Die EZB tut sich zurzeit wegen der vielen Unsicherheiten bei der Prognose der Inflation schwer mit ihren geldpolitischen Entscheidungen. Obwohl die Geldmenge wie in der Vergangenheit wertvolle Orientierung geben könnte, scheint die EZB die Erkenntnisse aus M3 erneut nicht zu beachten. Diese signalisieren einen kräftigen unterliegenden Inflationsdruck, was für ein zügiges geldpolitisches Gegensteuern spricht.
Mittlerweile sendet auch die EZB deutliche Signale für eine Zinserhöhung im Sommer. Leicht dürfte dem EZB-Rat die Entscheidung trotzdem nicht fallen, da diese vom mittelfristigen Inflationsausblick abhängt – und der ist aktuell sehr unsicher.1
Nicht nur, aber auch wegen der hohen Unsicherheit halten wir es für bedauerlich, dass die EZB offenbar bei ihren Analysen und Prognosen erneut auf die wertvollen Hinweise verzichtet, die sich aus der Geldmenge M3 für den mittelfristigen unterliegenden Inflationstrend ergeben – und die aktuell dafür sprechen, mit der Geldpolitik zügig gegenzusteuern.
M3 erklärt den Trend!
Solche Hinweise liefert beispielsweise ein einfaches Modell, das wir erstmals im Februar 2011 vorgestellt hatten. In ihm prognostizieren wir den Inflationstrend allein mithilfe der M3-Vorjahresrate2.
Abbildung 1 zeigt den aus der M3-Entwicklung abgeleiteten Inflationstrend. Es fällt auf, dass der Zusammenhang zwischen dem geschätzten Inflationstrend bis etwa 2006 enger war als nach diesem Zeitpunkt. Das lag sicherlich daran, dass ab diesem Zeitpunkt (nicht nur) der Euroraum durch verschiedene Schocks (Finanzkrise, Staatsschuldenkrise, Corona, zuletzt der russische Krieg gegen die Ukraine) erschüttert wurde, was nicht nur die Geldpolitik der EZB vor große Herausforderungen stellte.
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Der losere Zusammenhang ab 2006 bedeutet jedoch keineswegs, dass die Geldmenge keine wichtigen Erkenntnisse für geldpolitische Entscheidungen liefert. Für die Geldpolitik ist der mittelfristige, unterliegende Inflationstrend entscheidend, wie die EZB selbst immer wieder betont. Und diesen liefert M3! Dabei ist es von nicht zu unterschätzendem Vorteil, dass die M3-Vorjahresrate einen hohen zeitlichen Vorlauf vor der Inflationsrate hat, sodass sich mithilfe bereits vorhandener Daten für M3 der Trend der Inflation in den jeweils kommenden 1¾ Jahren prognostizieren lässt.
Um die These zu untermauern, dass es für eine geldpolitische Entscheidung nicht zwingend notwendig ist, die Inflationsentwicklung in den kommenden Jahren in jedem einzelnen Quartal gut vorherzusagen, wollen wir uns unser Modell ab 2005 noch einmal unter der Lupe anschauen. In Abbildung 2 haben wir dazu den mittels M3-Entwicklung geschätzten Inflationstrend in fünf Phasen unterteilt.
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Phase (1): Inflationsgefahr
Phase (1) bis etwa Ende 2008 war dadurch gekennzeichnet, dass der M3-basierte Inflationstrend oberhalb der tatsächlichen Inflationsentwicklung lag und sich die Dynamik dieses Trends im Laufe der Zeit sogar noch erhöhte. Ein Teil der Diskrepanz zwischen tatsächlicher und geschätzter Inflationsentwicklung ist vermutlich dadurch zu erklären, dass sich die M3-Dynamik in stark steigenden Immobilienpreise in einigen Euro-Ländern entlud. Die Immobilienpreise sind nicht in dem harmonisierten Verbraucherpreisindex, an dem sich die EZB orientiert, enthalten.
Die Botschaft der Geldmenge in Phase (1) war also, geldpolitisch zügig auf die Bremse zu treten. Tatsächlich hat die EZB die Leitzinsen zwischen Ende 2005 und Mitte 2008 um insgesamt 2¼ Prozentpunkte angehoben. Möglicherweise war dieses Vorgehen wie vom Modell signalisiert zu zögerlich. Die Blasenbildung an den Finanzmärkten (inklusive der Immobilienblasen in Irland und Spanien) hat die EZB in jedem Fall nicht verhindert.
