Der Markt braucht den Staat. Und der Staat braucht Regeln
Was uns die soziale Marktwirtschaft heute zu sagen hat

Soziale Marktwirtschaft – das ist ein wohlklingender Begriff, der zu einem inhaltsleeren Allgemeinplatz zu verkommen droht. Denn heute wird die soziale Marktwirtschaft als Kompromissformel aufgefasst: Marktwirtschaft wird geduldet, um Staatseinnahmen zu generieren und damit das an sich unsoziale Marktergebnis zu korrigieren.

Diese Sicht ist allerdings ziemlich verkürzt. Natürlich kann die Marktwirtschaft soziale Härten verursachen, die es in einem demokratischen Aushandlungsprozess zu korrigieren gilt. Die soziale Komponente der Marktwirtschaft selbst sollte aber nicht vergessen werden. Denn sie vertraut auf die gestaltenden Kräfte der Menschen in einer fairen Wirtschaftsordnung. Das ist eine Wirtschaftsordnung der Menschen und nicht der Technokraten.

Damit schaffen viele Wohlstand für alle – Wohlstand, der die Breite der Bevölkerung erfasst. Die Konsumenten und Bürger entscheiden – die Ordoliberalen im Nachkriegsdeutschland nannten dies die Konsumentensouveränität. Das Soziale steht nicht in Konkurrenz zur Marktwirtschaft, sondern ist zu einem guten Teil die Marktwirtschaft selbst.

Verantwortlich für die Popularität der sozialen Marktwirtschaft ist Ludwig Erhard. Der ehemalige Wirtschaftsminister und deutsche Bundeskanzler erlangte seine Bekanntheit für die Preisfreigabe. Am Tag nach der von den amerikanischen Besatzungsmächten angeordneten Währungsreform im Juni 1948 hob er kurzerhand über 400 Preisbindungen, Rationierungen und andere Kontrollen auf.

Die Dramatik der damaligen Tage ist für uns Nachgeborene nicht einfach zu erfassen. Zu selbstverständlich scheint uns das Erreichte – zu unsympathisch scheint uns eine für Klientelismus anfällige Mangelwirtschaft. Doch die westdeutsche Gesellschaft war damals kurz nach dem verlorenen Krieg mit den Gesetzen einer Marktwirtschaft nicht vertraut. Ganz im Gegenteil. Ludwig Erhard wurde anfangs als verantwortungsloser Hasardeur öffentlich diffamiert.

Trotzdem: Ludwig Erhard blieb seinen Überzeugungen treu. So kam es, dass die Preisfreigabe zwar mit knappem Mehr verabschiedet, die Genehmigung durch die Militärregierungen jedoch noch ausstehend war. Erhard musste also ohne die ausstehenden Zustimmungen erreichen, dass Währungs- und Wirtschaftsreform von Anfang an als Einheit aufgefasst wird. Nur dann würde ein ausreichendes Warenangebot auf den Markt kommen und der neuen Währung die Chance verschaffen, breit akzeptiert zu werden. Er liess daher ohne Zustimmung der Verantwortlichen am Sonntag im Radio verkünden, dass eine Vielzahl von Preiskontrollen hinfällig seien. Diese Rundfunkmeldung zeigte – wie von ihm vorhergesagt – eine phänomenale Wirkung: Gleichsam über Nacht füllten sich die Schaufenster mit all den gehorteten Waren. Die Entscheidung für die soziale Marktwirtschaft fiel zusammen mit einem wirtschaftlichen Aufschwung, der als das deutsche Wirtschaftswunder in die Geschichtsbücher einging.

Erhard trug die Verantwortung für seinen einsamen Entscheid– sein politisches Schicksal hing an einem seidenen Faden. Sinnbildlich hierfür steht die Unterhaltung zwischen dem damaligen Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone US-General Lucius Clay und Ludwig Erhard kurz nach der Preisfreigabe. Clay meinte: „Herr Erhard, my advisers tell me you’re making a terrible mistake“. Woraufhin Erhard entgegnete: «Don’t listen to them, General. My advisors tell me the same thing».

Die politische Gesamtleistung Erhards wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Unbestritten ist allerdings, dass Wohlstand für alle bei Ludwig Erhard nicht leere Theorie geblieben ist, sondern für alle greif- und erlebbar wurde. Wohlstand für alle gründete auf den marktwirtschaftlichen Prinzipien der freien Preisbildung: stabiles Geld durch flexible Preise in einer Ordnung der Konsumentensouveränität.

