Sollten es die USA schaffen, mit Russland einen Frieden in der Ukraine auszuhandeln, werden die Kosten für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes und für die Absicherung des Friedens in das Zentrum rücken. Wir versuchen eine grobe Abschätzung des Mittelbedarfs.
Die US-Regierung macht Druck, um möglichst bald einen Frieden oder doch zumindest einen Waffenstillstand in der Ukraine zu erreichen. Dazu sind offenbar direkte Verhandlungen mit Russland ohne die EU und mit unklarer Beteiligung der Ukraine selbst geplant. Ob es unter diesen Voraussetzungen zu einem raschen Ende der Kampfhandlungen kommen kann, lässt sich nur schwer beurteilen. Dennoch rücken bereits jetzt die Kosten eines Wiederaufbaus in der Ukraine in das Zentrum des Interesses. Wir versuchen, einige grobe Anhaltspunkte für den Umfang des Wiederaufbaus zu geben.
Kriegsschäden in der Ukraine…
Eine Abschätzung des Mittelbedarfs für den Wiederaufbau beginnt mit einer Begutachtung der entstandenen Schäden. Die schlimmsten Schäden eines Krieges sind natürlich die menschlichen Verluste: Tote, Verwundete und anderweitig Versehrte. Wir konzentrieren uns hier auf die enormen materiellen Verluste und stützen uns dabei auf die von der Ukraine gemeinsam mit EU, Weltbank und UN vorgelegten Schätzungen der Kriegsschäden (Rapid Damage and Need Assessment, RDNA) [1]. Bislang liegen drei solche Schätzungen vor, die letzte wurde vor einem Jahr mit dem Stand von Ende 2023 veröffentlicht
- Direkte Schäden. Damit sind die Zerstörungen von Wohnraum, Infrastruktur oder Produktionsanlagen gemeint. Ende 2023 waren rund 10% des Wohnraums der Ukraine beschädigt oder zerstört. Dazu kommen Zerstörungen der Infrastruktur oder an Produktionsanslagen. Alles in allem veranschlagt man diese Schäden auf über 150 Mrd Dollar (Abb. 1). Nach einem weiteren Jahr Krieg dürften sie nun über 200 Mrd Dollar liegen.
- Indirekte Schäden („Losses“). Kampfhandlungen und Vertreibungen führen zu Produktionsausfälle oder Ernteverlusten. So waren per Ende 2023 5,9 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine in anderen europäischen Ländern registriert, dazu kamen 3,7 Millionen Binnenflüchtlinge. Zudem sind bis zu einer Million Personen in der ukrainischen Armee. Millionen Menschen wurden dem Arbeitsmarkt in der Ukraine somit entzogen. Diese Menschen konnten in den letzten drei Jahren somit nicht mehr oder zumindest nicht in gewohntem Umfang zur Wertschöpfung beitragen. Ausgefallene Unterrichts- und Ausbildungszeiten haben ebenfalls ökonomische Folgekosten. Die indirekten Schäden sind deutlich höher als die direkten und werden per Ende 2023 mit rund 500 Mrd Dollar veranschlagt.
Im Gegensatz zu den direkten Schäden lassen sich die indirekten später nur teilweise wieder ausgleichen – so ist eine ausgefallene Ernte unwiederbringlich verloren.
… und der Bedarf des Landes für Wiederaufbau und Erholung
Die Berichte der Ukraine und ihrer Partner ermitteln neben der Erfassung der Schäden auch den Bedarf für den Wiederaufbau des Landes („Need“). Der so ermittelte Betrag ist laut RDNA eine Schätzung der Mittel, die zur „Wiederherstellung der Vorkriegsnormalität“ notwendig sind. Erfasst werden die zu erwartenden Kosten von Reparatur und Wiederherstellung, einschließlich einer Prämie für einen höheren Baustandard als beim zerstörten und beschädigten Bestand. Hinzu kommt ein Ausgleich für die globale Inflation, Preissteigerungen aufgrund des Bauvolumens oder höhere Versicherungskosten. Ebenso berücksichtigt werden die Kosten der Kampfmittelbeseitigung.
Der Mittelbedarf für den Wiederaufbau wurde vom RDNA-3 (dem dritten entsprechenden Bericht) per Ende 2023 auf 486 Mrd. Dollar geschätzt. Nimmt man zum Ausgleich der zwischenzeitlich verursachten zusätzlichen Schäden einen ähnlichen Anstieg wie 2023 an, dürfte sich der Bedarf auf 550 Mrd Dollar erhöht haben.
