Die Leopoldina ist eine Institution, die den Auftrag hat, die Politik streng wissenschaftlich zu beraten. Sie soll sich nicht von partikularen Interessen leiten lassen oder Ideologien folgen, sondern sich an der wissenschaftlichen Evidenz orientieren. In ihrer jüngsten ad hoc Stellungnahme zu den Folgen eines Lieferstopps von russischem Erdgas wird sie diesem Auftrag an vielen Stellen gerecht, aber verstößt dagegen an einigen wichtigen Stellen in eklatanter Weise.
Die Stärken der Stellungnahme liegen dort, wo sich das Gremium mit den technischen und ökonomischen Möglichkeiten einer kurz- und mittelfristigen Substitution von russischem Gas befasst. Völlig zu Recht wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Gasspeicher, die gegenwärtig nicht einmal zu einem Drittel gefüllt sind, aufzustocken. Auch die ökonomischen Schwierigkeiten, die sich dabei ergeben, werden kompetent adressiert. An vielen anderen Stellen wird deutlich, dass sich die Kolleginnen und Kollegen vertieft und gewissenhaft mit der Problematik auseinandergesetzt haben. Rätselhaft wird es jedoch an zwei Stellen.
Am augenfälligsten ist, dass die Atomkraft nur lapidar in einer Fußnote erwähnt wird. Dort heißt es, dass Studien des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz ergeben hätten, dass eine Laufzeitverlängerung „technisch sehr herausfordernd und ökonomisch sehr aufwändig wäre.“ (S.6). Dass ein von den Grünen geführtes Ministerium einer gewissen Verzerrung unterliegt, wenn es um die Nutzung von Atomkraft geht, darf man sicher unterstellen. Dass die Betreiber von AKW auch kein sonderliches Interesse haben, die Meiler weiter zu betreiben, ist angesichts ihrer Erfahrungen der letzten Jahre auch nicht verwunderlich. Aber es dürfte klar sein, dass alle alternativen Beschaffungen von 60 TWh Strom, auf die man zurückgreifen muss, wenn man sich von der Atomkraft verabschiedet, ebenfalls technisch herausfordernd und ökonomisch problematisch wären. Es ist deshalb zwingend erforderlich, dass gerade ein unabhängiges Gremium wie die Leopoldina untersucht, welche der Optionen denn nun weniger herausfordernd und problematisch ist. Immerhin produzieren die letzten AKW genauso viel Strom, wie der gesamte Solarenergiepark Deutschlands. Im Unterschied zur Sonnenenergie allerdings zuverlässig verfügbar an 365 Tagen im Jahr. Der Wegfall dieser Strommengen muss und soll bisher vor allem durch Gaskraftwerke erreicht werden. Deshalb müsste die Option, den Atomausstieg zu verschieben, auf jeden Fall diskutiert werden! Dass man darauf einfach verzichtet, ist schwer nachzuvollziehen.
Weniger augenfällig aber letztlich doch rätselhaft sind die Ausführungen zum langfristigen Vorgehen. Für die kurze und mittlere Frist wird empfohlen, mit Gas produzierten Strom durch Kohleverstromung zu ersetzen. Die Mitglieder der Leopoldina äußern sich dabei nicht zu der Frage, ob sie Steinkohle oder Braunkohle im Sinn haben, obwohl das im Zusammenhang mit Russland durchaus eine relevante Frage ist. 50 Prozent unserer Steinkohle importieren wir nämlich aus Russland. Im Unterschied dazu ist Braunkohle der einzige heimisch verfügbare und relativ leicht abbaubare Energieträger, über den wir verfügen. Natürlich hatte Braunkohle in den letzten Jahren eine miserable Presse, weil mit der Verbrennung die höchsten CO2-Emissionen einhergehen, die bei fossilen Brennstoffen beobachtet werden können. Aber die Leopoldina Gutachter und Gutachterinnen machen in diesem Zusammenhang einen richtigen und bemerkenswerten Punkt. Sie weisen nämlich darauf hin, dass wegen des europäischen Emissionshandels eine Substitution von Gasstrom durch Kohlestrom keine Auswirkungen auf die europäischen CO2-Emissionen hat (S.6). Das ist vollkommen richtig und gilt unabhängig davon, welche Kohle dabei verfeuert wird.
