Die russischen Erdgaspipelines nach Deutschland liefern weiterhin nur zu etwa 20% des Vorkrisenniveaus. Immerhin konnte der Gasverbrauch deutlich gedrosselt werden, und die Erdgasspeicher werden aktuell weiter befüllt. Wir beleuchten die jüngsten Entwicklungen. Deutschland muss wohl auf einen milden Winter hoffen, um ohne Rationierungen auszukommen.
Gospodin 20%
Die Erdgaslieferungen von Russland nach Deutschland laufen auch nach dem Ende der Wartungsarbeiten bei Nordstream 1 weiterhin mit sehr gedrosseltem Tempo (Abbildung 1). Die Pipeline wird aktuell nur mit 20% ihrer Kapazität betrieben, und auch die Pipeline über die Slowakei liefert merklich weniger als in den Vorjahren.
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Aufgrund des in den Sommermonaten geringen Gasverbrauchs können die Erdgasspeicher bisher weiter gefüllt werden, auch, da die Erdgasimporte aus Norwegen oder den Niederlanden moderat zugenommen haben. Der Füllstand der Speicher liegt mit aktuell gut 69% genau im langjährigen Mittel (Abbildung 2). Sollten sich die russischen Lieferungen nicht wieder erhöhen, ist der für November gesetzlich vorgesehene Speicherstand von 95% nach Ansicht der Bundesnetzagentur ohne zusätzliche Maßnahmen nicht zu erreichen (volle Speicher könnten rechnerisch ein knappes Drittel des Gasverbrauchs der Monate Oktober bis April abdecken).
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Haben die Sparbemühungen Erfolg?
Immerhin konnte der Gasverbrauch in den ersten sieben Monaten um knapp 18% gegenüber dem Vorjahresniveau gesenkt werden. Hierbei hatten allerdings die im ersten Halbjahr sehr milden Temperaturen einen erheblichen Anteil; im vergleichbaren Vorjahreszeitraum lag der Gasverbrauch aufgrund des vergleichsweise kühlen Wetters recht hoch (Abbildung 3). Verglichen mit dem Durchschnitt von 2018-2020 ist der Verbrauch um 9% gefallen.
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Bemühungen zum Einsparen von Erdgas gibt es auch in der Stromerzeugung. Diese beruht immer noch zu knapp 15% auf Gaskraftwerken. In den letzten Monaten gab es dort aber kaum noch Fortschritte (Abbildung 4).
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Hierfür sind allerdings zum Teil Umstände verantwortlich, die nicht in deutscher Verantwortung liegen. Denn Frankreich hat aktuell große Probleme mit seinen Kraftwerken. Viele Kernkraftwerke sind aktuell außerplanmäßig für Reparaturarbeiten vom Netz genommen. Frankreich muss daher viel Strom importieren. Der Saldo im Stromhandel mit Deutschland hat sich dabei umgedreht. Hatte Frankreich in den Vorjahren im Sommer netto beträchtliche Strommengen nach Deutschland exportiert, übertrafen im Juni und Juli die Stromimporte aus Deutschland die Exporte um 1,5 TWh (nach einem französischen Exportüberschuss von 2,6 TWh im Juni/Juli 2021). Dies entspricht immerhin 2% der gesamten deutschen Stromerzeugung in diesen Monaten.
Die Temperatur macht’s…
Wie gut Deutschland durch den Winter kommt, hängt nicht zuletzt davon ab, wie kalt es wird. Den Einfluss der Temperatur zeigt beispielsweise ein Vergleich von April 2021, der mit einer Durchschnitttemperatur von 6 Grad recht kühl war, mit dem April 2022 (Durchschnittstemperatur 7,8 Grad). Der Gasverbrauch lag im April 2021 um fast ein Viertel höher als im April des Folgejahres (Abbildung 5). Eine einfache Regression des Gasverbrauchs der Heizmonate Oktober bis April auf die Temperatur zeigt, dass mit jedem Grad weniger der Monatsverbrauch um 7 TWh steigt. Zum Vergleich: Die Anfang des nächsten Jahres in Betrieb gehenden LNG-Terminals können bei nahezu voller Auslastung pro Monat rund 10 TWh bereitstellen. Bei einer längeren Kälteperiode sind Rationierungen wohl unumgänglich.
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… und auch sonst darf nicht viel schiefgehen
Die Gemeinschaftsdiagnose (ein Projekt mehrerer Wirtschaftsforschungsinstitute) kommt in einem Sondergutachten zu dem Schluss, dass selbst bei einer permanenten Drosselung der russischen Gaslieferungen auf 20% des Vorkrisenstands in den meisten Szenarien die Gasspeicher nicht leerlaufen und daher eine Rationierung wohl nicht nötig ist.
Dieser positive Ausgang hängt neben der Temperatur davon ab, ob die LNG-Terminals tatsächlich Anfang des Jahres die erhofften Beiträge leisten können; sie sollen ab Januar ja immerhin rund 10 TWh pro Monat in das Erdgasnetz einspeisen. Sollte es dort zu größeren Verzögerungen kommen, könnten dann doch noch Rationierungen nötig werden.
Am Ende des kommenden Winters wird es aber wohl in jedem Fall sehr knapp mit den Erdgasspeichern werden. Dies vergrößert den Anreiz für Präsident Putin, den Gashahn in den nächsten Monaten noch weiter zuzudrehen, um den wirtschaftlichen und politischen Druck auf Deutschland und Europa zu erhöhen. Die deutsche Gaswirtschaft dürfte damit noch längere Zeit im Krisenmodus bleiben.
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Außerdem sehr interessant in diesem Kontext sind:
https://www.wiwo.de/unternehmen/energie/atomkraft-kommt-zur-gaskrise-eine-stromkrise/28569154.html
und
https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/gasmangel-stromversorgung-101.html
sowie
https://www.daserste.de/information/wirtschaft-boerse/plusminus/videos/gas-110.html
Die zentrale Frage lautet:
Hängt neben der Gasversorgung nun auch die Stromversorgung in Deutschland am seidenen Faden im kommenden Winter?
Ferner sehr zu empfehlen sind:
https://www.wiwo.de/unternehmen/energie/moeglicher-rettungsschirm-wegen-gaskrise-wird-der-staat-stadtwerke-vor-der-pleite-retten/28580486.html
sowie
https://zeitung.faz.net/fas/wirtschaft/2022-08-07/1b3ed6da6932a006e016a22409a24b8f/?GEPC=s3