Das Bürgergeld stellt gegenüber dem Arbeitslosengeld 2 zwar keinen Systemwechsel dar, verändert den Charakter des Systems aber in nennenswertem Ausmaß – in wichtigen Punkten leider in die falsche Richtung. Wesentliche Reformschritte vermitteln neu in das System eintretenden Hilfebedürftigen den Eindruck, dass sie sich bei ihrer Arbeitsuche zunächst Zeit lassen und erst einmal in aller Ruhe im System einrichten können. Dies kann die Chancen einer zügigen Rückkehr in Beschäftigung beeinträchtigen – zumal viele Betroffene bereits längere Zeit beschäftigungslos sind und ohnehin schon Hürden für ihre Wiedereingliederung bestehen.
Vertrauenszeit: Karenz bei Sanktionen
So sieht die „Vertrauenszeit“ vor, dass Pflichtverletzungen innerhalb der ersten sechs Monate nach Vereinbarung des so genannten Kooperationsplans – dieser soll zu Beginn des Bürgergeld-Bezuges erstellt werden – nicht mehr mit einer Sanktion geahndet werden können. Bei Pflichtverletzungen handelt es sich um Versäumnisse schwerwiegender Natur, zum Beispiel die Weigerung, eine angebotene Arbeit anzunehmen oder eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme nicht anzutreten. Meldeversäumnisse können hingegen auch innerhalb der Vertrauenszeit durch eine einmonatige Minderung des Regelsatzes um 10 Prozent sanktioniert werden – allerdings erst im Wiederholungsfall. Mehrere Meldeversäumnisse können sich dabei zu einer Sanktion von höchstens 30 Prozent summieren. Erst nach Ablauf der Vertrauenszeit können die schwerwiegenden Pflichtverletzungen künftig mit einer Sanktion von maximal 30 Prozent des Regelsatzes belegt werden. Eine Summierung mehrerer Sanktionen über 30 Prozent hinaus ist ausgeschlossen.
Der Gesetzentwurf führt aus, dass die Neuregelung vom Bundesverfassungsgericht gefordert gewesen sei (BMAS, 2022, 5), demzufolge eine Sanktion maximal 30 Prozent des Regelsatzes betragen dürfe (Bundesverfassungsgericht, 2019). Das Gericht hatte in seinem Urteil vom November 2019 zwar unter anderem die Maximalhöhe der Sanktion auf 30 Prozent begrenzt, die Notwendigkeit einer Karenzzeit kann daraus jedoch nicht abgeleitet werden.
Verschiedene Evaluationsstudien für Deutschland konnten Indizien für die Wirksamkeit von Sanktionen hinsichtlich des Übergangs in Beschäftigung finden. Bernhard et al. (2021, 11) fassen den Forschungsstand folgendermaßen zusammen: „Sanktionen entfalten bei den Betroffenen durch eine im Schnitt beschleunigte Aufnahme einer Erwerbstätigkeit intendierte Wirkungen.“ Allerdings ergeben sich auch Nebenwirkungen, etwa eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für das Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt sowie niedrigere Löhne. Eine neuere Studie von Wolf (2021) kann zudem zeigen, dass Sanktionen in der kurzen und mittleren Frist zwar einen positiven Effekt auf die Eingliederung in Beschäftigung haben, dieser sich aber in der längeren Frist ab etwa 30 Monaten umkehrt. Insofern ergebe sich ein Zielkonflikt zwischen schneller und nachhaltiger Integration in den Arbeitsmarkt.
Mit den Befunden kann eine Abschwächung oder gar Abschaffung der Sanktionen nicht begründet werden. Gegebenenfalls auftretende problematische Nebenwirkungen könnten durch eine intensivere Betreuung und Förderung nach einer Sanktionierung reduziert werden, ohne die unmittelbare Integrationswirkung zu verlieren. Zu bedenken ist auch, dass ein Kontakt zum Job-Center keinen Wert an sich darstellt, sofern er lediglich darin besteht, monatlich eine Leistung in Empfang zu nehmen. Im Gegenteil dürfte es Fallmanagern künftig schwerer fallen, arbeitsmarktferne Hilfebedürftige zu aktivieren.
In grundsätzlicher Hinsicht stellt sich die Frage, inwieweit sich der Charakter der Grundsicherung verändert. Bisher galt, dass denjenigen, die sich nicht selbst helfen können, die solidarische Hilfe der Gesellschaft zusteht. Als Gegenleistung schulden die Hilfeempfänger das Bemühen, künftig ohne Hilfe auszukommen. Diese eher milde Form von Reziprozität dürften die meisten Menschen als gerecht empfinden. Wird das Bemühen um wirtschaftliche Selbstständigkeit nicht mehr ernsthaft eingefordert, ändert sich der Charakter der Hilfeleistung weg vom Subsidiaritätsprinzip hin zu einer bedingungsarmen Leistung, bei der materielle Teilhabe stärker und die Integration in Arbeit schwächer gewichtet wird.