Die Erklärung für dieses Phänomen liegt in der Funktionsweise eines Emissionshandelssystems. Dabei wird in einem ersten Schritt festgelegt, wie viele Tonnen CO2 pro Jahr im Emissionshandelssektor (der den Energiesektor einschließt) noch emittiert werden dürfen. Über diese Menge werden Emissionsberechtigungen (Zertifikate) ausgestellt und an die Emittenten verkauft. Nur wer im Besitz eines entsprechenden Rechts ist, kann CO2 emittieren. Die Emissionsrechte sind übertragbar und der Handel mit ihnen führt dazu, dass die Vermeidung von CO2 dort stattfindet, wo die Vermeidungskosten am geringsten sind, denn dort lohnt sich die Vermeidung am meisten. Auf diese Weise wird die zuvor politisch festgesetzte Vermeidungsmenge kosteneffizient realisiert, also zu den geringstmöglichen Lasten und Freiheitseinschränkungen. Wenn also in Deutschland mehr CO2 emittiert werden muss, weil wir die Kohlekraftwerke nun doch nicht stilllegen, dann müssen diese CO2-Mengen an anderer Stelle eingespart werden. Der Handel sorgt dafür, dass dies dort geschieht, wo die Kosten am geringsten sind. Der Clou dabei: Vermutlich würde dies dazu führen, dass die Einhaltung der politisch gesetzten Obergrenze im ETS billiger würde. Die Stilllegung deutsche Kohlekraftwerke muss nämlich keineswegs eine kosteneffiziente Maßnahme sein. Der Kohleausstieg ist vielmehr ein Bruch in der Systematik des Emissionshandels. Diese Werke werden ja nicht deshalb stillgelegt, weil das eine besonders preiswerte Möglichkeit der CO2-Vermeidung ist, sondern aus ideologischen Gründen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die CO2-Mengen, die wir durch den Kohleausstieg in Deutschland einsparen, an anderer Stelle zu deutlich geringeren Kosten eingespart werden könnten und auch würden, wenn wir auf den Ausstieg verzichten. Auf diese Art und Weise könnte man der gegenwärtigen Situation und dem Zwang die Energieversorgung neu zu ordnen, etwas Gutes abgewinnen. Nur leider nicht, wenn es nach der Leopoldina geht. Dort heißt es auf Seite 6:
„In der mittleren Frist ist es zielführend, am Kohleausstieg 2030 festzuhalten und die Transformationsaktivitäten massiv zu beschleunigen; der Kohleausstieg macht uns auch unabhängiger von russischer Kohle (…).“
Angesicht der zuvor bekundeten Einsicht in die Funktionsweise des ETS greift es zu kurz, dieses Statement als Rolle rückwärts zu bezeichnen. Es ist ein veritabler Salto rückwärts, allerdings einer der nicht gestanden wird. Mit den „Transformationsaktivitäten“ kann ja nur der verstärkte Ausbau der Wind- und Solarenergie gemeint sein und zwar ohne die flankierende Unterstützung durch zusätzliche Gaskraftwerke. Wenn in acht Jahren der Kohleausstieg, in diesem Jahr der Atomausstieg und in den nächsten 12 Monaten der Verzicht auf russische Energieimporte vollzogen werden soll, dann allerding sind gewaltige Transformationsanstrengungen notwendig. Der Anteil aller erneuerbarer Energieträger (einschließlich Wasserkraft und Bioenergie) am Primärenergieverbrauch belief sich 2021 auf etwa 16%. Bei Solar und Wind ist der Wert einstellig. Man mag sich nicht wirklich vorstellen, wie unser Land aussähe, wenn wir tatsächlich die landgestützte Windkraft so ausbauen würden, wie es die Leopoldina im Sinn zu haben scheint. Ein solches Vorhaben als „ technisch sehr herausfordernd und ökonomisch sehr aufwändig“ zu bezeichnen wäre eine extreme Verharmlosung. Vielleicht sollte man da doch eher an die Atomkraftwerke denken?! Wenn wir die Option, die Anzahl der Gaskraftwerke massiv aufzustocken, nicht mehr haben, dann wird die Energiewende endgültig zu einem Vorhaben, das sich mit den althergebrachten Konzepten des klimapolitischen Mainstreams der letzten beiden Jahrzehnte nicht realisieren lässt. Das festzustellen ist nicht wirklich schwierig. Eine Alternative aufzubauen, die deutsche und die europäische Klimapolitik von Grund auf neu zu denken, ist dagegen eine komplexe Aufgabe. Die Kolleginnen und Kollegen, die im Namen der Leopoldina begutachtet haben, hätten gut daran getan, den dafür notwendigen Prozess anzustoßen. Sie hätten ein Zeichen setzen können. Rätselhafterweise hat es nur zu einem „weiter so“ gereicht.