Hier sind einige Einordnungen vorzunehmen:
- Erstens erstreckt sich dieser angenommene Bedarf über einen Zeitraum von zehn Jahren. Im Durchschnitt also auf 55 Mrd Dollar im Jahr, wobei der Bedarf am Anfang vermutlich höher liegen wird, um die drängendsten Schäden zu beheben.
- Zweitens ist mit der Bedarfsschätzung noch keine Aussage darüber getroffen, wer die nötigen Ressourcen bereitstellt. Es wird wohl nicht der gesamte Mittelbedarf aus dem Ausland gedeckt werden, sondern ein erheblicher Teil auch von der Ukraine selbst.
- Drittens werden weder das (westliche) Ausland noch die Ukraine Wiederaufbauhilfen für die vermutlich weiterhin von Russland besetzten Gebiete leisten. Diese, etwa im Donbas, sind besonders stark in Mitleidenschaft gezogen worden, da sie der Schauplatz schwerer Kampfhandlungen waren.
- Viertens schließlich sind ökonomische Grenzen nicht aus dem Auge zu verlieren. Die Kernfrage hier ist, wie viel Mittel eine Wirtschaft der Größe der Ukraine im Jahr überhaupt sinnvoll verwenden kann.
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… vor dem Hintergrund der ukrainischen Wirtschaft
Aus realwirtschaftlicher Sicht wären Wiederaufbauhilfen aus dem Ausland gleichbedeutend mit der Finanzierung und Bereitstellung der für den Aufbau notwendigen Importe. Dies wären beispielsweise Maschinen (darunter Baumaschinen), Generatoren, Materialien, Fahrzeuge etc. Diese würden dann in den ukrainischen Produktionsapparat integriert oder beim Wiederaufbau verwendet werden.
Aktuell leidet die Ukraine unter einem Engpass an Arbeitskräften. Bei einem etwaigen Friedensschluss könnten zahlreiche der im Ausland untergebrachten ukrainischen Flüchtlinge ins Land zurückkehren, und auch bei der Armee wäre eine gewisse Demobilisierung wahrscheinlich. Die Arbeitsbevölkerung würde dadurch wieder steigen und die aktuell bestehenden Engpässe bei Arbeitskräften könnten gelindert werden.
Welches Ausmaß an ausländischen Hilfeleistungen (Importen) könnte die Ukraine nach einer weitgehenden Reintegration der ukrainischen Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt ohne große Verspannungen „verarbeiten“? Ein Anhaltspunkt ist die Wirtschaftsleistung vor der Invasion: 2021 hatte die Ukraine ein BIP von 200 Mrd. Dollar. Sollte das Ausland die gesamten für den Wiederaufbau nötigen Ressourcen von 55 Mrd. Dollar im Jahr tragen, entspräche dies mehr als einem Viertel des Vorkriegs-BIP der Ukraine.
Ein Teil der Mittel würde die vom Ausland gelieferten Waren bezahlen und damit nicht in die ukrainische Wirtschaft fließen. Zudem dürfte ein Teil der Mittel an ausländische Baufirmen fließen, die mit ausländischen Arbeitskräften in der Ukraine tätig werden könnten. Dies könnte den Überhitzungseffekt weiter abmildern. Allerdings würden auch solche Firmen Zuarbeiter und Lieferanten in der Ukraine beschäftigen, sie bräuchten Unterkünfte, und die „Gastarbeiter“ würden Geld in der Ukraine ausgeben.
Somit bleibt die Gefahr bestehen, dass der zu erwartende erhebliche Mittelzufluss das Risiko einer wirtschaftlichen Überhitzung mit sich bringt und möglicherweise eine halbwegs gleichgewichtige Wirtschaftsentwicklung erschwert.
Zum Vergleich: Der immer wieder als Beispiel für eine erfolgreiche Hilfe beim Wiederaufbau kriegszerstörter Wirtschaften angeführte Marshallplan überstieg nur in seltenen Fällen 2%-3% des BIP der Empfangsländer.
Unter dem Strich
Wie viele Mittel müssten die ausländischen Partner für die Ukraine längerfristig bereitstellen? Wir treffen dazu einige Annahmen:
- Die Militärhilfe wird vorerst unverändert weitergeführt. Bis Ende 2024 addieren sich die militärischen Leistungen der Partner der Ukraine auf 130 Mrd. Dollar, also rund 40 Mrd. Dollar pro Jahr [2].
