Das Bürgergeld war ein Schritt in die falsche Richtung. Eine effektive Grundsicherung hilft denen, die Hilfe brauchen und fordert das Bemühen ein, künftig ohne Hilfe auszukommen. Dafür müssen einige Reformen, die mit der Einführung des Bürgergeldes einhergingen, rückgängig gemacht werden. Zudem müssen Probleme angegangen werden, die schon lange einer Lösung harren – insbesondere eine überzeugende Antwort auf die Frage, wie sich die Aufnahme einer Arbeit attraktiv gestalten lässt.
Ein Grundsatz des Sozialstaates lautet, dass jeder zunächst für sich selbst verantwortlich ist. Aus diesem Grundsatz leitet sich unter anderem das Subsidiaritätsprinzip ab: Notlagen werden zunächst innerhalb des eigenen Haushalts aufgefangen. Im Bürgergeld gibt es daher das Konzept der Bedarfsgemeinschaft, in der ein Mitglied Verantwortung für andere Mitglieder übernimmt. Wenn der Einzelne oder ggf. die Bedarfsgemeinschaft die Selbstverantwortung nicht wahrnehmen kann, besteht Anspruch auf die solidarische Hilfe der Gesellschaft. Im Gegenzug schuldet der Hilfeempfänger das Bemühen, die Hilfebedürftigkeit schnellstmöglich zu beenden. Diese eher milde Form der Reziprozität halten die meisten Menschen für gerecht.
Bürgergeld: Ein Schritt zurück
Mit der Bürgergeld-Reform ist dieser Grundsatz zwar nicht aufgegeben worden, aber er wurde bewusst geschwächt. Erstens wurden die Voraussetzungen gesenkt, die für einen Anspruch auf Grundsicherung zu erfüllen sind. So wurde das Schonvermögen mit einer Karenzfrist versehen und darüber hinaus erhöht – obwohl es bereits im Status quo ante Konstellationen gab, in denen das Schonvermögen die Höhe mittlerer Vermögen erreichte. Zudem wurde eine Karenzzeit von einem Jahr eingeführt, innerhalb dessen die Angemessenheit der Kosten der Unterkunft nicht geprüft wird. In beiden Fällen kann es folglich dazu kommen, dass Personen einen Anspruch auf Bürgergeld haben, die vermögender sind und in einer größeren Wohnung leben als ihre Nachbarn, die mit ihren Steuern das Bürgergeld finanzieren. Ob das empirisch relevant ist, steht auf einem anderen Blatt – in jedem Fall widerspricht es dem Grundsatz, dass Hilfe nur denen zustehen sollte, die sie auch brauchen.
Zweitens hat der Gesetzgeber mit der Einführung des Bürgergeldes das Sanktionsregime verändert. Das betraf einerseits das Verfahren, das durchlaufen werden muss um eine Sanktion zu verhängen und andererseits die Sanktionshöhe selbst. Das Verfahren wurde verkompliziert und die Sanktionshöhe abgesenkt. Nachdem die Sanktionierung von Regelverstößen wegen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2019, der Einschränkungen in der Corona-Pandemie und wegen des anschließenden Sanktionsmoratoriums ohnehin schon stark an Bedeutung verloren hatte, wurde mit der Bürgergeldreform den Mitarbeitern der Jobcenter und den Hilfeempfängern noch einmal signalisiert, dass Regelverstöße nicht so schlimm seien. Dies geschah wider besseres Wissen, denn die Wirksamkeit von Sanktionen – auch über den Kreis der Sanktionierten hinaus – ist von der Arbeitsmarktforschung recht gut belegt.
Insgesamt hat die Bürgergeldreform den Charakter der Grundsicherung verändert – weg von der bedürftigkeitsgeprüften temporären Hilfe zur Selbsthilfe hin zu einem bedingungsarmen Grundeinkommen, das die Wiedereingliederung in Arbeit schwächer und die materielle Teilhabe stärker gewichtet.
Notwendige Weichenstellungen
Der Rückblick auf die missglückte Bürgergeldreform ist hilfreich, wenn es um die Frage geht, wie künftig eine effiziente Grundsicherung aussehen könnte. Denn so schlecht wie sein Ruf war das alte System „Hartz 4“ nicht. Immerhin gelang es, innerhalb der Dekade vor 2019 die Anzahl der Hilfeempfänger spürbar zu reduzieren. Eine effiziente Grundsicherung kann darauf aufbauen, indem zunächst die problematischen Bestandteile der Bürgergeldreform rückabgewickelt werden. Dazu braucht es in erster Linie
- Eine Vereinfachung des Verfahrens, dass für die Verhängung einer Sanktion durchlaufen werden muss
- Eine Anhebung der Sanktionshöhe. Zwar ist aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes der vor 2019 geltende Stand nicht wieder herstellbar. Zumindest für Hilfeempfänger, die eine angebotene existenzsichernde Beschäftigung verweigern, sollte aber die Möglichkeit der Totalsanktion ausgeschöpft werden.