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Zum Weiterbetrieb der AKW heißt es in einem Artikel der FAZ vom 23. 3. mit dem Titel „Kernkraftverband appelliert an Scholz, Atomkraftwerke länger laufen zu lassen“ unter anderem: „Kernkraftwerke können mittels eines sogenannten Streckbetriebs sowie ggf. brennstoffsparender Fahrweise in diesem Sommer dann mindestens bis nächstes Frühjahr problemlos weiterbetrieben werden.“ Das hatte ich mir auch schon gedacht. Ich habe jetzt nicht nachgesehen, aber ich glaube Frankreich importiert im Winter oft Strom aus Deutschland, weil die mit Strom heizen. Es wird also mehr Strom im Winter als im Frühjahr benötigt. Würden die AKW nicht am 31.12 abgeschaltet, sondern zB erst am 31.3, könnte man sicher eine Menge CO2 einsparen und wenn jetzt Gas aus Russland in Rubel bezahlt werden sollen, könnte es doch zum Stop der Gaslieferungen kommen, sodass es knapp werden könnte ohne Stromabschaltungen über den Winter zu kommen.
Zu einem längeren Weiterbetrieb heißt es im selben Artikel: „Falls gewünscht, können sie durch Nachladung mit neuen Brennelementen auch durchaus noch weitere Jahre zur Sicherheit der deutschen sowie europäischen Stromversorgung beitragen“ Ich würde 3 Jahre für sinnvoll halten, da man in dieser Zeit neue Kapazitäten aufbauen kann, wenn der Staat das massiv beschleunigt. Ich erinnere mich bei encavis gelesen zu haben, daß die einen mehrstufigen Prozess für neue Wind- und Solarparks haben. Sollten da jetzt neue Projekte begonnen werden, würden die 2024/2025 fertig werden. Vielleicht ließe sich das beschleunigen, aber mehrere Jahre würde es sicher dauern. PS: Es wäre auch sinnvoll die Börsenpreise für Strom und Öl mittels gezielter Nachrichten- Produktion zu beruhigen, wie man das in der Eurokrise getan hat. Es gilt nämlich auch den Faktor Panik und Spekulation zu beachten.
Die Leopoldina empfiehlt schon lange nichts mehr, was den Interessen der Grünen widerspricht. Hier hat bereits eine weitgehende „Synchronisation“ stattgefunden.
Die Wind- und Solarenergieindustrie wurde von den Grünen geschaffen und bildet mit ihren Spenden eine wichtige Grundlage für die Finanzierung des grünen Marschs durch die Institutionen. So wenig wie Atomkraft wird die Leopoldina deshalb auch keine Carbon Capture and Storage Technologie (CCS) empfehlen. (Die hat Habeck in Schleswig-Holstein plattgemacht als dort CO2 in ehemaligen Erdgaskavernen eingelagert werden sollten. Angeblich ist CO2 giftig; Erdgas nicht ?). Atomkraft und CCS bilden eine Konkurrenz zur Wind- und Solarenergieindustrie und müssen deshalb verhindert werden.
Eine andere Industrie, die von den Grünen geschaffen wurde und fleißig spendet, ist die Biokraftstoffindustrie. In dem Leopoldina-Gutachten „Biodiversität und Management von Agrarlandschaften“ werden deshalb die verheerenden Auswirkungen der Biokraftstoffindustrie auf die Artenvielfalt mit keiner Silbe erwähnt. Statt dessen wird der Wähler aufgefordert seine politischen Überzeugungen zu ändern und weniger Fleisch zu konsumieren. Wundert mich, dass in der „Stellungnahme Energiesicherheit“ kein Tempolimit gefordert wird. Das ist das Pendent zum Fleischverzicht in der Agrarpolitik. Das Programm der großen Transformation verlangt nun einmal Umerziehung und versucht technologische Problemlösungen wenn möglich zu verhindern…