Wenn wir am 23. Februar 2025 einen neuen Bundestag wählen, dann geht es dabei auch um die Frage, welches Staatsverständnis für die nächste Regierung handlungsleitend sein soll. Leider ist die Auswahl dabei nicht sehr groß, denn abgesehen von der FDP pflegen die drei anderen für eine Regierungsbildung in Frage kommenden Parteien ein sehr ähnliches Staatsverständnis. Es besteht darin, dass sie einen Staat bevorzugen, der sehr weitgehende Eingriffsrechte in die bürgerlichen Freiheitsrechte besitzt. Die Begründung für einen Staatseigriff erfolgt bei ihnen ad hoc, ohne dass dem eine systematische ordnungspolitische Konzeption oder gar eine Theorie zugrunde liegt. Es ist deshalb vielleicht hilfreich, in Erinnerung zu rufen, dass eine solche Theorie schon lange existiert. Sie beschreibt sehr genau, unter welchen Bedingungen ein Staatseingriff gerechtfertigt ist und wie weit er gehen darf. Diese ist Theorie im Kern normativ, denn sie geht von Werten aus, die als zu schützen angesehen werden.
Im Zentrum dieses Staats- und Gesellschaftsverständnissies steht die Vorstellung, dass die Staatsbürger selbstbestimmte Individuen sind, die das Ziel verfolgen, in Freiheit zu leben und ihr Leben auf der Grundlage rationaler Entscheidungen nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Dieser individualistische Ansatz sieht die Grenzen der individuellen Freiheit dort, wo Freiheitsrechte anderer bedroht sind. Eine wichtige Funktion staatlichen Handelns besteht deshalb darin, Regeln zu finden und durchzusetzen, die Konflikte lösen, die dadurch entstehen können, dass die Ausübung individueller Freiheit die Rechte anderer zu beschränken droht. Aber das allein beschreibt die Aufgaben und Pflichten des Staates nicht ausreichend.
Der Staat trifft kollektive Entscheidungen
Der Staat – oder allgemeiner die Politik – grenzt sich dadurch von den Mitgliedern der Gesellschaft ab, dass es dem Staat, und nur dem Staat, gestattet ist, kollektive Entscheidungen zu treffen. Damit sind Entscheidungen gemeint, die eine Bindungswirkung für eine Gruppe von Menschen haben, im Extremfall für alle Gesellschaftsmitglieder. Solche Entscheidungen sind notwendig mit Zwang verbunden, denn sie müssen auch bei denen durchgesetzt werden, die ihnen als Individuum nicht zustimmen würden. Das bedeutet, dass kollektive Entscheidungen individuelle Freiheitsrechten in jedem Fall einschränken müssen. Das hat zwei negative Effekte. Einerseits ist die Freiheitseinschränkung als solches nicht im Sinne einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft, bzw. entspricht nicht den Präferenzen der Bewohner einer solchen Gesellschaft, weil sie per se die Möglichkeiten einer individuellen, freien Lebensgestaltung einschränkt. Andererseits gehen bei kollektiven Entscheidungen Informationen verloren, die bei individuellen Entscheidungen verwendet würden. Dabei handelt es sich um die private Information, die Menschen über ihre Präferenzen, Werte und Normen haben und auf deren Grundlage sie darüber entscheiden, wie sie Einkommen erzielen und wie sie Einkommen verwenden. Für die Vorstellung von Politik, im Besitz dieser Information zu sein, oder gar zu glauben, dass man besser wisse, was Menschen nützlich ist, als die Menschen selbst, hat Hayek den Begriff geprägt, dass dies eine „Anmaßung von Wissen“ sei.
Kollektive Entscheidungen können notwendig sein
Warum sollten angesichts dieser Nachteile überhaupt kollektive Entscheidungen getroffen und mit Zwang durchgesetzt werden? Kurz zusammengefasst ist dies deshalb notwendig, weil es Situationen gibt, in denen individuell rationale Entscheidungen nicht zu kollektiv rationalen Ergebnissen führen. Ein einfaches Beispiel mag dies verdeutlichen. Man stelle sich vor, dass es um die Entscheidung geht, ob man eine Landesverteidigung haben will oder nicht. Bei einer Abstimmung kommt heraus, dass alle Gesellschaftsmitglieder für die Aufstellung einer Armee sind. Aber ist es individuell rational, für die Ausstattung der Armee freiwillig einen Beitrag zu leisten? Rationale Individuen kämen bei der Überlegung, wieviel sie für die Armee spenden wollen, zu einer Randlösung: Ich kann von der Verteidigung nicht ausgeschlossen werden, auch wenn ich nicht zahle. Ob ich einen Beitrag leiste oder nicht, ändert an dem Umfang der Verteidigung so gut wie nichts. Also ist die individuell rationale Lösung, keinen Beitrag zu leisten. Im Ergebnis kommt die Landesverteidigung nicht zustande, obwohl sie von allen gewünscht wird. Die Lösung für dieses Problem besteht in der Herbeiführung einer kollektiven Entscheidung. Wenn die Frage zur Abstimmung gestellt wird, ob man lieber auf eine Armee verzichtet, oder eine einführt, die von allen Gesellschaftsmitglieder durch eine Zwangsabgabe finanziert wird, dürfte die durch Steuern finanzierte Armee mit großer Mehrheit beschlossen werden. Das Beispiel zeigt, dass es Situationen gibt, in denen die kollektive Entscheidung, Individuen zu etwas zu zwingen, also ihre Freiheit einzuschränken, individuell rational sein kann, weil sie den Widerspruch zwischen individueller und kollektiver Rationalität auflöst.