Doch was könnte soziale Marktwirtschaft für uns heute bedeuten? Aus meiner Sicht bleibt die wohlverstandene Kernforderung der sozialen Marktwirtschaft richtig und wichtig: der funktionierende Wettbewerb. Oder in Ludwig Erhards Worten: „Wohlstand für alle und Wohlstand durch Wettbewerb gehören untrennbar zusammen; das erste Postulat kennzeichnet das Ziel, das zweite den Weg, der zu diesem Ziel führt.“ Und dafür braucht es den Staat. Er ist unerlässlich für eine faire und freie Wirtschaftsordnung.

Der Staat steht zuallererst in der Verantwortung, fairen Wettbewerb zu ermöglichen – das ist weder trivial noch gottgegeben: Wettbewerb stellt sich nicht zwangsläufig spontan ein, er bedarf der Pflege. Und dazu braucht es einen gegenüber Interessengruppen unbeeindruckten, unabhängigen Staat. Das heisst, der Staat konzentriert sich auf eine Ordnungspolitik und nicht auf einzelne Privilegien und Privilegierte. Geschützt wird der Wettbewerb und nicht bestimmte, gut organisierte und politisch einflussreiche Wettbewerber.

Der Staat betreibt keine Struktur- oder Industriepolitik. Vielmehr schafft er klare Regeln, die eine Angebotsvielfalt  von Wettbewerbern mit gleich langen Spiessen ermöglichen. Er gibt die Ordnung vor und nicht das Ergebnis. Der Staat übernimmt die Verantwortung für die Rahmenbedingungen und verheddert sich nicht in einer gängelnden Detailsteuerung mit dem Anspruch, alle Lebensbereiche zu steuern. Er spielt sich auch nicht als moralische Instanz auf, sondern vertraut auf die gestaltende Kraft der Konsumenten und Produzenten, also letztlich auf die mündigen Menschen.

Ein Blick auf den Status quo lässt Zweifel aufkommen, ob dieser einfachen Richtschnur der Wirtschaftspolitik genügend nachgelebt wird. Ob Bürokratiewachstum, Regulierungswachstum: Der Staat dehnt sich aus. Und das Wachstum hat in vielen Fällen wenig mit Marktversagen zu tun, stattdessen viel mit der Eigendynamik von Interessengruppen, die den Staat in ihren Dienst stellen wollen. Zu verlockend sind die «Fleischtöpfe» des Staats – auch in der marktwirtschaftlich orientierten Schweiz.

Gewiss: die Dinge sind etwas komplexer als noch zu Erhards Zeiten der 1950/60 Jahre. Natürliche Monopole– eine klassische Form des Marktversagens – rufen nach staatlicher Regulierung. Wir finden sie in den Netzindustrien wie der Bahn-, der Post-, der Telekommunikations- oder der Strombranche. In den 90er Jahren kam es zu einer Deregulierungswelle, auf die eine Teilprivatisierungswelle mit relativ rudimentären Regulierungsbehörden folgte. Heute haben wir weder Fisch noch Vogel: Die inzwischen privatrechtlich organisierten Unternehmen befinden sich noch immer in Staatsbesitz – oder zumindest in staatlichem Mehrheitsbesitz, oft mit unklarem unternehmerischem Auftrag.

Privatisierung ohne wettbewerblich organisierte Märkte sind riskant. Man schafft Marktwirtschafter ohne Marktwirtschaft– also geschützte Monoplisten, die eine Rente auf Kosten der Allgemeinheit abschöpfen und deren unternehmerisches Risiko letztlich ebenfalls die Allgemeinheit trägt. Warum genau soll der Schweizer Steuerzahler das Risiko der aktuellen Übernahmen der Post tragen? Analog gestaltet sich auch die Situation bei den sehr breit aufgestellten Energiekonzernen wie der BKW, die sich in staatlichem Mehrheitsbesitz befinden.

Wenn sich ein staatlicher Eingriff rechtfertigt und dieser in Form von Eigentum an einem privatrechtlich organisierten Unternehmen erfolgt, liegt es auch in der Verantwortung des Staates, eine sinnvolle Governance dieser Unternehmen sicher zu stellen. Dabei gilt es das Haftungsprinzip einzuhalten: Risiko, Verantwortung und Kontrolle liegen in einer Hand. Ansonsten werden Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert.

