Wie konnte es eigentlich passieren, dass wir am 24. Februar aus allen Wolken gefallen sind, weil Putin in die Ukraine einmarschierte? Warum waren wir so ahnungslos, so naiv, so vertrauensselig? Und warum glauben die meisten Russen Putin jeden noch so hanebüchenen Unsinn und wählen ihn und seine Partei? Wie bringen wir diese Dinge mit der Vorstellung zusammen, dass wir aufgeklärt sind, in einer funktionierenden Demokratie leben und Menschen die Lektionen aus der Geschichte gelernt haben?
Die Antworten auf diese Fragen erhält man, wenn man sich mit den Möglichkeiten und Grenzen beschäftigt, die Demokratien bei der Bewältigung komplexer Probleme haben. Das geschieht in dem Buch „Einfach zu einfach. Wie die leichten Lösungen unserer Demokratie bedrohen“. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist ein echtes Dilemma, in dem Menschen schon seit sehr langer Zeit stecken. Einerseits treibt uns das Verlangen an, unsere Umwelt verstehen zu wollen. Psychologen sprechen dabei vom „Sense making Trieb“, der ähnlich stark ist, wie der Sexualtrieb. Andererseits ist unsere Umwelt viel zu kompliziert, als dass wir sie tatsächlich umfassend verstehen könnten. Wir sind mit unserem Trieb ständig überfordert, denn wir können ihn nicht wirklich befriedigen. Deshalb greifen wir zu Kompensationen. Könige, Kaiser und die Kirche haben jahrhundertelang die Welterklärung für uns übernommen. Aber seit wir in Demokratien leben, hat sich die Lage verändert. Seither ist es so, dass jede Lösung für ein gesellschaftlich relevantes Problem letztlich der Zustimmung einer Mehrheit bedarf. Das ist nun einmal das demokratische Prinzip. Die Lösungen werden den Menschen dabei von der Politik angeboten, in der ein ständiger Wettbewerb stattfindet, bei dem es darum geht, diejenigen, die abstimmen, davon zu überzeugen, dass die eigene Lösung die beste ist. Damit ist klar, dass die Qualität, zu der demokratisch produzierte Lösungen fähig sind, davon abhängt, wie gut die jeweiligen Mehrheiten über die anstehenden Probleme und deren Lösungen informiert sind. An dieser Stelle holt uns das Dilemma ein. Wir können gar nicht so gut informiert sein, wie wir müssten, wenn wir die richtigen Lösungen aussuchen wollen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Beschaffung von Informationen teuer ist und viel Mühe macht. Warum die auf sich nehmen, wenn die Stimme, die man bei der Wahl abgibt, praktisch kein Gewicht hat, weil man eben nur einer oder eine von Millionen ist?!
Was wir brauchen, ist eine geeignetes Form der Komplexitätsreduktion, die es uns erlaubt, auch mit geringem Aufwand eine gute Entscheidung zu treffen. In Deutschland hatten wir lange Zeit ein gut funktionierendes Instrument dafür. Wir haben uns bei der Wahl einfach an der Weltanschauung orientiert, die von „links“ nach „rechts“ geordnet war. Links war man für Umverteilung und mehr Demokratie, rechts für Wettbewerb und hierarchische Ordnungen und in der Mitte war man für Freiheit und weniger Bürokratie. Wer eine linke oder rechte Partei wählte, wusste, wofür diese sich einsetzen würde. Die Details waren nicht so wichtig, weil es für fast alle Probleme eben linke oder rechte Lösungen gab. Die Wahl wurde so radikal vereinfacht. Die Stimme bekommt die Partei, die mir weltanschaulich am nächsten steht. Das hat vergleichsweise gut funktioniert und uns für lange Zeit eine sehr stabile politische Situation eingebracht.
