Strukturwandel im ambulanten Sektor

Im ambulanten Sektor scheint sich ein Strukturwandel von großer Tragweite anzubahnen. So wird befürchtet, daß durch Finanzinvestoren, die sich über das Vehikel Krankenhäuser die Möglichkeit verschaffen, MVZs aufzubauen, nicht nur die Struktur des Sektors verändert wird, sondern daß verstärkt Gewinnerzielungsinteressen in den Vordergrund treten und dies zulasten der Behandlungsqualität geht (Helmberger 2021). In diesem Beitrag soll diese Entwicklung aus ordnungsökonomischer Perspektive gewürdigt werden.

Um außerhalb eines Krankenhauses ihrer Tätigkeit nachgehen zu können, bedarf es bei Ärzten der „Niederlassung in einer Praxis (Praxissitz)“ (§17 Abs. 1 MBO-Ä). Neben dem primären Praxissitz ist es Ärzten gestattet, an zwei weiteren Orte Filialen bzw. Zweigpraxen zu errichten (§17 Abs. 2 MBO-Ä). Zudem können Praxisinhaber weitere Ärzte anstellen (§19 Abs. 1 MBO-Ä). Gemäß § 18 Abs. 1 MBO-Ä dürfen Ärzte ihre Tätigkeit in verschiedenen Kooperationsformen ausüben. Neben der Einzelpraxis spielen hier die Praxisgemeinschaft, die Berufsausübungsgemeinschaft (BAG) sowie sog. Einrichtungen in der ambulanten Versorgung die zentrale Rolle. Während es sich bei der Praxisgemeinschaft um einen Zusammenschluß von Ärzten gleicher oder verschiedener Fachrichtungen handelt, die etwa Räume, Geräte oder Personal gemeinsam nutzen, ihre Tätigkeiten aber getrennt voneinander und damit eigenverantwortlich ausüben, stellen Berufsausübungsgemeinschaften Zusammenschlüsse von mindestens zwei Vertragsärzten in Form von natürlichen oder juristischen Personen dar. Bei letzterer Kooperationsform liegt eine gemeinsame Berufsausübung vor. Unter Einrichtungen in der ambulanten Versorgung versteht die KBV Eigeneinrichtungen von KVen und Kommunen, §400er-Einrichtungen als ehemalige Polikliniken sowie Medizinische Versorgungszentren (MVZ) (vgl. KBV 2020, S. 4).

Bei MVZs handelt es sich gem. § 95, Abs. 1, Satz 2 SGB V um „ärztlich geleitete Einrichtungen, in denen Ärzte, die in das Arztregister nach Absatz 2 Satz 3 eingetragen sind, als Angestellte oder Vertragsärzte tätig sind.“ Die ärztliche Leitung eines MVZs wird durch einen Arzt, der im MVZ angestellt oder als Vertragsarzt tätig ist, wahrgenommen. Ein MVZ kann gem. §95 Abs. 1a SGB V „von zugelassenen Ärzten, von zugelassenen Krankenhäusern, von Erbringern nichtärztlicher Dialyseleistungen nach § 126 Absatz 3, von anerkannten Praxisnetzen nach § 87b Absatz 2 Satz 3, von gemeinnützigen Trägern, die aufgrund von Zulassung oder Ermächtigung an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen, oder von Kommunen gegründet werden.“ Als Rechtsform sind gemäß §95 Abs. 1a SGB V die Personengesellschaft, die eingetragene Genossenschaft, die Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder eine öffentlich rechtliche Rechtsform zulässig, wobei nach Angaben der KBV primär die Rechtsformen der GmbH und GbR gewählt werden (vgl. KBV 2021a, S. 3).

In diesem Zusammenhang läßt sich folgende Entwicklung diagnostizieren:

1. Die Anzahl der MVZs steigt erheblich im Vergleich zu anderen Niederlassungsformen: Die Anzahl der Einzelpraxen ist im Zeitraum von 2013 bis 2020 um 11% und die der BAG um 8% zurückgegangen. Im gleichen Zeitraum erhöhte sich die Anzahl an zugelassenen MVZs um 92%. Zum 31.12.2021 existierten 4.179 MVZs in Deutschland. Im Jahre 2020 waren bei 1.707 MVZs Vertragsärzte, bei 1.725 MVZs Krankenhäuser und bei 650 MVZs sonstige Organisationen Träger der MVZs (KBV 2022).

2. Eine zunehmende Anzahl von Ärzten drängt in die abhängige Beschäftigung im niedergelassenen Bereich: Waren im Jahre 2010 16.776 Ärzte im ambulanten Bereich in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis, sind es zum Jahre 2021 49.346 gewesen (BÄK 2022). Im Zeitraum von 2010 bis 2021 stieg die Anzahl angestellter Ärzte in MVZs von 7.278 (2010) auf 24.078 (2021) und damit um ca. 230% (KBV 2022). Im Vergleich dazu erhöhte sich im gleichen Zeitraum die Anzahl der MVZs lediglich von 1.654 auf 4.179 und damit um ca. 150%.