Wie uns die Finanzkrise 2008 schmerzhaft gelehrt hat, muss das Haftungsprinzip auch für systemrelevante private Unternehmen durchgesetzt werden. Vorgaben wie etwa Eigenkapitalvorschriften in Kombination mit «No-Bail-Out»-Regeln sorgen dafür, dass Risiko, Haftung und Kontrolle übereinstimmen und gleichzeitig der Wettbewerb im Bankensektor erhalten bleibt. Das Prinzip von Entscheid und Haftung ist eine wichtige Voraussetzung für eine funktionierende Marktwirtschaft. Wer für eigene Fehler die Konsequenzen nicht selber tragen muss, schafft ein gravierendes moralisches Risiko.

Ludwig Erhard kannte die Kriegs- und die Mangelwirtschaft – Ordnungen, in denen der einfache Mensch von der Strasse nichts zu sagen hatte. Darum wollte er möglichst schnell in eine Marktwirtschaft, mit Wettbewerb, flexiblen Preisen, stabilem Geld, einem starken, aber schlanken Staat.

Sind also Erhards Ideen von gestern, ist das Plädoyer für eine soziale Marktwirtschaft ein Rückzugsgefecht? Keineswegs. Wir kennen zwar zum Glück weder Kriegs- noch Mangelwirtschaft. Wir leben in der Schweiz aber in einer Marktwirtschaft mit Hang zur Misch- und zur Vetterliwirtschaft.

Auch heute braucht es deshalb mutige Entscheidungen. Der Staat darf nicht zur Beute der Wenigen auf Kosten der Vielen werden. Es gibt keine soziale Marktwirtschaft ohne Akteure, die die soziale Marktwirtschaft verstehen und leben (müssen). Denn die soziale Marktwirtschaft, das sind wir alle.

Blog-Beiträge zum Thema:

Norbert Berthold (2021): Was ist des Marktes, was des Staates? Wuchernde Staatswirtschaft, gezinkte Märkte und ratlose Ordnungspolitiker

6 Antworten auf „Der Markt braucht den Staat. Und der Staat braucht Regeln
Was uns die soziale Marktwirtschaft heute zu sagen hat

  1. Ich glaube der Zusammenhang von „Wirtschaftswunder“ und Erhardts Preisfreigabe ist komplexer als üblich gesagt wird. Ich habe das Thema für einen Wikipedia-Artikel recherchiert und bin dabei auf Dinge gestoßen, die ich zuvor noch nie gehört hatte. So gab es damals einen Generalstreik, der eine Aufhebung des Lohnstopps zum Ziel hatte, und dann stieg zuerst die Arbeitslosigkeit auf 11%, ehe sie in die Vollbeschäftigung mündete. Ich denke deshalb, dass eine Preisfreigabe kurzfristig massiv Probleme schafft, längerfristig aber Erfolg zeigt. Die Frage ist, ob die Politik die problematische Phase durchsteht. Wir haben aktuell in Deutschland ein großes Problem am Energiemarkt. Der ist voller politischer Vorgaben, Stoppschilder, Fördermaßnahmen, usw. Da in Erhardtscher Manier einen Systemwechsel vorzunehmen, wäre sicher verdienstvoll, doch würde das mehr als eine Partei zerreißen, ähnlich wie die SPD bis heute an den Hartz-Gesetzen leidet und sich daran abarbeitet. Wobei der volkswirtschaftliche Erfolg dieser Gesetze nicht interessiert, da ein Teil der SPD-Klientel nicht davon profitierte oder wenigstens zeitweise nicht. Vielleicht ist eine große odoliberale Reform heute deshalb nur in Notzeiten möglich, oder war das schon immer so? Bsw hat Deutschland das ordoliberale Prinzip in der Eurokrise gepredigt, aber selbst eher nicht angewendet. Bleibt eigentlich nur die kleine ordoliberale Reform, die auch nur kleine mediale Wellen macht und deshalb politisch machbar ist. Ob das in der Schweiz, mit ihrer direkten Demokratie genauso ist, weiß ich nicht.

