WiSt: Ihr neues Buch hat den Titel „Einfach zu einfach. Wie die leichten Lösungen unsere Demokratie bedrohen.“ Welche „leichten Lösungen“ meinen Sie damit?
Weimann: Grundsätzlich geht es um Lösungen, die die Politik für die Probleme anbietet, mit denen sich moderne Gesellschaften konfrontiert sehen. Von der Pandemiebekämpfung über die Klimapolitik und die Inflation bis hin zu der Frage, wie man den Krieg in Europa beenden kann oder wie wir damit umgehen, dass uns in Kürze die Arbeitskräfte ausgehen werden, weil die Babyboomer in Rente gehen. Die Liste ließe sich spielend verlängern. Jedes dieser Probleme stellt uns als Gesellschaft vor große Herausforderung und hinter jedem Problem stehen komplizierte und komplexe Zusammenhänge, die nur schwer zu durchschauen sind. In aller Regel verlangen komplizierte Probleme auch komplexe Lösungen. Einfache Lösungen scheitern sehr oft.
WiSt: Können Sie uns ein Beispiel für eine gescheiterte einfache Lösung nennen?
Weimann: Ein sehr schönes Beispiel ist für mich das Problem der Verschmutzung der Weltmeere mit Plastikabfall. Ohne jede Frage ein großes Problem, das unbedingt gelöst werden muss. Welche Lösung haben wir in Deutschland gewählt? Wir verbieten Plastiktüten und Plastikstrohhalme! Das hilft aber den Weltmeeren genau Null Komma Null. Untersuchungen des Mülls haben ergeben, dass nur 0,28 Prozent davon aus Europa stammen. Das entspricht einem Anteil von 0,04 Prozent aus Deutschland. Wir machen aus Plastik zu 99,5% entweder neues Plastik oder gewinnen Energie daraus. Und unsere Plastikmüllexporte gehen vor allem nach Polen und in die Türkei. Zu unterstellen, dass die Malaien für unseren Plastikabfall bezahlen und ihn dann ins Meer kippen, ist erstens eine grobe Beleidigung der Malaien und zweitens barer Unsinn. Nein, die Ursache für das Müllproblem der Weltmeere liegt vor allem in Asien, denn dort fehlen die Entsorgungseinrichtungen und es fehlt an Umweltbewusstsein. Wenn wir also das Problem lösen wollen, müssten wir uns dort engagieren – was kompliziert ist. Aber warum? Wir haben doch eine einfache Lösung! Einfach keine Plastikstrohalme mehr benutzen und schon sind die Meere sauber. Das ist eine typische Lösung nach dem Muster „Einfach zu einfach“.
WiSt: Aber viele Menschen haben das Gefühl, dass wir uns mäßigen müssen und es deshalb gut ist, weniger Plastik zu benutzen.
Weimann: Das ist richtig und hinter diesem Wunsch steht ein weiteres, einfaches Narrativ, das aber genauso „zu einfach“ ist, wie das Narrativ „Plastik ist schlecht, weil es die Weltmeere verschmutzt.“ Das Narrativ sagt „Wir müssen Verzicht üben, sonst erschöpfen wir unsere Ressourcen.“ Tatsächlich gibt es aber keine drohende Verknappung der Grundstoffe, die man zur Plastikherstellung braucht. Kohlenstoff ist auf der Erde in sehr großen Mengen verfügbar und leicht gewinnbar. Trotzdem wird das Narrativ dazu verwendet, um zu begründen, dass wir unbedingt Kunststoff recyceln müssen, um das Meer zu schützen und die Ressourcen zu schonen. Nun ist aber recycelter Kunststoff viel teurer als neu hergestellter. Kosten sind nichts anderes als der bewertete Ressourcenverbrauch. Das bedeutet, dass wir beim Recycling mehr Ressourcen verbrauchen als bei der Produktion von Plastik. Das ist erstens ineffizient und zweitens das Gegenteil von nachhaltig. Die einfachen Narrative bringen uns auf die falsche Spur.
WiSt: Was wäre denn die richtige Spur?