Damit haben wir eine erste grobe Vorstellung davon gewonnen, wann staatliches Handeln legitim ist: Wenn individuell rationale Handlungen nicht zu einem kollektiv rationalen Ergebnis führen, legitimiert das kollektive Entscheidungen, die in der Lage sind diesen Widerspruch aufzulösen. Die Frage ist, ob es möglich ist, solche Situationen genauer zu identifizieren und sie zu einer Demarkationslinie zwischen individuellem und kollektivem Handeln zu entwickeln. Tatsächlich ist das möglich.
Eine schon lange bekannte Einsicht
Ausgangspunkt ist dabei eine Einsicht, die bereits bei Adam Smith in einer ersten, noch unscharfen Form auftaucht und die in den Arbeiten der großen Gleichgewichtstheoretiker Leon Walras, Gérard Debreu und Kenneth Arrow mathematisch nachgewiesen werden konnte. Sie besteht darin, dass ein System frei agierender Märkte, deren einziges Steuerungsinstrument Preise sind, eine effiziente Allokation der Ressourcen erzeugen kann. Technisch formuliert, bedeutet das, dass Walras-Gleichgewichte (d.h. ein simultanes Gleichgewicht auf allen Märkten) stets Pareto-effizient sind. Darunter versteht man, dass es nicht möglich ist, durch eine andere Verwendung der Ressourcen mindesten ein Gesellschaftsmitglied besser zu stellen, ohne ein anderes schlechter zu stellen. Das ist dann der Fall, wenn Ressourcen verschwendungsfrei eingesetzt werden. Das bedeutet vereinfacht ausgedrückt, dass ein Marktsystem, dass jedem einzelnen Anbieter oder Nachfrage die Freiheit lässt, das zu tun, was in seinem eigenen Interesse liegt, zu einer bestmöglichen Verwendung der Ressourcen einer Wirtschaft führt. Einen Pareto-effizienten Zustand kann man als kollektiv rational verstehen.
Kollektive Entscheidungen sind damit nur dann notwendig, wenn nachgewiesen werden kann, dass Märkte in bestimmten Fällen nicht in der Lage sind, Pareto-Effizienz zu liefern. Wann das der Fall ist und wie staatliche Intervention in solch einem Fall ausgestaltet sein muss, ist Gegenstand der Marktversagenstheorie. Diese Theorie beschreibt Konstellationen und Situationen, in denen Märkte nicht gut genug funktionieren können. Bei dem Beispiel mit der Armee ist es der fehlende Konsumausschluss, der es unmöglich macht, Landesverteidigung über Märkte anzubieten. Weil niemand von der Verteidigung ausgeschlossen werden kann, ist niemand bereit, einen Preis dafür zu bezahlen. Deshalb kann kein Preis entstehen und damit auch kein Markt zustande kommen.
Kein Freibrief für staatliche Intervention
Wir haben damit bereits zwei Fälle identifiziert, in denen der Staat aufgerufen ist zu handeln: Wenn er in der Lage ist, ein Marktversagen zu heilen und um Konflikte individueller Freiheitsrechte zu lösen. Ein weiterer Grund kann der Wunsch sein, die Einkommensverteilung in einer Ökonomie zu verändern und Menschen Hilfe zukommen zu lassen, die aus nicht selbst verschuldeten Umständen nicht in der Lage sind, sich am Markt ausreichend zu finanzieren. Allein diese drei Begründungen spannen bereits einen weiten Bereich für staatliches Handeln auf. Dazu gehört die Bereitstellung von Infrastruktur, weite Bereiche der Daseinsvorsorge, der Umweltschutz, die Regulierung natürlicher Monopole (beispielsweise bei leitungsgebundenen Angeboten), die Bekämpfung von Wettbewerbsbeschränkungen oder von Problemen, die durch systematische Informationsasymmetrien entstehen können.