  2. Ludwig Erhard ohne Legende und ohne unfundierte Kritik

    Happy Birthday, Bundeskanzler a.D. Ludwig Erhard! Ich wünsche Ihnen posthum, dass Ihre fundierten Ideen und Erfahrungen genutzt werden zur adäquaten Weiterentwicklung des Wirtschaftsmodells „Soziale Marktwirtschaft“. Heute geht es vor allem darum, die „ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft“ fortzusetzen, wie es schon 2009 zu einer Jubiläumstagung zu diesem Thema hieß (https://www.kas.de/de/veranstaltungsberichte/detail/-/content/weiterentwicklung-eines-wirtschaftsmodells1)

    Hierbei lassen sich Ludwig Erhards Leistungen durchaus würdigen ohne Verweise auf immer gerne wiederholte Legenden, etwa den vermeintlichen Auftritt vor General Clay oder nur den Hinweis auf den Bestseller „Wohlstand für Alle“. Denn nach dessen Erstveröffentlichung 1957 lieferte Erhard noch viele weitere inspirierende Beiträge bis zu seinem Tod zwanzig Jahre danach. Diese sind auch heute noch relevant oder sogar wegweisender für die heutige Zeit als der ständig in den Vordergrund gerückte Bestseller (https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=7a76684a-f548-3216-30dd-4b3922a2eeca&groupId=252038).

    Selbst der frühere Geschäftsführer der Ludwig-Erhard-Stiftung, Horst-Friedrich Wünsche, räumt ein: „Es wird oft erzählt – und in diesem Falle hat das Erhard sogar gut gefallen –, dass Erhard auf die Kritik von General Clay, er habe mit seiner Wirtschaftsreform alliierte Anordnungen verändert, lapidar geantwortet habe, er habe nichts verändert, sondern alles aufgehoben. Die Wahrheit ist, dass der „Verwaltungsrat für Wirtschaft“ aufgrund der Verordnung Nr. 14 im amerikanischen bzw. Verordnung Nr. 89 im britischen Kontrollgebiet seit 10. Juni 1947 ermächtigt war, Regelungen zur Beschlagnahme von Waren und Rohstoffen zu erlassen. Die Maßnahmen bedurften keiner Zustimmung, sondern nur der Veröffentlichung. Zudem mussten sie befristet sein. Mit dem „Überleitungsgesetz“ vom 9. August 1947 waren diese Befugnisse auf die Direktoren der Verwaltungen übergegangen. Erhards Wirtschaftsreform hatte also mit dem Leitsätzegesetz eine zureichende Legitimation“ (in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 112 (2/2007), S. 89). Diese Richtigstellung erschien selbst H.-F.
    Wünsche nötig, der nach meiner Kenntnis Erhard, für den selbst er noch als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war, immer vor jeglicher Kritik mit allen ihm verfügbaren Mitteln geschützt hat.

    Zugleich ist Erhard aber vor ungerechtfertigten Anschuldigungen, die heute nicht selten ohne genauere Kenntnis der wissenschaftlichen Debatte hierzu in den Raum gestellt werden, zu schützen. Ein Beispiel sind jüngste Angriffe auf das von Erhard vertretene gesellschaftspolitische Konzept, welches er 1965 unter dem Namen „Formierte Gesellschaft“ in die Debatte einbrachte . Auch wenn der Begriff sicherlich nicht nur aus Marketinggesichtspunkten unglücklich war, wie sich angesichts damit verbundener Missverständnisse und schroffer Kritik daran schnell zeigte, propagierte er damit zu seiner Zeit als Bundeskanzler dennoch keineswegs „im Kern demokratiefeindliche“ Ideen, Dennoch behauptete dies im November 2021 ein bekannter deutscher Volkswirtschaftsprofessor (https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-der-chefoekonom-die-kuenftige-regierung-sollte-im-umgang-mit-den-wirtschaftsweisen-von-den-usa-lernen/27811224.html?ticket=ST-6692307-WP0SYNsi9ncoFrq5KjYL-ap6).

    Dass dies so nicht zu halten ist, lässt sich aus der quellenbezogenen wissenschaftlichen Debatte hierzu klar erkennen. Erhard selbst schrieb zudem einige Jahre nach dessen politischen Scheitern zu seinem gesellschaftspolitischen Konzept „formierte Gesellschaft“ unter anderem, dass er „diese auch nicht institutionell oder organisatorisch aufgefaßt“ sehen wollte, „sondern als einen Anruf an die Vernunft verstanden wissen [wollte], durch ein Um- und Neubesinnen dem faden Gesellschaftsspiel, einen materiellen Vorsprung vor anderen zu gewinnen, das verdiente Ende zu bereiten“ (Erhard, in: Erhard, u.a.: Grenzen der Demokratie?, Düsseldorf/Wien 1973, S. 30 f.).

