Kollektivismus auf dem Vormarsch

Für viele Bürger erscheint „Vater Staat“ als verlässlicher Partner, der das Schiff durch die stürmische See des 21. Jahrhunderts manövriert. Dabei spielt es weniger eine Rolle, wer gerade das Steuer innehat, allein die Vorstellung des sich kümmernden Staates löst bei Teilen der Bevölkerung ein Wohlgefühl des Vertrauens aus. Vor allem in Krisen, in denen Märkte scheinbar keine effizienten Lösungen hervorbringen können, werden oftmals staatliche Korrekturen befürwortet. Dies ist insofern überraschend, weil Regierungen einerseits insbesondere an der Ausdehnung und Erhaltung ihrer Macht interessiert sind und die Geschichte andererseits lehrt, dass der Staat ein vergleichsweise schlechter Planer ist.

Dass die Politik wieder eine deutlich aktivere Rolle spielt, ist nicht nur ein Gefühl, sondern ist belegbar. Die deutsche Staatsquote ist zwischen 2019 – also dem letzten Jahr vor der COVID-19-Pandemie – und 2021 von 45,0 % auf 51,6 % des BIP gestiegen. Noch nie war der Anteil der Staatsausgaben an der Wirtschaftsleistung in der Geschichte der Bundesrepublik so hoch wie heute. Mit der Staatsquote ist der Staatseinfluss aber bei weitem nicht vollständig beschrieben, denn sie erfasst nur die Ausgaben des Staates, nicht aber die Regulierungen und damit Eingriffe in private Verfügungsrechte. Doch genau diese Interventionen haben während der Pandemie ein zuvor kaum vorstellbares Maß erreicht. Ob rigide Auflagen für Gastronomie- und Beherbergungsbetriebe, faktische Berufsausübungsverbote (z.B. für Musiker) oder Kontaktverbote und Ausgangssperren für Privatpersonen – die Schärfe der staatlichen Eingriffe war kaum zu überbieten. Dennoch bleiben sie in einer Kennzahl wie der Staatsquote unberücksichtigt. Im Zuge der Energiekrise, die mit Blick auf die Entscheidung der Regierung-Merkel im Jahre 2011 wohl nicht allein das Resultat der russischen Invasion in der Ukraine sein dürfte, drohen im bevorstehenden Winter womöglich erneut massive Eingriffe in die Privatsphäre.

Die zunehmenden staatlichen Eingriffe werden oft mit der Existenz sogenannter negativer externer Effekte bzw. sozialer Kosten begründet. Ökonomen verstehen darunter Nutzenveränderungen bei unbeteiligten Dritten, für die diese nicht kompensiert bzw. entschädigt werden. Ein Beispiel aus der Praxis: Autofahrer müssen die Kosten für den PKW und die Kraftstoffe zahlen. Diese „privaten Kosten“ spürt der Autofahrer in seinem Portemonnaie und er berücksichtigt sie bei seiner Entscheidung, ob er eine Fahrt antritt. Übersteigt der Nutzen, den sich der Autofahrer von der Fahrt verspricht, die Kosten, wird er die Fahrt antreten. Es gibt beim Autofahren aber eine Reihe externer Effekte, die bei unbeteiligten Dritten Kosten bzw. Unannehmlichkeiten verursachen. Umweltschäden, Lärmbelästigung oder die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer berücksichtigen die meisten Autofahrer typischerweise nicht oder nur unzureichend im eigenen Kosten-Nutzen-Kalkül. Solche negativen Externalitäten sind einerseits bedauerlich, gehören aber andererseits zum gesellschaftlichen Zusammenleben und sie begegnen uns täglich.

Der Staat bemüht sich seit jeher durch unterschiedliche Maßnahmen um einen Interessenausglich und damit um eine „Internalisierung“ der sozialen Kosten beim Verursacher: So soll die Mineralölsteuer einen Teil der Umweltkosten für den Autofahrer spürbar machen. Geschwindigkeitsbegrenzungen in Wohngebieten sollen die Unfallgefahr und die Lärmbelästigung reduzieren.

