Am Nachmittag des 16. September 1992 fuhr ich mit dem Taxi vom europäischen Sitz von Goldman Sachs in London zum Flughafen Heathrow, um ein Flugzeug nach Frankfurt zu nehmen. Als wir am Buckingham Palace vorbeifuhren, klingelte mein Mobiltelefon.
Ein Journalist der deutschen Börsenzeitung fragte mich, ob ich erwarten würde, dass es den britischen Behörden gelingen wird, den Wechselkurs des Pfunds im Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems zu verteidigen. Das Pfund hatte sich diesem Mechanismus erst zwei Jahre zuvor angeschlossen und war gegenüber der D-Mark unter starken Verkaufsdruck geraten. Das Versprechen von Finanzminister Norman Lamont, „alles Notwendige zu tun“, um das Pfund zu verteidigen, klang mir noch in den Ohren. Also sagte ich, die Behörden würden die Spekulanten wohl abwehren können.
Als ich am nächsten Tag früh zur Arbeit im Frankfurter Messeturm fuhr, hörte ich im Radio, dass das Pfund den Wechselkursmechanismus verlassen hatte. Der Beschluss der britischen Regierung war am Abend gefasst worden, während ich im Flugzeug saß. Als ich im Büro ankam, fand ich eine Ausgabe der Börsenzeitung auf meinem Schreibtisch. Die Titelseite war dem „Kampf um das Pfund“ gewidmet, und an prominenter Stelle des Artikels stand ein Zitat von mir: Mayer erwartet, dass das Pfund festbleibt. Dank eines frühen Redaktionsschlusses der Zeitung war dies nicht der beste Tag in meiner Karriere.
Vielleicht muss man die Schlacht um das Pfund erlebt haben, die zu weiteren Schlachten um andere Währungen führte, um nicht von der neuesten Erfindung der Europäischen Zentralbank überzeugt zu sein. Das Transmissionsschutzinstrument (TPI) der EZB, ein weiteres Element in der Buchstabensuppe der geldpolitischen Instrumente der Zentralbank, soll verhindern, dass die Marktkräfte die Wirtschafts- und Währungsunion, den Nachfolger des europäischen Währungssystems, sprengen.
Der TPI erinnert mich an die Abschaltvorrichtung für die Abgasreinigung in Verbrennungsmotoren. Die Reinigung wird bei bestimmten Lufttemperaturen automatisch abgeschaltet. Mit dem TPI können die Marktkräfte durch Intervention der EZB ausgeschaltet werden, wenn die Zinsdifferenz hoch verschuldeter Euro-Länder zu deutschen Staatsanleihen eine bestimmte Grenze überschreitet, die die EZB wohl geheim halten wird. Die Abschalteinrichtung für die Abgasreinigungsanlage hat technisch einwandfrei funktioniert und erst bei ihrer Entdeckung für Unmut gesorgt. Bei dem TPI bin ich mir da nicht so sicher.
Der Grund dafür ist, dass dieses Instrument besorgniserregende Ähnlichkeiten mit dem Wechselkursmechanismus (WKM) des Europäischen Währungssystems aufweist, bei dem die Verkettung der Währungen von strukturell unterschiedlichen Ländern der Europäischen Union zu immer wiederkehrenden Krisen führte, von denen der Schwarze Mittwoch nur eine von vielen war. Immer wieder verkauften Spekulanten die aus ihrer Sicht überbewerteten Währungen auf Termin gegen die D-Mark. Und immer wieder versuchten die betroffenen Zentralbanken, ihre unter Druck geratenen Währungen durch Zinserhöhungen zu verteidigen – die zum Teil extreme Höhen erreichten. Da dies Gift für die Wirtschaft war, konnten sie nicht lange durchhalten, und die Spekulanten gewannen.
Im Gegensatz zum WKM sind die von der EZB festgelegten Interventionsgrenzen für den TPI auf dem Anleihemarkt nicht bekannt. Klar ist jedoch, dass die Spreads (Zinsdifferenzen zu Bundesanleihen) nicht zu groß werden dürfen. Seit 2018 scheint die EZB zum Beispiel den italienischen Spread deutlich unter drei Prozentpunkten halten zu wollen. Spekulanten könnten daher vorhersagen, dass ein Terminverkauf italienischer 10-jähriger Staatsanleihen gegen Bundesanleihen nicht mehr als 3 % auf Jahresbasis kosten würde. Das sind Peanuts im Vergleich zu den Strafzinsen im EWS-Wechselkursmechanismus, die am Schwarzen Mittwoch vorübergehend auf Jahresraten von 15 % und zur Verteidigung der schwedischen Krone sogar auf 500 % festgesetzt wurden. So scheint es heute billig, auf einen Austritt Italiens aus der WWU zu wetten, wenn die italienische Politik nach den Wahlen am 25. September im Chaos versinken sollte.