Phase (2): Disinflation
Nach der Lehman-Pleite im September 2008 hat die EZB ihre Geldpolitik deutlich gelockert. Der Leitzins fiel bis auf 1%, zusätzlich führte die Notenbank erstmals unkonventionelle Maßnahmen durch. In Phase (2) von Anfang 2009 bis Anfang 2013 signalisierte unser M3-basiertes Modell einen ausgeprägten disinflationären Trend. Der Schätzwert für den Inflationstrend fiel zum Jahreswechsel 2012/2013 sogar auf 0%.
Darüber hinaus lag der Schätzwert für den Inflationstrend ab 2011 deutlich unter der tatsächlichen Inflationsentwicklung. Möglicherweise hätten sich die Tauben im EZB-Rat aus den südlichen Euro-Ländern, die der monetären Analyse üblicherweise sehr skeptisch gegenüberstehen, im Nachhinein gewünscht, sie hätten die M3-Entwicklung stärker beachtet. Denn diese hat 2011 eine anhaltend expansive Geldpolitik signalisiert. Tatsächlich hat die EZB die Leitzinsen 2011 zweimal angehoben. Rückblickend haben einige Tauben diese Entscheidungen als großen Fehler bezeichnet.
Phase (3): Im Schneckentempo aufwärts
Phase (3) ist erstens dadurch gekennzeichnet, dass der auf Basis von M3 geschätzte Inflationstrend die tatsächliche Inflationsentwicklung erkennbar besser nachzeichnet als in Phase (2). Zweitens zeigt der Inflationstrend ganz langsam nach oben, die Schätzwerte bleiben aber durchgehend unter der EZB-Zielmarke von 2%.
Das Problem in dieser Phase war aus Sicht der EZB, dass die Notenbank zwar seit 2014 viele expansive Maßnahmen ergriffen hatte, aber die Inflation stets niedriger als von ihr erwartet blieb, obwohl sich andere wichtige Indikatoren wie das Wachstum oder die Arbeitslosenquote teilweise sogar besser als erwartet entwickelt hatten. Folglich drohte der Notenbank ein Vertrauensverlust, weil sie einen baldigen Inflationsanstieg in Aussicht gestellt hatte, der dann trotz vieler expansiver Maßnahmen wiederholt ausblieb. Einen solchen Vertrauensverlust hätte sie vermeiden können, wenn sie frühzeitig den nur sehr langsamen Aufwärtstrend der Inflation erkannt und diesen entsprechend kommuniziert hätte. Dies wäre mit dem M3-Modell möglich gewesen, während sich die niedrige Inflation offenbar nicht mit den von der EZB verwendeten Ansätzen erklären ließ.3
Phase (4): Die Inflation ist zurück
Die Corona-Pandemie ab März 2020 läutete Phase (4) ein. In ihr beschleunigte sich der M3-basierte Inflationstrend nicht nur, sondern er hat erstmals seit zehn Jahren auch wieder erkennbar über der EZB-Zielmarke von 2% gelegen. Wir hatten damals bereits in der „Woche im Fokus“ vom 3. April 2020 untersucht, wie die einige Wochen vorher ausgebrochene Corona-Pandemie auf die Inflation wirken könnte. Genauer hatten wir unterstellt, dass die Geldmenge M3 bis zur Jahresmitte 2020 um insgesamt 1000 Mrd Euro ansteigt. Dies könnte die Inflation laut Modell wegen der üblicherweise langen Wirkungsverzögerungen in den kommenden zwei bis drei Jahren tendenziell auf bis zu 3% steigen lassen. Die EZB hatte dagegen im Frühjahr 2020 für das Frühjahr 2022 eine Inflationsrate von knapp über 1% vorhergesagt.
Unseres Erachtens liegt die entscheidende Botschaft unseres M3-Modells in Phase (4) darin, dass die EZB den unterliegenden Inflationsdruck merklich unterschätzt, den sie durch ihre massiven Anleihekäufe im Rahmen des Notfall-Kaufprogramms PEPP via einer stark steigenden Geldmenge M3 erzeugt hat. Zwar bestätigt das M3-Modell, dass ein erheblicher Teil des Inflationsanstiegs wohl transitorisch ist: Schließlich lag die Inflationsrate im Euroraum zuletzt bei 7½%, während das Modell den unterliegenden Inflationstrend rund 4 Prozentpunkte niedriger schätzt. Aber der Trend liegt weder unter dem 2%-Ziel (wie längere Zeit von der EZB erwartet) noch sehr nahe am Zielwert (wie zuletzt von der Notenbank vermutet), sondern zumindest laut dem M3-Modell um einiges höher. Unsere Analyse bestätigt also die Kritik nicht weniger Volkswirte, dass die EZB bisher zu zögerlich aus ihrer sehr expansiven Politik ausgestiegen ist.