Das bedeutet allerdings nicht, dass staatlichem Handeln in diesen Fällen ein Freibrief erteilt werden kann. Auch wenn grundsätzlich eine kollektive Entscheidung notwendig ist, muss kollektives Handeln stets begründet sein und es muss so ausgestaltet werden, dass das Ausmaß an Zwang und der Umfang, in dem auf private Information verzichtet wird, jeweils zu minimieren ist. Grundsätzlich kann auf der Grundlage der hier skizzierten Prinzipien staatliches Handeln im Allgemeinen, aber auch in jedem Sonderfall daraufhin bewertet werden, ob es mit den Werten einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft in Einklang ist oder nicht. Insofern liefert eine erweiterte Marktversagenstheorie ein geeignetes Instrumentarium, um staatliches Handeln und Staatsversagen konzeptionell sauber zu analysieren und zu bewerten.
Menschen sind nicht nur rational
Man kann dieser Abgrenzung von individuellem und kollektiven Handeln mit einem gewissen Recht vorwerfen, dass sie einen wichtigen Punkt übersieht. Menschen neigen dazu nicht rationale Entscheidungen zu treffen. Sie sind deshalb nur eingeschränkt in der Lage, wie es oben gesagt wurde, ihr Leben auf der Grundlage rationaler Entscheidungen nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Nicht rationale Verhaltensweisen lassen sich in der Tat sowohl empirisch als auch experimentell beobachten. Allerdings gilt das nicht universell. Die Regel besteht darin, dass Menschen versuchen, bei der Verfolgung ihrer Ziele keine Fehler zu machen. Und insbesondere, wenn sie auf Märkten agieren, sind sie dabei sehr erfolgreich. Gleichwohl gibt es Situationen, bei denen Menschen systematisch Fehler begehen. Beispielsweise weil sie sich selbst überschätzen, weil ihre Präferenzen gegenwartsverzerrt sind, oder weil sie sich mit zu wenig Information oder mit zu kleinen Stichproben zufriedengeben. Aber auch in solchen Situationen kann daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass der Staat individuelle Entscheidungen besser treffen kann als das Individuum selbst. Ein paternalistischer Staatseingriff verbietet sich deshalb auch hier. Anders verhält es sich mit einem sanft paternalistischen Eingriff, der dem Individuum nicht eine kollektive Entscheidung aufzwingt, sondern lediglich die Funktion hat, den Ursachen für die Verzerrung der Entscheidung entgegen zu wirken. Ein Beispiel verdeutlicht diesen Punkt:
Aus Feld- und Laborexperimenten aber auch aus empirischen Beobachtungen ist bekannt, dass Menschen aufgrund gegenwartsverzerrter Präferenzen (Übergewichtung des „jetzt“ im Vergleich zu „später“) darauf verzichten, eine private Altersversorgung abzuschließen. Die Kosten, die heute entstehen, wenn jemand einen Versicherungsvertrag abschließt, werden zu stark gewichtet im Vergleich zu den Vorteilen der zukünftigen Versorgung. Dem kann man entgegenwirken, indem man zwei „Nudges“ benutzt. Erstens geht man von der „opt in“ Lösung, bei der eine Versicherung nur zustande kommt, wenn man sie aktiv abschließt, zu einer „opt out“ Lösung über. Bei der ist jeder Beschäftigte automatisch privat rentenversichert, kann diese Versicherung ab jederzeit beenden. Zweitens kombiniert man dies mit einer „save more tomorrow“ Lösung, bei der die Rentenbeiträge aus zukünftigen Lohnsteigerungen finanziert werden. Untersuchungen von Richard Thaler und anderen haben gezeigt, dass diese beiden leichten „Schubser“ die Wahrscheinlichkeit des Abschlusses eines Rentenvertrages stark erhöhen – ohne dass Zwang angewendet werden musste.
Kombiniert man die Marktversagenstheorie, die von der Vorstellung strikter Rationalität ausgeht, mit den Möglichkeiten (und den Einschränkungen) eines sanften Paternalismus, gelangt man zu einem konsistenten Staatsverständnis, das kollektivem Handeln in vielen Fällen rechtfertigt, ihm aber auch strikte Grenzen auferlegt. Ein Anwendungsbeispiel soll dies verdeutlichen.