Der TPI ist eines von mehreren Instrumenten, um der „Fragmentierung” des Euroraums entgegenzuwirken (andere sind direkte monetäre Transaktionen, „OMT“, und die „flexible Reinvestition“ fälliger Anleihen, die im Rahmen des Pandemie-Notkaufprogramms „PEPP“ erworben wurden). Aber um welche „Fragmentierung“ geht es? Wenn das Ziel darin besteht, die gleichmäßige Übertragung der Geldpolitik zu gewährleisten, sollte der Schwerpunkt auf dem Geldmarkt liegen, wo die Geldpolitik ihre Wirkung entfaltet. Das TPI zielt jedoch auf Staatspapiere „mit einer Restlaufzeit zwischen einem und zehn Jahren“ ab. Dies lässt den starken Verdacht aufkommen, dass der TPI in Wirklichkeit ein verdecktes Instrument zur monetären Finanzierung bedürftiger Staaten ist.
Die Aktivierung des TPI ist an die Bedingung geknüpft, dass das unter Druck stehende Land nicht unter wirtschaftlichen Ungleichgewichten und Verzerrungen leidet. Wenn dies jedoch der Fall ist, wäre es sehr überraschend, wenn der Markt die Spanne ausweiten würde. Die Aktivierung des TPI zur Begrenzung der Spreads wäre nur möglich, wenn sich die Marktteilnehmer völlig irrational verhalten würden. Es ist jedoch viel wahrscheinlicher, dass die Marktteilnehmer Anleihen aus guten Gründen verkaufen. Dann kann die EZB den TPI nur aktivieren, wenn sie die eigens dafür festgelegten Bedingungen missachtet. Man darf davon ausgehen, dass die EZB davor nicht zurückschrecken wird, wenn es politisch opportun ist.
Höchstwahrscheinlich werden die nationalen Zentralbanken die Anleihen ihrer eigenen Regierungen kaufen, wenn das TPI aktiviert wird, um die Spreads zu kontrollieren, wie sie es beim Kaufprogramm für den öffentlichen Sektor getan haben. Nach gängiger Meinung übernehmen sie damit das Anlagerisiko. Dies ist jedoch nur scheinbar richtig. In Wirklichkeit überweisen die Verkäufer der Anleihen die erhaltenen Gelder in das sichere Land, d. h. Deutschland. Im Gegenzug bekommt Deutschland dann Forderungen an das Eurosystem im Interbankenzahlungssystem, Target-2. Folglich übernimmt Deutschland den größten Teil des Risikos eines Auseinanderbrechens der WWU.
Wie der EWS-Wechselkursmechanismus dürfte auch der TPI an seine Grenzen stoßen, wenn die Flucht aus risikoreichen Anleihen massiv wird. So könnten beispielsweise spekulative Terminverkäufe italienischer Staatsanleihen zu einer Panik unter den Inhabern dieser Anleihen führen. Wenn sie die Verkaufserlöse nach Deutschland schicken, werden die Target-2-Salden explodieren. Schon heute schuldet Italien in diesem System über 600 Mrd. Euro, während Deutschland Forderungen in Höhe von 1,2 Billionen Euro hat (Abbildung 1). Die Anleihekäufe der Banca d’Italia im Rahmen der Ankaufsprogramme der EZB waren der Hauptgrund für den Anstieg der Target-Verbindlichkeiten Italiens in den letzten Jahren.
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Von den italienischen Staatsschulden in Höhe von 2,8 Billionen € befinden sich bereits 740 Mrd. € in der Bilanz des Eurosystems, wobei fast alle von der Banca d’Italia gehalten werden. Müsste die Banca d’Italia noch einmal so viel aufkaufen, könnten die Target-2-Verbindlichkeiten Italiens deutlich über die Billionengrenze steigen und die Forderungen Deutschlands könnten 2 Billionen € übersteigen (Abbildung 2). Der Anteil der Target-2-Forderungen am Nettoauslandsvermögen Deutschlands könnte von heute rund 46 % auf fast 100 % ansteigen. Mit anderen Worten, fast das gesamte Nettoauslandsvermögen Deutschlands – und nicht nur weniger als die Hälfte wie heute – könnte verschwinden, wenn die EWU auseinanderbricht.
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In der Krise des Europäischen Währungssystems haben die unter Druck stehenden Regierungen schließlich die Reißleine gezogen. Heute müsste das Deutschland tun, wenn sein finanzielles Risiko in der EWU außer Kontrolle gerät. Aber das wird die Berliner Regierung wohl kaum machen. Eher wird sie die Augen schließen und beten. Wenn das nichts fruchtet, verliert der deutsche Steuerzahler eine Menge Geld.