    Heute sollte man sich nicht, wie in vielen Geburtstagsreden üblich, allein auf die erfolgreichen Phasen von Erhard beschränken, wie es nicht selten geschieht. Vielmehr könnte künftig sogar eher die spätere Phase des Erhardschen Wirkens und Denkens ab seiner bisweilen als „glücklos“ (z.B. K. Schönhoven) bezeichneten Kanzlerschaft verstärkt ins Auge gefasst werden, um wichtige Impulse zu ermöglichen. Denn das so genannten „Wirtschaftswunder“ der Nachkriegszeit ist wohl eher als wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ausnahmephase in einem speziellen ex- und internem Umfeld anzusehen, während ab Mitte der 1960er Jahren und erst recht ab etwa 1973 neue Herausforderungen auf Westdeutschland zukamen, die den heute anstehenden Problemen eher ähneln. Stichworte sind ein zunehmend individualistisch verstandenes Freiheitsverständnis, der Abschied von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (H. Schelsky), massive externe Angebotsschocks zusätzlich zu Nachfrageschocks sowie temporär erhebliche Inflationsprobleme. Diese Merkmale von vor rund 50 Jahren dürften die heutige Situation in Bezug auf Herausforderungen und Mentalitätswandel besser beschreiben als die vorherige Phase von scheinbar „immerwährender Prosperität“ (B. Lutz), in der „Wohlstand für Alle“ veröffentlicht wurde.

    Aber am Geburtstag betont man natürlich zurecht die Erfolge des Jubilars, wie es auch die von ihm initiierte Stiftung tut, wenn sie schreibt: „Ludwig Erhard, als Bundeswirtschaftsminister erfolgreich und populär wie keiner seiner Nachfolger, hat das Bild der Bundesrepublik und ihr Markenzeichen „Soziale Marktwirtschaft“
    maßgeblich geprägt“ (https://www.ludwig-erhard.de/wp-content/uploads/Pressemitteilung-Ludwig-Erhard-Jahr-2022.pdf).

    Nach den feierlichen Reden und Kommentaren von heute ist aber wieder die ganzheitliche Sicht gefordert, die letztlich wohl auch die Erhard-Stiftung anstrebt. Denn um die großen anstehenden Herausforderungen Deutschlands besser bewältigen zu können, hilft mit Sicherheit ein Blick auf Erhard – dieser sollte jedoch nüchtern und ohne falsche Hemmnisse, aber zugleich wissenschaftlich fundiert und balanciert erfolgen. So stellt sich – um ein Beispiel aufzuzeigen – etwa die Frage, inwiefern es hilfreich ist, wenn ein Fachminister etwa im Bereich Wirtschaft zuvor in der wissenschaftlichen Ökonomik tätig war, so wie es etwa auch bei Erhard der Fall war. Fachlich kann dies mit Sicherheit weiterhelfen, unnötige sachliche Fehler zu vermeiden – eine politische Erfolgsgarantie ist es aber dennoch nicht, wie nicht zuletzt auch Ludwig Erhards Erfahrungen als Bundeskanzler zeigten (https://www.ft.com/content/fbff656e-8e93-11e9-a1c1-51bf8f989972).

  3. 50 Jahre „Manifest ’72“ von Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack – ein nicht gefeiertes Jubiläum

    Völlig zutreffend beschreibt der obige Text von Professor Schaltegger ein wesentliches Element von Ludwig Erhards Bestreben in der frühen Nachkriegszeit: „eine Marktwirtschaft, mit Wettbewerb, flexiblen Preisen, stabilem Geld, einem starken, aber schlanken Staat.“ Es kam jedoch auch in Erhards Konzeption bzw. allgemeiner dem Konzept „Soziale Marktwirtschaft“ im Laufe der Zeit zu Akzentverschiebungen (vgl. z.B. D. Schönwitz/H.-J. Weber: Wirtschaftsordnung, München/Wien 1983, S. 84). Daher ist über diese wichtigen genannten Charakteristika hinaus noch ein Erkenntnisgewinn möglich, wenn man Veränderungen im Zeitablauf berücksichtigt. Diese nachweisbaren Neuakzentuierungen werden aktuell jedoch eher wenig thematisiert.