Ein Beispiel
Klimaschutzmaßnahmen sind der Einrichtung einer Landesverteidigung ökonomisch sehr ähnlich. Auch die Stabilisierung des Klimas ist ein öffentliches Gut, von dem niemand ausgeschlossen werden kann. Dafür zu bezahlen ist deshalb ebenso wenig rational wie für eine Armee einen freiwillig einen Preis zu bezahlen. Man kann deshalb nicht damit rechnen, dass Klimaschutz auf freiwilliger Basis zustande kommt. Man braucht dafür kollektives Handeln. Aber wie soll dieses Handeln konkret aussehen? Die Bandbreite ist groß. Sie reicht von kleinteiligem Dirigismus und einer Politik des Konsumverzichts bis zu marktwirtschaftlichen Lösungen, die im Einklang mit dem hier entwickelten Staatsverständnis stehen: Die Besteuerung von CO2-Emissionen oder die Errichtung eines Emissionshandelssystems. Beiden ist gemeinsam, dass sie ein Preissignal setzen, an das sich die Emittenten anpassen können. In einem Emissionshandelssystem funktioniert das wie folgt.
Der staatliche Planer legt die Menge an CO2 fest, die noch emittiert werden darf. Diese Mengenbegrenzung einzuführen ist der notwendige kollektive Beschluss. Durchgesetzt wird dieser Beschluss, indem für die noch verfügbare Menge Emissionsberechtigungen ausgestellt werden und jeder, der CO2 emittieren möchte, eine entsprechende Berechtigung braucht. Der Handel mit diesen Berechtigungen ist ausschließlich Sache der privaten Akteure, unterliegt also keinem kollektiv beschlossenen Zwang, sondern basiert auf den individuellen Entscheidungen der Emittenten. Ob ein Emissionsrecht gekauft und CO2 emittiert oder ob die Emission eingespart und ein Emissionsrecht verkauft wird, ist eine Entscheidung, die davon abhängt, ob die Grenzvermeidungskosten über oder unter dem aktuellen Preis für eine Emissionsberechtigung liegen. An dieser Stelle geht die private Information über die tatsächlichen Kosten der CO2-Vermeidung in den Entscheidungsprozess ein. Eine Information, die jedem Planer verschlossen bleiben muss, die aber notwendig ist, um eine kosteneffiziente Organisation der CO2-Vermeidung zu erreichen. Das Beispiel zeigt, wie sich die Notwendigkeit einer kollektiven Entscheidung verbinden lässt mit einer Minimierung des notwendigen Zwangs und einer Maximierung der individuellen Freiheitsrechte. Es zeigt außerdem, dass gerade diese Verbindung zu einer wohlfahrtsmaximierenden Lösung führt, denn das öffentliche Gut „Klimaschutz“ kann so zu volkswirtschaftlich minimalen Kosten bereitgestellt werden.
Die Regierungen unserer Zeit handeln anders
Der Unterschied zwischen solchermaßen klugem staatlichem Handeln und der praktischen Klimapolitik könnte nicht größer sein. Der Auftrag, Klimaschutz zu betreiben, wurde in Deutschland als Aufforderung an den Staat verstanden, den Menschen zu befehlen, was sie zu tun und was sie zu lassen haben. Das Ergebnis ist eine hochgradig verschwenderische Klimapolitik, die die Freiheitsrechte weit stärker einschränkt als notwendig wäre. Sie steht damit im Widerspruch zum Klima Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem die Begrenzung der Freiheitseinschränkungen vorgeschrieben ist.
Aber es ist nicht nur die Klimapolitik, in der sich zeigt, dass die Regierungen unserer Zeit weit davon entfernt sind, dem hier entworfenen Staatsverständnis zu genügen. Die ungemein schädlichen Eingriffe in den Wohnungsmarkt, die Regulierung der Landwirtschaft, die Vorgabe von Flottengrenzwerten für die Automobilindustrie, das Heizungsgesetz und die Subvention von E-Autos sind nur die Spitze des Eisberges. Die Folgen des fehlgeleiteten Staatsverständnisses sind nicht nur gravierende Ineffizienzen, sondern auch eine fehlende Priorisierung von Staatvorhaben, eine immer übermächtiger daherkommende Bürokratie und eine wachsende Entfremdung der Menschen von den sie regierenden Parteien und Personen. Staatliches Handeln wird von vielen Bürgen nicht mehr verstanden. Es wird nicht mehr als notwendige Ergänzung der individuellen Freiheitsrechte wahrgenommen, sondern oft genug als Übergriffigkeit staatlicher Institutionen. Der partielle Abbau von Bürokratie wird dagegen nicht helfen. Notwendig ist vielmehr eine offene Diskussion darüber, wo die Grenzen staatlichen Handelns verlaufen sollen.
Beiträge zum Thema:
Norbert Berthold (JMU, 2021): Was ist des Marktes, was des Staates? Wuchernde Staatswirtschaften, gezinkte Märkte und ratlose Ordnungspolitiker
- Welchen Staat wollen wir? - 21. Januar 2025
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