- Eine Abschaffung der Karenzzeit und eine Absenkung des Schonvermögens
- Eine Verkürzung der Karenzzeit für die Angemessenheit der Unterkunftskosten auf maximal 6 Monate. Eine gewisse Karenz erscheint vertretbar, weil der unmittelbare Schwerpunkt für neu in das Bürgergeld Eingetretene auf der Wiedereingliederung in Arbeit liegen sollte.
Darüber hinaus sollten Reformen angegangen werden, die bereits im Hartz 4-System erforderlich waren:
- Der Erwerbsfreibetrag für Erwerbstätige mit geringem Einkommen und ergänzendem Bürgergeldbezug ist allein entscheidend für die Frage, wie viel verfügbares Einkommen bei einer gegebenen Erhöhung des Bruttoerwerbseinkommens verbleibt. Er ist somit die zentrale Stellschraube für die Frage, inwieweit sich Mehrarbeit und berufliches Engagement lohnen. Das Problem besteht darin, dass geringe Einkommen – wie sie bei Minijobs und Teilzeit typisch sind – mit vergleichsweise hohen Freibeträgen verbunden sind, während bei höheren Einkommen ein großer Teil des zusätzlichen Verdienstes vom Bürgergeldanspruch abgezogen wird. Damit ist es attraktiv, einen Minijob mit Bürgergeld aufzustocken statt mit einer Ausweitung der Arbeitszeit aus dem Hilfebezug herauszuwachsen. Das Problem ist seit mindestens 15 Jahren bekannt, es liegen mehrerer Lösungsvorschläge vor. Hier besteht kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsdefizit.
- Bürgergeldempfänger haben individuelle Probleme, dementsprechend individuell müssen Aktivierung – also eine ständige Konfrontation mit Angeboten, aber auch die Einforderung von Eigenbemühungen – und Hilfsangebote zugeschnitten sein. Es gibt kein Instrument, was für alle gleichermaßen geeignet ist. Das bedeutet, dass eine Aktivierung von Hilfeempfängern, die gleichzeitig auch individuell angepasste Angebote unterbreitet, eine entsprechende Betreuungsdichte braucht. Das heißt nicht unbedingt, dass die Jobcenter mehr Personal brauchen. Ein wichtiger Schritt wäre, die vorhandenen Ressourcen auf die Aktivierung und Betreuung zu fokussieren. Der Gesetzgeber kann dabei unterstützen, indem er von dem Versuch absieht, Einzelfallgerechtigkeit anzustreben und stattdessen in stärkerem Maße auf pauschalierte Leistungen zurückgreift.
Sozialpolitik braucht einen langen Atem
Die vorgeschlagenen Maßnahmen stärken den aktivierenden Charakter der Grundsicherung und betonen das Prinzip der Reziprozität. Wunder können sie allerdings nicht bewirken. Eine schnelle Senkung der Empfängerzahlen oder gar unmittelbare Einsparungen für den Bundeshaushalt sind nicht zu erwarten. Eine nennenswerte Reduzierung der Anzahl der Hilfeempfänger gelingt nur in einem Umfeld mit langfristig stabil positiver Arbeitsmarktentwicklung, das gegenwärtig nicht in Sicht ist.
Serie „Wirtschaftspolitik neu ausrichten“
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Klaus F. Zimmermann (RFW, FU, GLO): Migrationspolitik aus der Sackgasse führen
Markus Brocksiek (BdSt): Bürokratieabbau forcieren – Staatseffizienz erhöhen
Manuel Frondel (RWI): Kehrtwende in der Energiepolitik schaffen
Bernd Raffelhüschen (ALU): Rentenversicherung generationengerecht reformieren
Astrid Rosenschon (IfW): Subventionen radikal kürzen
Michael Heise (HQ Trust): Wachstumskräfte und Arbeitsvolumen steigern
Norbert Berthold (JMU) und Jörn Quitzau (Bergos): Wirtschaftspolitik neu ausrichten
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