Karenz bei Angemessenheit der Kosten der Unterkunft
Auch die avisierten Karenzzeiten für die Angemessenheit der Kosten der Unterkunft und die Anrechnung von Vermögen sind geeignet, das Subsidiaritätsprinzip zu schwächen. Die Kosten der Unterkunft – Kaltmiete zzgl. Heizkosten – werden im geltenden Recht übernommen, soweit sie „angemessen“ sind. Diesen unbestimmten Rechtsbegriff füllen die Kommunen mit Inhalt, indem sie selbst Höchstgrenzen festlegen. Der Bürgergeld-Entwurf sieht vor, dass in den ersten beiden Jahren des Bezuges die Angemessenheit nicht mehr zu prüfen ist, sondern die Kosten in anfallender Höhe übernommen werden. Bisher gilt eine Karenzzeit von 6 Monaten, wobei die Hilfebedürftigen auch in dieser Zeit gehalten sind, ihre Aufwendungen zu reduzieren.
Nachvollziehbar erscheint das Argument, dass sich Bezieher von Grundsicherungsleistungen stärker um die Eingliederung in Arbeit bemühen sollten und weniger um das Finden einer günstigeren Wohnung. Zudem sorge der unbestimmte Begriff der Angemessenheit zu Unsicherheit und Klageverfahren (BMAS, 2022, 102 f.). Dagegen wäre einzuwenden, dass auch nach geltendem Recht jährlich weniger als ein Prozent der Leistungsempfänger vom Job-Center zum Umzug aufgefordert werden, um die Kosten zu senken. In der Regel erfolgt eine solche Aufforderung auch nur, wenn eine günstigere Wohnung zur Verfügung steht und die Wohnqualität verschlechtert sich durch den Umzug nur marginal (Beste et al., 2021).
Neufassung der Vermögensanrechnung
Ungleich komplexer ist die Neufassung der Anrechnung von Vermögen. Es kann jedoch zusammenfassend festgestellt werden, dass nach den neuen Regeln Vermögen weniger stringent angerechnet wird als im Status quo (Übersicht). Für bestimmte Haushaltskontexte erreichen schon die bestehenden Schonvermögen die Größenordnung mittlerer Vermögen (Schäfer, 2022). Es ist vor diesem Hintergrund nicht erkennbar, wie die Erhöhung begründet werden könnte.
Sowohl die Karenzzeiten wie auch die Neufassung der Vermögensanrechnung erschließen Personen als Leistungsberechtigte, die es zuvor nicht waren und die kaum als bedürftig angesehen werden können. Insofern wird der Grundsatz geschwächt, dass nur die Personen Anspruch auf Hilfe haben sollten, die sich nicht selbst helfen können. Hinzu kommt, dass Erwerbstätige, die u.a. aufgrund ihrer Steuerbelastung kein Vermögen aufbauen können oder keine große Wohnung finanzieren können, die größere Wohnung oder den Vermögenserhalt von Personen finanzieren, deren Lebensunterhalt aus den geleisteten Steuerzahlungen finanziert wird. Letztlich wäre zu bedenken, dass eine Kombination aus 24 Monaten Arbeitslosengeld nach SGB III in Verbindung mit einem Anspruch auf Bürgergeld, der weder durch Vermögen noch Immobilienbesitz gemindert wird und für den abseits von der Einhaltung von Terminen keine Suchbemühungen sanktionsbewehrt eingefordert werden, auch ein Modell für den vorgezogenen Übergang in den Ruhestand sein kann.
Literatur
Bernhard, Sarah; Bossler, Mario; Kruppe, Thomas; Lietzmann, Torsten; Senghaas, Monika; Stephan, Gesine; Trenkle, Simon; Wiemers, Jürgen; Wolff, Joachim, 2021, Vorschläge zur Reform der Grundsicherung für Arbeitsuchende und weiterer Gesetze zur sozialen Absicherung, IAB-Stellungnahme 5/2021, Nürnberg
Beste, Jonas; Trappmann, Mark; Wiederspohn, Jens, 2021, Vereinfachter Zugang zur Grundsicherung: Wer von einer Schonfrist bei Vermögensanrechnung und Aufwendungen für die Unterkunft profitieren würde, in: IAB-Forum 13. Dezember 2021, https://www.iab-forum.de/vereinfachter-zugang-zur-grundsicherung-wer-von-einer-schonfrist-bei-vermoegensanrechnung-und-aufwendungen-fuer-die-unterkunft-profitieren-wuerde/, [24.10.2022]
BMAS – Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2022, Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze – Einführung eines Bürgergeldes, https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Gesetze/Regierungsentwuerfe/reg-buergergeld.pdf?__blob=publicationFile&v=3 [20.10.2022]
Bundesverfassungsgericht, 2019, Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 – (Sanktionen im Sozialrecht), https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/11/ls20191105_1bvl000716.html [20.10.2022]
Schäfer, Holger, 2022, Bürgergeld statt Hartz 4, in: Wirtschaftsdienst, 2, S. 82-85
Wolf, Markus, 2021, Schneller ist nicht immer besser: Sanktionen können sich längerfristig auf die Beschäftigungsqualität auswirken, In: IAB-Forum 24. Juni 2021,?https://www.iab-forum.de/schneller-ist-nicht-immer-besser-sanktionen-koennen-sich-laengerfristig-auf-die-beschaeftigungsqualitaet-auswirken/ [21.10.2022]
- Gastbeitrag
Bürgergeld: Bedingungsarmes Grundeinkommen? - 29. Oktober 2022
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