Diese Entwicklung hat verschiedene Ursachen. So hat sich offenbar die Bereitschaft der Ärzte, sich auf selbständiger Basis niederzulassen, verändert. Ursächlich dafür, sich in ein Beschäftigungsverhältnis zu begeben, können neben der hohen subjektiv eingeschätzten Kostenintensität der Fachrichtung insbesondere eine Verminderung der Risikobereitschaft und die Aussicht auf eine geringere Arbeitsbelastung identifiziert werden (Faber & Daumann 2022).

Der Gesetzgeber hat den Gründerkreis von MVZs sukzessive eingeschränkt (insbesondere durch das GKV-VStG – GKV-Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG) vom 22.11.2011, BGBl. I, 2011, 2983 und das Terminservice- und Versorgungsgesetz vom 6.05.2019, BGBl. I, 2019, 646). Dem sekundierend hat der BGH in seinem Urteil vom 19.08.2020 (Az.: 5 StR 558/19) zudem Strohmann-Lösungen unterbunden (ein Apotheker versuchte, über einen als Strohmann fungierenden Arzt eine Beteiligung an einem MVZ zu erwerben).

Trotzdem ergeben sich Möglichkeiten, Konzernstrukturen auf diesem Markt aufzubauen, die tatsächlich lebhaft realisiert werden (Tauscher & Fett 2021). Zum einen kann dieser Weg durch Krankenhäuser beschritten werden, die ihr wirtschaftliches Umfeld und damit auch ihre Einweisungen sichern wollen. Zum anderen scheinen verstärkt Finanzinvestoren aufzutreten, die über den Erwerb eines Krankenhauses MVZ-Strukturen realisieren können (Scheuplein 2021).

Diese Entwicklung geht offenbar damit einher, daß zum einen MVZs aufgrund der bevorzugten Ansiedlung in Ballungsgebieten nicht primär zur Verbesserung der flächendeckenden Versorgung beitragen und daß MVZs tendenziell zu einer Ausweitung des Leistungsvolumens führen (für Zahnarzt-MVZs etwa Nolting et al. 2021), was unter Umständen seine Ursache in einer Ausdehnung der angebotsinduzieren Nachfrage hat. Ob damit – wie von mancher Seite befürchtet (Schwarz 2021) – Einbußen der Behandlungsqualität einhergehen, ist umstritten.

Wie ist dieser Sachverhalt nun aus ordnungsökonomischer Sicht zu beurteilen?

Ein Strukturwandel ist Ergebnis der Reaktion der Marktteilnehmer auf veränderte Rahmenbedingungen. Das GKV-Modernisierungsgesetz aus dem Jahre 2004 hat die Gründung von MVZs ermöglicht, mit denen offenbar entweder über günstigere Kostenstrukturen etwa durch die Realisierung von Skalenvorteilen oder durch verbesserte Abrechnungsmöglichkeiten sich zusätzliche Gewinne erzielen lassen. Diese Möglichkeit trifft auf veränderte Präferenzen der Ärzteschaft. Aus ordnungsökonomischer Sicht ist ein derartiger Strukturwandel zu begrüßen.

Allerdings gibt es im deutschen Gesundheitswesen zwei maßgebliche Besonderheiten, die eventuell eine zusätzliche Regelung erfordern: Dies ist zum einen das Third-Party-Payer-Phänomen, das sich dadurch auszeichnet, daß der Leistungserbringer nicht mit dem Patienten, sondern mit der Krankenkasse direkt oder durch Zwischenschaltung der Kassenärztlichen Vereinigung indirekt abrechnet. Zum anderen ist dies die erhebliche Informationsasymmetrie zwischen Leistungserbringer und Leistungsempfänger, also Patient. Aus dieser Konstellation ergeben sich die bekannten Probleme wie moral hazard (der Patient fragt erheblich mehr Leistungen nach, als er eigentlich bräuchte), angebotsinduzierte Nachfrage (der Leistungserbringer kann dem Patienten mehr Leistungen antragen, als dieser bei vollständiger Information nachfragen würde) und Qualitätsmängel (der Patient kann die Behandlungsqualität nur ungenügend beurteilen). Der Gesetzgeber versucht, diese Problemkreise einzudämmen, indem etwa mit dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen und anderen Qualitätssicherungsmaßnahmen die Behandlungsqualität überprüft werden soll. Zugleich gibt es Überwachungsmechanismen, die eine Leistungsausweitung begrenzen sollen. Hierzu zählen neben Wirtschaftlichkeitsprüfungen auch Einschränkungen der Niederlassungsfreiheit für ambulant tätige Ärzte.