Phase (5): Inflationsdruck nur langsam geringer
Allerdings ist zu konstatieren, dass die M3-Dynamik in den letzten Quartalen gesunken ist. Verglichen mit dem Hochpunkt von 12,5% im Januar 2021 hat sich die M3-Vorjahresrate praktisch halbiert (März-22: 6,3%). Und die Dynamik könnte noch etwas weiter sinken, wenn die EZB ihre Nettoanleihekäufe wie avisiert demnächst einstellt, und die Geschäftsbanken nicht entsprechend die Rolle als Käufer von Staatsanleihen übernehmen.
In Phase (5) blicken wir in die Zukunft, denn auf Basis der bis März-22 zur Verfügung stehenden M3-Daten lässt sich der unterliegende Inflationstrend bis praktisch Jahresende 2023 schätzen. Zwar ist der Trend tatsächlich rückläufig, aber in nur so geringem Tempo, dass die geschätzte Rate auch Ende 2023 noch über 3% liegt (Abbildung 2).
Die aktuelle Botschaft von M3 lautet also, dass die EZB zügig den Fuß vom Gaspedal nehmen sollte, damit sich der Inflationstrend oberhalb des 2%-Ziels nicht durch zusätzliche Akkommodation noch verhärtet.
Fazit: Schaut (auch) auf M3!
Wir haben gezeigt, dass von der Geldmenge M3 zwar keine perfekte Inflationsprognose in jedem Quartal zu erwarten ist, M3 den für geldpolitische Entscheidungen relevanten unterliegenden Inflationstrend aber gut beschrieben hat.
Gleichzeitig befindet sich die EZB gegenwärtig in einer Situation, in der die Fehler bei den jüngsten Inflationsprognosen ungewöhnlich hoch ausfielen und die Unsicherheit über die weitere Entwicklung weiter groß bleiben dürfte. Um so mehr erscheint es angebracht, dass die EZB bei ihrer Analyse der künftigen Inflationsentwicklung die M3-Entwicklung im Unterschied zu bisher mit berücksichtigt: Die Geldmenge spricht für ein zügiges geldpolitisches Gegensteuern.
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1 So haben EZB-Experten in einer im letzten Wirtschaftsbericht der Notenbank veröffentlichten Analyse zu den jüngsten Fehlern der Inflationsprojektionen der Bank festgestellt, dass Prognosen im gegenwärtigen Umfeld sehr schwierig seien, weil dieses „von der volatilen Preisentwicklung bei Energierohstoffen bestimmt [wird] und sich darüber hinaus durch die Unsicherheit im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg und durch die Effekte des Wiederhochfahrens der Volkswirtschaften nach dem Wegfall der Corona-Beschränkungen weiter verschärft“ hat.
2 Genauer handelt es sich um ein autoregressives Modell der Inflationsrate im Euroraum, in das als einzige zusätzliche erklärende Variable die Vorjahresrate des Trends der Geldmenge M3 mit einem Vorlauf von knapp 1¾ Jahren eingeht. Der Trend von M3 wurde mithilfe eines Hodrick-Prescott-Filters ermittelt. Die Geldmenge M3 umfasst den Bargeldumlauf außerhalb des Bankensystems und täglich fällige Einlagen von Nichtbanken bei Geschäftsbanken im Euroraum, Einlagen mit vereinbarter Laufzeit bis zu zwei Jahren und Einlagen mit einer Kündigungsfrist von bis zu drei Monaten sowie Repogeschäfte, Geldmarktfondsanteile und Schuldverschreibungen mit einer Laufzeit von bis zu zwei Jahren.
3 Wir hatten der EZB deswegen basierend auf der Analyse unseres M3-Modells für den Inflationstrend empfohlen, mit Blick auf den Aufwärtstrend bei der Inflation geduldig zu bleiben und dies auch zu kommunizieren, um keine falschen Erwartungen zu wecken. Vgl. „EZB: Plädoyer für mehr Geduld“, Economic Insight vom 29.8.2017.
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