    Deutlich zu wenig beachtet wird vor diesem Hintergrund im Jubiläumsjahr 2022 von Ludwig Erhard (125. Geburtstag) und der Sozialen Marktwirtschaft (https://www.kas.de/de/kurzum/detail/-/content/die-soziale-marktwirtschaft-ist-aktueller-denn-je und https://www.kas.de/de/kurzum/detail/-/content/die-soziale-marktwirtschaft-ist-aktueller-denn-je) bisher die Veröffentlichung des mehr als 400 Seiten umfassenden Buches „Soziale Marktwirtschaft – Ordnung der Zukunft. Manifest ’72“ (Frankfurt 1972) von Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack. Es hatte Einfluss auf die akademische Debatte der Folgejahre und auch auf die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der CDU bzw. der Union insgesamt.

    Das Buch wird in der wissenschaftlichen Literatur auch heute noch hin und wieder vor allem aufgrund der darin geäußerten innovativen Gedanken zitiert und bisweilen sogar in jüngerer Zeit sowohl von Erhard-Anhängern und von Kritikern des Konzepts sehr kontrovers debattiert (https://scholar.google.com/scholar?cites=17209298208795638352&as_sdt=2005&sciodt=0,5&hl=de).

    Das anlässlich der Wiedervereinigung 1990 aufgrund seines Aufklärungscharakters und seiner argumentativen Dichte erneut als „Hörzu Reprint“ veröffentlichte Manifest verdeutlicht, dass nicht nur die wirtschaftspolitische Ideen Erhards, sondern auch die aus der Zusammenarbeit mit seinem früheren Ministerialbeamten und Kölner Wirtschaftsprofessor Müller-Armack hervorgebrachten Ideen keinesfalls „von gestern“ sind. Schon damals – 1972 wegen damaliger Forderungen nach vermeintlich besseren alternativen Wirtschaftskonzeptionen und 1990 angesichts der gesamtdeutschen Herausforderungen – ging es darum aufzuzeigen, dass (angelehnt an die treffenden Worte des Kommentars von Professor Schaltegger) „das Plädoyer für eine soziale Marktwirtschaft“ keineswegs „ein Rückzugsgefecht“ ist.

    Das Manifest enthält neben einer von Hauptverantwortlichen in der praktischen Wirtschaftspolitik zu erwartenden positiven Bilanz der westdeutschen Wirtschaftsordnung während der Amtszeit im Bundeswirtschaftsministerium der beiden Buchherausgeber, die durchaus noch differenzierter möglich gewesen wäre (z.B. stärkere Beachtung exogener positiver Einflüsse), einige auch für die heutige Zeit noch sehr zentrale Analysen und Befunde.

    Diese dürften meist zumindest genauso relevant sein wie die in heutigen Debatten gerade bei Jubiläen zum Themenkreis Soziale Marktwirtschaft nicht selten sehr stark im Vordergrund stehenden Zitate und „geflügelten Worte“ aus dem ökonomischen Bestseller „Wohlstand für Alle“ (1957 erstveröffentlicht; letzte von Erhard autorisierte Fassung von 1964). In dem Buch steht die Wiederaufbauphase Westdeutschlands eindeutig im Vordergrund. Diese durfte aus Erhards Sicht „etwa im Jahr 1960 als abgeschlossen gelten“, wie er im Manifest betont (S. 14). Er fügt in seinem Namensbeitrag zu Beginn des Buchs direkt danach an, dass „nachfolgend gesellschaftspolitische Aufgaben… in den Vordergrund traten,“ auf die das Manifest umfassend eingeht, vor allem Beschäftigungs-, Verteilungs-, Sozial- und Bildungspolitik sowie auch Entwicklungspolitik. Für ihn „beschränkt sich die Herausforderung unserer Zeit auch nicht einseitig auf die Lösung materieller und finanzieller Probleme, sondern erstreckt sich wesentlich auf die Eindämmung verworrener Gedanken, die angeblich unserer Zeit gemäß sein sollten“ (ebenda). Für Erhard steht fest, dass „die Soziale Marktwirtschaft nicht nur eine Antwort auf die Herausforderung unserer Zeit, sondern bereits in ihrem Gedankengang die über den Tag hinaus gültige Antwort für die Zukunft gibt“ (S. 18).