Ein Ansatz, der bislang nur verhalten eingesetzt wird, sind pretiale Steuerungsmechanismen auf Seiten der Nachfrage. Eine prozentuale Selbstbeteiligung des Patienten würde zum einen das Problem des moral hazard zu reduzieren, zumal der Patient für zusätzliche Leistungen ebenfalls zumindest zum Teil zur Kasse gebeten würde. Ebenso würde die angebotsinduzierte Nachfrage zurückgedrängt werden, da beim Patienten Anreize gesetzt würden, daß nur Leistungen nachgefragt werden, die seiner Gesundung dienen. Die erheblichen Informationsasymmetrien und deren negative Auswirkungen auf Menge und Qualität der Leistungserbringung könnten zudem durch vorgelagerte Informationsmärkte abgebaut werden, wie dies bereits jetzt durch Focus-Ranglisten oder Bewertungsportale erfolgt. Die sich bei einer derartigen Lösung abzeichnenden sozialen Probleme einzelner Bevölkerungsschichten könnten durch direkte Transfers vermieden werden; denkbar wäre hier evtl. eine prozentuale Obergrenze des Einkommens, ab der zusätzliche Kosten durch direkte staatliche Transfers abgedeckt würden. Dem Argument, der Patient könne eine derartige Aufgabe im Gesundheitssystem aufgrund seiner fehlenden Kenntnisse nicht ausfüllen, kann entgegengehalten werden, daß man demselben Patienten zumutet, bei einer Kfz-Werkstatt, deren Leistungen die wenigsten Kunden überblicken, auch eigenverantwortlich Verträge über Reparaturen abzuschließen.

Dieser Lösungsansatz sollte durch die Möglichkeit der Kassen, Leistungserbringer selektiv zu kontrahieren, ergänzt werden. Die Möglichkeit zur selektiven Kontrahierung würde zum einen das Verhalten der Leistungsanbieter verändern und zum anderen für mehr Wettbewerb zwischen den Leistungserbringern sorgen. Insgesamt dürfte wohl davon ausgegangen werden, daß dadurch die Behandlungsqualität steigen und die Behandlungskosten unter Druck geraten würden. Krankenkassen würden vor diesem Hintergrund diejenigen Leistungserbringer kontrahieren, die ein der jeweiligen Krankenkasse passendes Preis-Qualitäts-Bündel aufweisen würden. Nimmt man die Zielsetzung der flächendeckenden Versorgung als nicht verhandelbar hin, dann wäre zudem die Sicherstellung ausreichender medizinischer Leistungserbringung komplett durch die Krankenkassen zu gewährleisten.

Eine derartige Einbindung des Patienten und die durchgängige Einführung des selektiven Kontrahierens würde zum einen dazu führen, daß sich die entsprechenden Versorgungstrukturen stärker an den Bedürfnissen der Patienten orientieren und daß die oben beschriebenen Probleme zwar nicht gänzlich gelöst, aber doch zumindest erheblich zurückgedrängt würden.

Quellen:

Bundesärztekammer (BÄK) (2022). Gesamtzahl der Ärztinnen und Ärzte 2021. https://www.bundesaerztekammer.de/baek/ueber-uns/aerztestatistik/aerztestatistik-2021/gesamtzahl-der-aerztinnen-und-aerzte-2021.

Faber, A., & Daumann, F., (2022). Eine explorative Analyse situativer Einflussfaktoren auf die Auswahlsituation der ambulanten ärztlichen Berufsausübungsart in Anstellung. Gesundheitsökonomie und Qualitätsmanagement. DOI: 10.1055/a-1831-6378.

Helmberger, H. (2021). Finanzinvestoren in der Radiologie–wer bestimmt die Zukunft unserer Praxen?. Der Radiologe 10: 968.

Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) (Hrsg.) (2020): Erläuterungen zu den statistischen Informationen aus dem Bundesarztregister. Dezernat Versorgungsmanagement, Version 1.2 vom 20. April 2020. Zugriff am 23.11.2022 unter: https://www.kbv.de/media/sp/Erlaeuterungen_BAR-Statistik.pdf.

Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) (2022), Gesundheitsdaten. Zugriff am 23.11.2022 unter: https://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/html/17021.php

Nolting, H.-D. et al. (2021). Investorenbetriebene MVZ in der vertragszahnärztlichen Versorgung. KBV-Forum. Sonderausgabe MVZ 03/21, S. 24-25.

Scheuplein, C. (2021). Übernahme von MVZ durch Private-Equity-Investoren in Bayern. KBV-Forum. Sonderausgabe MVZ 03/21, S. 28-30.

Schwarz, M. (2021). Strukturwandel aufhalten. KBV-Forum. Sonderausgabe MVZ 03/21, S. 18.

Tauscher, M. & Fett, S. (2021). Dynamische Entwicklung bei MVZ im Bund und in Bayern. KBV-Forum. Sonderausgabe MVZ 03/21, S. 10-11.

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