der beiden Spieler besser. Um dieses Ergebnis zu erhalten, genügt es, in der Gesellschaft einen gewissen Anteil an Impfskeptikern zu haben (nämlich so viele, dass es weiterhin Ansteckungsketten gibt), wenn die anderen Spieler sich als Trittbrettfahrer verhalten.

Ein subjektives Fazit

Es lassen sich deutlich mehr Szenarien konstruieren; doch ist aus den fünf Szenarien bereits deutlich geworden, dass nur wenige Szenarien – in erster Linie das oben geschilderte Gefangenendilemma – eine Impfpflicht eindeutig als wünschenswerte Lösung erscheinen lassen. Bei allen anderen Szenarien lässt sich hingegen konstatieren, dass eine Impfpflicht aus der Sicht der subjektiven Betroffenheit stets Gewinner wie auch Verlierer erzeugen wird. Ob es sich bei der Impfpflicht also um eine wünschenswerte bis notwendige Maßnahme der Pandemiebekämpfung handelt, hängt in starkem Maße davon ab, aus welcher Motivation heraus die Gesellschaftsmitglieder sich impfen lassen oder auf die Impfung verzichten.

Die Autorenmeinung ist, dass die Neigung in unserer Gesellschaft zum Trittbrettfahren durchaus ausgeprägt ist und die Impfskepsis lediglich bei einem sehr kleinen Anteil in der Gesellschaft die fehlende Impfbereitschaft der Gesellschaft erklärt. Dies würde gemäß Szenario 3 eine Impfpflicht für alle als wünschenswert erscheinen lassen. Möglicherweise ist eine Impfpflicht mit der Option, sich freikaufen zu können, aber eine sinnvolle Alternative, um alle Trittbrettfahrer impfen zu können, während sich die Impfskeptiker wohl lieber freikaufen würden. Sinnvoll wären aber in jedem Fall detailliertere Untersuchungen mit vielen Beteiligten zur Motivation hinter ihren Entscheidungen.

Quellen:

ARD (2021): Impflpflicht ja – aber unter Auflagen, Tagesschau-Nachricht am 22.12.2021, Link: https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/ethikrat-impfpflicht-103.html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

Betsch et al. (2021): „COVID-19Snapshot MOnitoring COSMO: Die psychologische Lage“, Link: https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/files/COSMO_W57.pdf

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