    Es lässt sich leicht zeigen, dass in diesem Werk wichtige Thesen und Weiterentwicklungen enthalten sind, welche auch Pfeiler der modernen Ordnungspolitik bzw. Ordnungsökonomik sind bzw. wurden. Hier seien nur drei Beispiele herausgegriffen:

    Stabilitätsorientierung in der Währungsunion:

    Dazu hieß es unter der Überschrift „Der institutionelle Rahmen: Klare Ziele und eindeutige Kompetenzen“ auf S. 213 f. bereits damals: „… wenn sich mehrere Partner zu gemeinschaftlichen Aktionen in Organen zusammenfinden, von den die Mehrzahl vom Standpunkt der Stabilitätsnorm gesehen eine recht laxe Moralauffassung hat, sollte man nicht so naiv sein zu glauben, daß sich die bessere Moral qua ihrer moralischen Überlegenheit durchsetzt. Zur Förderung einer besseren Moral müssen schon einige handfeste ‚Korsettstangen‘ eingezogen werden. Dies trifft insbesondere für die Geldverfassung und den Aufgabenbereich einer europäischen Zentralbank zu.“

    Erforderliche Anreize für stabilitätsorientierte Lohnpolitik:

    Analog wird im Buch in Bezug auf die Rolle der staatlichen Politik bezüglich der Rahmensetzung für die Tarifpartner gefordert, dass „für Lohnverhandlungen zwischen den autonomen Tarifpartnern ein Verhandlungsklima geschaffen wird, das für eine stabilitätsorientierte Lohnpolitik günstig ist.“ (S. 246). Auch hier gilt aus Sicht der am Beteiligten: „Die volkswirtschaftliche Vernunft braucht staatliche ‚Korsettstangen‘“, um sicherzustellen, dass „sich auch die Tarifpartner an die ökonomischen und wirtschaftspolitischen Gegebenheiten wieder anpassen“ (ebenda).

    Umwelt als Aufgabe der Sozialen Marktwirtschaft:

    Nach ausführlichen Erläuterungen zu dieser Grundproblematik führt das Autorenteam aus: „Nein . es geht nicht darum, die Umweltverschmutzung zuzulassen und das hinterher zu reparieren, sondern Ziel der gesetzlichen Bestimmungen ist die Verhinderung beim Produktionsprozeß selbst. Innerhalb der Marktwirtschaft wird die schöpferische Innovationskraft um die besten Methoden ringen. Das Profitmotiv lässt sich also auch benutzen, um die ‚Qualität des Lebens‘ zu steigern. Das ist gewissermaßen die List der marktwirtschaftlichen Institution“ (S. 305).

    Dass Erhard und Müller-Armack sich Anfang der siebziger Jahre zur Verteidigung der Sozialen Marktwirtschaft gegen die damaligen wirtschaftspolitischen Experimente und gegen die Vereinnahmung der Konzeption bzw. deren Modifizierung durch die Verfechter dieser damals so genannten „neuen Wirtschaftspolitik“ entschieden, zeigt, dass die beiden ursprünglichen Hauptverfechter der Sozialen Marktwirtschaft in der Ausgestaltung und Interpretation des Konzepts keineswegs unüberbrückbar auseinander gelegen haben können. Denn dann wäre das Manifest gar nicht veröffentlicht worden.

    Dennoch war und ist nicht selten von zumindest erheblichen Unterschieden in den Positionen Erhards und Müller-Armacks die Rede. Richtig daran ist eindeutig: „Betrachtet man die Positionen Müller-Armacks und Erhards genauer, stellt man Unterschiede fest. Müller-Armack traute dem Markt weniger als Erhard“ (P. Altmiks, S. 51 in: P. Altmiks./J. Morlok (Hg.): Noch eine Chance für die Soziale Marktwirtschaft?, München 2012). Die daraus gezogenen Schlussfolgerungen sind jedoch keineswegs einheitlich.