- Die Wiederaufbauhilfe setzen wir mit 20-25 Mrd. Dollar pro Jahr an (damit würde knapp die Hälfte des Wiederaufbausbedarfs vom Ausland gedeckt). Dies trägt der oben angesprochenen „Aufnahmefähigkeit“ der ukrainischen Wirtschaft Rechnung.
- Die Kosten für die Unterbringung der Flüchtlinge (bisher etwa 40 Mrd. Dollar pro Jahr) würden bei einem Waffenstillstand/Friedensschluss wohl merklich fallen (hier sind aktuell besonders Polen und Deutschland belastet). Entweder ziehen die Ukrainer wieder zurück in ihre Heimat. Oder sie bleiben in ihren Aufnahmeländern und würden sich dann nach und nach in den Arbeitsmarkt integrieren und nicht dauerhaft als Flüchtling alimentiert werden [3].Wir setzten vorerst 25 Mrd. Dollar an Flüchtlingskosten an.
Alles in allem wären damit 90 Mrd. Dollar pro Jahr aufzubringen. Selbst wenn diese Kosten vollständig von der EU zu tragen wären, müsste die EU damit nicht viel mehr als bisher bereitstellen. Bislang kamen insgesamt 240 Mrd. Dollar von der EU (80 Mrd. Dollar pro Jahr), 115 Mrd. Dollar von den USA und knapp 170 Mrd. Dollar von anderen Ländern (Abb. 2).
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Die EU kann sich die Ukraine-Hilfen leisten
Leistungen für den ukrainischen Wideraufbau würden zu erhöhter Produktion in der EU führen, beispielsweise an Baumaschinen und Baumaterialien. Allerdings sollte die Konjunkturwirkung hier nicht überschätzt werden. Schließlich beläuft sich das BIP der EU aktuell auf etwa 15.000 Mrd. Dollar (Abb. 3). Selbst wenn die kompletten 90 Mrd. Dollar zu höherer Produktion in der EU führen würden – eine unrealistische Annahme – entspräche dies einem Konjunktureffekt von allenfalls 0,6% der Wirtschaftsleistung. Umgekehrt heißt dies auch, dass die EU sich diese Zuschüsse sicherlich ohne große Probleme leisten kann.
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Größerer Kostenblock: Abschreckung
Eine weit größere Belastung als Hilfen für die Ukraine wäre die unumgänglichen Investitionen in die eigene Verteidigungsfähigkeit der EU. Im letzten Jahr gaben die europäischen Nato-Staaten rund 2% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung aus. Aktuell werden Zahlen von etwa 3,5% des BIP diskutiert. Die Erhöhung um 1,5 Prozentpunkte des BIP entsprächen Zusatzausgaben von rund 230 Mrd. Dollar pro Jahr. Dabei ist wohl keine gleichmäßige Erhöhung zu erwarten. Staaten, die in der Nähe der Ukraine – und damit in der Nähe der russischen Bedrohung – liegen, würden wohl mehr ausgeben. So belaufen sich die polnischen Verteidigungsausgaben bereits 2024 auf 4,1% des BIP.
Hinzu kommt, dass eine etwaige „Schutztruppe“ zur Überwachung eines Waffenstillstandes oder Friedensschlusses in der Ukraine wohl ebenfalls aus der EU und aus Großbritannien kommen müsste; die Amerikaner haben einer Beteiligung mit eigenen Truppen bereits eine Absage erteilt. Hier ist wohl mit erheblichen Truppenstärken für eine glaubwürdige Absicherung zu rechnen. Die Verteidigungsausgaben gerade für die wahrscheinlichen Truppensteller (Deutschland, Frankreich, Polen und Großbritannien) werden daher wohl noch höher liegen müssen.
[1] vgl. Third Rapid Damage and Needs Assessment (RDNA3), February 2022 – December 2023, veröffentlicht im Februar 2024 (zurück zum Text)
[2] Diese Zahlen stützen sich auf den Ukraine Support Tracker des IfW in Kiel. (zurück zum Text)
[3] Laut Zuwanderungsmonitor des IAB waren im November 2024 rund 296 Tsd. Ukrainer in Deutschland beschäftigt, ein Anstieg von 83 Tsd. im Vergleich zum Vorjahr. Die Beschäftigungsquote ist auf knapp 32% gestiegen. (zurück zum Text)
- Gastbeitrag
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