Dass die Politik für einen Interessenausgleich zwischen den Bürgern sorgt, wenn objektiv hohe soziale Kosten vorliegen, ist grundsätzlich in Ordnung, wenngleich viele negative externe Effekte erst dadurch entstehen, dass Verfügungsrechte nicht in privater Hand sind. Problematisch ist es jedoch, dass dem Staat im Regelfall die Informationen fehlen, wie hoch die sozialen Kosten tatsächlich sind, da er die subjektiven Kosten-Nutzen-Kalküle der Individuen nicht kennen kann. Häufig trifft er dafür Annahmen, die falsch sein können, zum Beispiel weil gut organisierte Lobbygruppen dafür sorgen, dass soziale Kosten aufgebauscht werden. Die Politik glaubt dann, unbedingt eingreifen zu müssen. Nicht selten sind es aber Partikularinteressen und keineswegs die Interessen einer breiten Öffentlichkeit, die von Aktivisten und Lobbyisten vertreten werden.

In den letzten Jahren greift die Politik immer öfter mit teils weitreichenden Maßnahmen in das Zusammenleben der Bürger ein. Möglicherweise liegt es daran, dass Aktivisten- und Lobbygruppen immer mehr Einfluss auf die Politik haben. Möglicherweise lassen sich Politiker aber auch stärker von Meinungsumfragen beeinflussen. Hier nur drei Beispiele für Umfragen und Initiativen, die Einfluss auf die gesellschaftlichen und politischen Debatten haben.

  • Anfang 2022, also schon vor der russischen Invasion in die Ukraine, befürworteten rund zwei Drittel der Deutschen ein allgemeines Tempolimit von 130 km/h auf den Autobahnen. Als Gründe für ein Tempolimit werden üblicherweise Sicherheitsaspekte, der Klimaschutz und aktuell insbesondere Einsparungen beim Kraftstoffverbrauch genannt.
  • Immer wieder melden sich Millionäre zu Wort und fordern höhere Steuern für Reiche, also letztlich für sich selbst. In Deutschland setzt sich eine Gruppe von Millionären mit dem Appel „Tax me now“ u.a. für höhere Vermögen-, Kapitalertrag- sowie Erbschaft- und Schenkungssteuern ein. So entsteht in der Öffentlichkeit zuweilen der Eindruck, es gebe eine große Bereitschaft oder gar Sehnsucht bei den Wohlhabenden und Vermögenden, höhere Steuern zu zahlen. Der Staat müsse nur endlich handeln und die Steuern für alle Vermögenden heraufsetzen.
  • Angesichts der aktuell thematisierten Corona-Welle im Sommer haben sich kürzlich in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey fast 50 % der Befragten für eine umgehende Verschärfung der Corona-Regeln ausgesprochen.

Alle drei Fälle haben eines gemeinsam: Sie signalisieren, der Staat müsse handeln, um dringende Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Dabei verschanzen sich die Befürworter eines Interventionismus oftmals hinter wohlklingenden aber de facto kaum operationalisierbaren Begriffen wie „Gemeinwohl“. Völlig ausgeblendet wird hingegen das Individuum mit seinen Bedürfnissen, die von Mensch zu Mensch variieren. Bei der Diskussion um negative externe Effekte wird bisweilen auch kaum thematisiert, ob es adäquate Abwehrmöglichkeiten gibt, die ohne den eingreifenden Staat durchzuführen wären. Jeder Einzelne kann auch „auf eigene Faust“ aktiv werden. Wer für ein Tempolimit eintritt, kann darauf verzichten, schneller als 130 zu fahren – er schützt damit die Umwelt, spart Benzin und senkt gegebenenfalls das Unfallrisiko für sich und für andere. Wer die Steuern für zu niedrig hält, kann dem Staat freiwillig Geld übertragen und damit den finanziellen Handlungsspielraum des Staates erweitern. Und wer für schärfere Corona-Regeln eintritt oder eher risikoscheu ist, hätte die Möglichkeit, sich zu schützen, indem er bei sich selbst anfängt und die bekannten Schutzmaßnahmen umsetzt.

Nun lässt sich leider nicht nachvollziehen, ob sich die einzelnen Umfrageteilnehmer in Einklang mit ihren eigenen Forderungen verhalten. Aber es lässt sich zumindest näherungsweise überprüfen, ob sich die Gesellschaft insgesamt so verhält, wie es Umfrageergebnisse vermuten lassen bzw. wie es die Initiativen von Lobbygruppen suggerieren. Beim Tempolimit passt das tatsächliche Fahrverhalten recht gut zu den Umfrageergebnissen. Laut IW Köln fahren fast 80 % der Autofahrer auch auf Autobahnstrecken ohne Tempolimit langsamer als 130 km/h – und das schon vor der aktuellen Energiekrise.