    Eine der im Vergleich nicht einmal besonders unfreundlichen Verlautbarungen aus einer wirtschaftsliberalen Perspektive hierzu ist das folgende Zitat: „Man kann Müller-Armack … in der Nachschau nicht die alleinige Schuld für den ausufernden Wohlfahrtsstaat moderner Prägung geben“ (Altmiks, S. 51). Noch weiter gehende Äußerungen in die gleiche Richtung erspare ich mir an dieser Stelle. Sie sind allerdings leicht auffindbar. (Es finden sich allerdings zugleich auch profunde wirtschaftsliberale Gegenpositionen zu dieser Sichtweise in der Literatur, so etwa bei P. Oberender/S. Ruckdäschel [in: F. Söllner/A. Wilfert (Hg.): Die Zukunft des Sozial- und Steuerstaates, Heidelberg 2001], die betonen, dass „auch bei Müller-Armack Eigenverantwortlichkeit und Eigenvorsorge die maßgeblichen Größen“ S. 235) bleiben würden.)

    Das Manifest zur Sozialen Marktwirtschaft verdeutlicht jedoch, wie sehr Erhard und Müller-Armack in vielerlei Hinsicht am Ende (und auch nach nachweisbaren kontroversen Diskussionen untereinander) wohl „mehr an einem Strang gezogen haben“, als heute häufig vermutet wird. Dabei darf auch nicht unterschätzt werden, dass beide über die Zeit voneinander gelernt haben und sich infolge der daraus entstandenen Erkenntnisse zumindest teilweise aufeinander zubewegen konnten und so nach und nach gemeinsame für beide tragfähige Positionen entwickelten.

    Alles in allem zeigt das Werk sehr klar, dass offensichtlich trotz aller verbleibenden Unterschiede, die sich auch in einem Namensbeitrag von Müller-Armack im Band zeigen, auch erhebliche Schnittmengen bei beiden Verfechtern des Konzepts bestanden bzw. im Zeitablauf entwickelt haben, weil etwa der Eigenvorsorge der Vorzug vor staatlicher Umverteilung zu geben sei. Zumindest wenige Jahre vor dem Tod der beiden Herausgeber des „Manifests 72“ bestand darüber hinaus grundsätzliche Übereinstimmung zwischen beiden in der Ablehnung von marktschädlichem Interventionismus, punktuellem Dirigismus und inflationistischer Beschäftigungspolitik, auf die das Werk unter anderem ausführlich eingeht.

    Ein Dilemma bleibt jedoch: Die Anhängerinnen und Anhänger von Erhards ursprünglicher Konzeption „Soziale Marktwirtschaft“ (bzw. einer zuallererst ordoliberalen Deutung seiner Position) auf der einen Seite und von Müller-Armacks Auslegung der Sozialen Marktwirtschaft auf der anderen Seite sind auch heute noch häufig gespalten. Womöglich ist diese Polarisierung angesichts von Weiterentwicklungen in den Wirtschaftswissenschaften sogar heute größer als noch zu Lebzeiten von Erhard und Müller-Armack.

    Genau dies mag der Schlüssel dafür sein, warum ein gestriges potenzielles fünfzigjähriges Jubiläum zum Manifest ’72 wohl einfach übersehen und daher von niemand gefeiert worden ist. Einen möglichen aktuellen Anlass dazu hätte es durchaus gegeben: Denn Ludwig Erhard hatte das Buch auf dem Bundesparteitag der CDU in Wiesbaden am 11. Oktober 1972 dem Vorsitzenden Barzel überreicht. Dort sagte Erhard bei einer Ansprache: „Es ist mir, lieber Rainer Barzel, anschließend eine Freude, auch im Namen meines Freundes und getreuen Weggenossen Müller-Armack, ein Buch überreichen zu dürfen, das durch Beiträge hervorragender Wissenschaftler und praktischer Wirtschaftspolitiker über billige Polemik hinaus dazu dienen möge, Ihnen im Geiste der Sozialen Marktwirtschaft unserem Volk in allen Lebenslagen die Freiheit zu bewahren.“(Zitat aus R. Barzel: Im Streit und umstritten, Berlin 1986, S. 120). Einen möglichen Jubiläumsanlass hätte es also durchaus geben können. Genutzt wurde er jedoch – zumindest nach meiner Kenntnis – nicht.

    Doch auch ohne Jubiläum lohnt es sich auch fünfzig Jahre nach der Erstveröffentlichung des Manifests, das Buch zu lesen. Vielleicht lässt sich daraus sogar mehr für die Lösung der heute aktuellen Probleme lernen als aus Erhards bestverkauftem Buch „Wohlstand für Alle“(https://zeithistorische-forschungen.de/1-2-2007/4428).

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