Weimann: Ein gutes Beispiel liefert wieder das Plastik. In der Mensa in Magdeburg gibt es seit geraumer Zeit Mehrwegbehälter, in denen man sein Mittagessen mitnehmen kann. Diese Behälter sind sehr stabil, das Essen bleibt darin warm und man kann es zur Not in der Mikrowelle aufwärmen. Eine super Sache, die sehr gut angenommen wird, weil die Abwicklung dank einer gelungenen Digitalisierung sehr einfach ist. Hätte man schon viel früher einführen sollen. Der Punkt ist, die neuen Behälter sind aus Plastik! In diesem Fall ist also Plastik nicht das Problem, sondern die Lösung! Es geht deshalb nicht darum, Plastik einfach zu vermeiden, sondern es effizient einzusetzen. Und da hat Plastik einiges zu bieten, denn es ist ein Material mit vielen guten Eigenschaften. Das vergessen wir, wenn wir nur dem Narrativ folgen „Plastik ist schlecht.“ Das ist wieder einmal „Einfach zu einfach“.
WiSt: In Ihrem Buch geht es nicht so sehr um konkrete Probleme, sondern vor allem darum, wie unsere Demokratie mit den schwierigen Problemen unserer Zeit klarkommt. Wo liegt da die Schwierigkeit?
Weimann: In der Demokratie entscheiden Mehrheiten. Letztlich bestimmen die Männer und Frauen, die zur Wahl gehen, welche der von der Politik angebotenen Lösungen ausgewählt wird. Damit die Mehrheit die richtigen, die am besten geeigneten Lösungsvorschläge auswählt, muss sie über das Problem und die konkurrierenden Vorschläge informiert sein und muss sie beurteilen können. Genau da liegt das Problem, denn in der Regel sind Menschen sehr schlecht informiert und sehr anfällig für die einfachen aber falschen Lösungen.
WiSt: Warum trauen sie den Wählern in unserem Land so wenig zu?
Weimann: Das Problem ist keine deutsche Spezialität, sondern stellt sich in jeder Demokratie. Stellen Sie sich vor, sie wollen sich einen neuen Kühlschrank kaufen. Dann haben sie gute Gründe, sich umfassend zu informieren. Wie viel passt in den Kühlschrank, wie hoch ist der Energieverbrauch und so weiter. Sie tun das deshalb, weil das Ergebnis ihrer Entscheidung steht die nächsten 10 Jahre in ihrer Küche. Sie profitieren also davon besser informiert zu sein. Anders bei einer demokratischen Wahl. Das Gewicht der einzelnen Stimme, die bei einer Wahl abgegeben wird, ist praktisch gleich Null. Das bedeutet, dass Sie durch die Abgabe ihrer Stimme die Politik der nächsten vier Jahre nicht beeinflussen können – gleichgültig, wie gut informiert sie bei der Stimmabgabe waren. Sich über Politik zu informieren kostet Zeit und Geld, ohne dass man persönlich daraus einen Vorteil hat. Deshalb ist der Anreiz, sich über die Probleme und die Lösungsvorschläge intensiv zu informieren, sehr gering.
WiSt: Aber würde das denn nicht bedeuten, dass niemand sich auch nur ein bisschen informiert? Warum gibt es dann die Tagesschau und das Heute-Journal und die Zeitungen?
Weimann: Menschen haben ein durchaus starkes Bedürfnis danach, ihre Umwelt zu verstehen. Das ist uns in die Wiege gelegt und Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang vom „sense making“ Trieb. Allerdings handelt es sich um einen Trieb, der nicht befriedigt werden kann. Erst recht nicht in den hoch komplexen Umwelten der Gegenwart. Wir sind einfach nicht in der Lage ein umfassendes und korrektes Weltverständnis zu erlangen. Deshalb geben sich Menschen mit einem Ersatz zufrieden, der in einer einfachen, konsistenten Geschichte besteht, die die Welt scheinbar erklärt, und die leicht verstanden werden kann. Ob sich dieses Narrativ am besten verfügbaren Wissen orientiert, oder frei erfunden ist, spielt dabei keine große Rolle. Das Narrativ erfüllt seinen Zweck, solange man an seine Erklärung glaubt und sie nicht weiter hinterfragt. Die Mechanismen, die dabei eine Rolle spielen, sind gut erforscht. Informationsvermeidung und ausgeprägtes Gruppendenken sind dabei zwei wichtige Stichworte. Im Ergebnis führt das dazu, dass Menschen Narrative nachfragen, die ihnen helfen, eine Art Ersatzbefriedigung für ihren „sense making“ Trieb zu finden. Menschen fragen deshalb Information nach, aber nur sehr einfache und das in bescheidenem Umfang.
WiSt: Sehen Sie da nicht ein bisschen schwarz? Es gibt doch viele Menschen, die lesen die Qualitätspresse und schauen sich die Talkshows an.