Ganz anders sieht es bei der Initiative der erwähnten Millionärsgruppe aus. Der Bund führt ein spezielles Schuldentilgungskonto, auf das jeder Bürger Geld einzahlen kann – eine gute Gelegenheit für Menschen wie diese Millionäre, die freiwillig gern mehr Steuern zahlen möchten. Doch das Ergebnis ist ernüchternd. Im Jahr 2021 haben lediglich 236 Bürger Geld auf dieses Konto eingezahlt. Insgesamt sind dadurch gerade einmal 63.988,54 Euro zusammengekommen. Offenbar handelt es sich bei der Bereitschaft der „Tax me now“-Initiative eher um ein Lippenbekenntnis als um ein ernst gemeintes Anliegen.

Verhaltensökonomen könnten einwenden, dass die Menschen von „bedingter Kooperationsbereitschaft“ getrieben sind. Das heißt, sie sind bereit, bei bestimmten Dingen mitzumachen, wenn alle anderen auch mitmachen – sonst wäre womöglich die Wirkung nicht groß genug. Abgesehen davon, dass dieses Argument jeder Idee kollektivistischer Politik Tür und Tor öffnet, stößt es in der Praxis an seine Grenzen. So zum Beispiel bei der genannten COVID-19-Umfrage: Während sich in der Umfrage knapp 50 % der Befragten für eine umgehende Verschärfung der Corona-Regeln aussprachen, trug im öffentlichen Raum kaum noch jemand eine Maske. Mit einer Maske hätte sich aber jeder vor einer Corona-Infektion schützen können, ganz unabhängig davon, wie ansonsten gerade die Regeln sind. Es braucht keine Kooperation der anderen, um seine eigene Gesundheit zu schützen. Warum also sieht man inzwischen so wenige Menschen ohne Maske, wenn sich so viele ein strengeres Corona-Reglement wünschen?

Mühelos lassen sich weitere Beispiele finden, bei denen das individuelle Verhalten nicht zu den eigenen Forderungen an Politik und Gesellschaft passt. Die Menschen leben ihre Freiheiten gern aus, äußern sich öffentlich aber ganz anders, was möglicherweise mit dem Phänomen des Moralunternehmertums und dem Primat der (richtigen) Haltung erklärbar ist. Eine solche Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit mag teilweise auf die „bedingte Kooperationsbereitschaft“ zurückzuführen sein. Vielleicht lieben die Menschen ihre Freiheit aber auch einfach viel mehr, als sie zugeben mögen und in Umfragen zum Ausdruck bringen. Kollektive Regeln und Freiheitseinschränkungen sind in Umfragen leicht zu fordern, solange man sie im richtigen Leben nicht umsetzen muss.

Hinweis: Eine stark gekürzte Version des Beitrages erschien in der WiWo vom 18. September 2022.

Blog-Beiträge zum Thema:

Christoph A. Schaltegger (2022): Der Markt braucht den Staat. Und der Staat braucht Regeln. Was uns die soziale Marktwirtschaft heute zu sagen hat

Norbert Berthold (2021): Was ist des Marktes, was des Staates? Wuchernde Staatswirtschaften, gezinkte Märkte und ratlose Ordnungspolitiker

Norbert Berthold (2019): Tiefer als die Ökonomie. Zerbröseln die Fundamente der Sozialen Marktwirtschaft?

Florian Follert und Jörn Quitzau
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Eine Antwort auf „Kollektivismus auf dem Vormarsch“

  1. „Mit einer Maske hätte sich aber jeder vor einer Corona-Infektion schützen können, ganz unabhängig davon, wie ansonsten gerade die Regeln sind. Es braucht keine Kooperation der anderen, um seine eigene Gesundheit zu schützen. Warum also sieht man inzwischen so wenige Menschen ohne Maske, wenn sich so viele ein strengeres Corona-Reglement wünschen?“

    So einfach ist es nicht. Der Schutzeffekt des Maskenträgers ist für seine Umwelt (sollte er infiziert sein) erheblich größer als für sich selbst (sollte jemand in der Umwelt infiziert sein). Jeder profitiert also von der Maske des anderen.

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