Aber die Zeiten haben sich geändert. Für die Probleme, die uns heute umtreiben gibt es keine „linken“ oder „rechten“ Lösungen. Der Zusammenhang zwischen Weltanschauung und Problemlösungsansatz ist verloren gegangen. Das gilt für das Klimaproblem genauso wie für den demographischen Wandel, die Migrationsfrage oder die, wie wir mit künstlicher Intelligenz umgehen sollen und für viele andere wichtige Fragen. Wenn aber die ideologische Verortung nicht mehr als Instrument der Komplexitätsreduzierung funktioniert, was dann? Dann treten an die Stelle von Weltanschauungen Narrative. Einfache Geschichten, die uns die Welt erklären. Angeboten werden sie uns von der Politik, denn die hat gar keine andere Wahl. Nur mit simplen Geschichten dringt sie zu uns durch. Für aufwändige und komplizierte Erklärungen haben wir weder Zeit noch Lust. Nun ist das mit den Narrativen aber so eine Sache. Es gibt gute, die uns die Welt erklären und dabei das beste verfügbare Wissen benutzen. Es gibt schlechte, die einfach zu einfach sind, um ein Problem wirklich zu lösen und die sich nur deshalb durchsetzen, weil sie so einfach sind. Und es gibt die sehr schlechten Narrative, die aus einer verzerrten Wahrnehmung der Welt stammen und uns verführen sollen. Beispiele für die zuletzt genannten gibt es zu Genüge und Putin führt uns gerade vor, dass sie auch heute noch in der Lage sind, einen Krieg zu rechtfertigen. Damit stellt sich die Frage, wie wir es schaffen, dass sich in unseren Demokratien vor allem die guten Narrative durchsetzen. Um diese Frage beantworten zu können, muss man wissen, wie Narrative funktionieren, warum sie so beliebt sind, wie sie sich verbreiten und wie man schlechte Narrative verändern oder verbannen kann.
Die Psychologie und die Verhaltensökonomik haben einiges zu diesen Fragen beizutragen. Narrative haben unglaubliche Macht. Sie sind der Stahl, aus dem Kanonen oder Pflüge geschmiedet werden können. Sie haben der Demokratie zum Durchbruch verholfen und den Holocaust möglich gemacht und sie erlauben es, das Ukrainische Volk als Nazis zu verunglimpfen. Narrative wachsen auf dem Boden der Selbstüberschätzung und sie werden von starken psychologischen Bodyguards bewacht. Informationsvermeidung und der sogenannte Confirmation Bias, der nur passende Informationen vorbei lässt, gehören dazu. Das Ergebnis der Forschung auf diesem Gebiet ist leider nicht sehr ermutigend. Sehr schlechte und schlechte Narrative haben sehr gute Chancen im politischen Wettbewerb.
In dem Buch „Einfach zu einfach“ wird ein Gedanke vorgestellt, der es erlaubt Aussagen darüber zu machen, wie anfällig eine Gesellschaft für die unerwünschten Narrative ist. Entscheidend ist dabei das „Median-Verständnis“. Menschen können gut oder schlecht über ein Problem informiert sein. Ordnet man sie nach ihrem Verständnis auf einer Skala an, so dass ganz links gar kein Wissen vorliegt und ganz rechts das beste verfügbare, dann ist das Median-Verständnis, dasjenige des Menschen, von dem aus 50 Prozent besser und 50 Prozent schlechter informiert sind. Damit eine Politik die Abstimmung über einen Problemlösungsvorschlag gewinnen kann, muss sie diesen Vorschlag dem Medina-Verständnis schmackhaft machen. Vorschläge können dabei aus beiden Richtungen kommen. Von links (wenig Wissen) kommen die sehr schlechten Narrative und wenn das Median-Verständnis sehr weit links angesiedelt ist, dann können sehr schlechte Narrative die Wahl gewinnen. Das ließ sich bei Trump beobachten und wiederholt sich bei Putin. Von der rechten, der besser informierten Seite, können gute und schlechte (weit zu einfache) Narrative kommen. Sie zu unterscheiden ist nicht einfach, aber es ist sehr wichtig, dass wir besser darin werden, denn sonst müssen Demokratien vor den komplexen Problemen der Gegenwart und der Zukunft kapitulieren.
Das Buch schließt mit einigen Überlegungen, wie wir Strukturen verändern müssen, damit wir Narrative besser beurteilen können als das heute möglich ist. Die zentralen Institutionen sind dabei die Wissenschaft und die Medien. Aber letztlich kommt es auf die Endverbraucher von Information an, uns alle. Medien berichten nur das, was Menschen lesen oder anschauen wollen und Politiker sagen nur das, was Medien berichten. Deshalb sind es am Ende die Wählerinnen und Wähler, die bestimmen, welche Qualität unsere Demokratie hat. Aber durch geschickte institutionelle Veränderungen lassen sich die Bedingungen für eine gelungene Befriedigung des sense Making Triebes deutlich verbessern.
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