Weimann: Natürlich. Aber erstens ist das eine relativ kleine Minderheit und bei weitem nicht die Mehrheit, die die Wahl entscheidet. Und zweitens müssen auch diese Menschen vor der Komplexität der Welt kapitulieren. Wir alle sind in den meisten Fragen Dilettanten und deshalb auf gute Narrative angewiesen, die uns die Welt erklären.
WiSt: Also gibt es auch gute Narrative? Was zeichnet die aus?
Weimann: Gute Narrative orientieren sich am besten verfügbaren Wissen und versuchen das so weit zu vereinfachen, dass es auch Laien gut verstehen können. Dabei gibt es zwei Probleme. Erstens kann es sein, dass die guten Narrative trotz aller Bemühungen immer noch zu komplex sind, so dann man sie nicht leicht versteht. Das ist beispielsweise in der Klimapolitik so. Das Narrativ der Ökonomen, das darauf hinweist, dass nur ein einheitlicher CO2-Preis in der Lage ist, rationale Klimapolitik zu ermöglichen, ist viel zu kompliziert, als dass es leicht verstanden werden könnte. Das zweite Problem ist, dass sich die guten Narrative im Wettbewerb mit schlechten befinden. Und die haben es leichter, denn sie müssen sich nicht an den wahren Daten und Fakten orientieren und sind deshalb viel flexibler. Sie lassen sich nahezu beliebig vereinfachen und erlauben damit große Anteile der Bevölkerung zu erreichen. Im Kern besteht das Problem darin, dass es für die Bewohner einer Demokratie extrem schwer ist, die guten von den schlechten Narrativen zu unterscheiden.
WiSt: Und welche Auswirkungen hat das?
Weimann: Der politische Wettbewerb ist zugleich ein Wettbewerb der Narrative. Da schlechte Narrative einfacher sein können als gute und sich nicht unbedingt an der Wahrheit orientieren müssen, haben sie einen Wettbewerbsvorteil. Das birgt die Gefahr, dass Demokratien tendenziell dazu neigen, schlechten Narrativen zu folgen und deshalb nicht in der Lage sind, zu guten Lösungen für die anstehenden Probleme zu kommen. Der Aufstieg der sozialen Medien hat die Situation massiv verschlechtert, weil Twitter und Co. es sehr leicht machen, schlechte Narrative in die Welt zu setzen und Gruppen um diese Narrative zu bilden.
WiSt: Aber dieses Problem hatten wir doch schon immer. Das ist nichts Neues. Und in der Vergangenheit hat die deutsche Demokratie doch sehr gute Antworten gefunden und uns zu einem der wohlhabendsten Länder dieser Erde gemacht.
Weimann: Das ist richtig. Der Grund dafür ist, dass wir früher einen einfachen Mechanismus hatten, der eine sehr effektive Reduktion der Komplexität politischer Entscheidungen erlaubt hat. Es reichte lange Zeit, sich an der Weltanschauung zu orientieren, die sich im Links-Rechts Schema abbilden ließ. War man eher links orientiert, hat man die Partei gewählt, die für Umverteilung und mehr Demokratie war. War man rechts, hat man die Partei gewählt, die für Wettbewerb und die Förderung der Familie eingetreten ist. Das hat gut funktioniert, denn es war bei den meisten Problemen ziemlich klar, was eine linke Lösung wäre und was eine rechte. Das funktioniert heute aber nicht mehr, denn für die wichtigen Probleme gibt es keine „linken“ oder „rechten“ Lösungen. Man muss sich mit dem Problem selbst befassen, um für sich herauszufinden, was man für eine gute Lösung hält. Und indem man das versucht, trifft man auf die extreme Komplexität der Problemlagen und braucht dann dringend geeignete Narrative, um sich zurecht zu finden.
WiSt: Was kann man tun um sicherzustellen, dass sich die guten Narrative durchsetzen?
Weimann: Sicherstellen kann man das nicht, aber man kann die Wahrscheinlichkeit erhöhen. Wichtig ist, dass wir einen Weg finden, auf dem die Menschen verlässliche Informationen über die Qualität der Narrative bekommen, die zur Wahl antreten. Dazu braucht man eine Institution, die erstens dazu in der Lage ist, Narrative kompetent zu bewerten und die zweitens dabei keiner Verzerrung unterliegt, weil sie partikularen Interessen dient. Mir fällt dabei nur die Wissenschaft ein. Gute Wissenschaft basiert auf intersubjektiv nachprüfbaren Evidenzen, die mittels wissenschaftlicher Methoden gewonnen werden, die sicherstellen, das wissenschaftliche Aussagen keinen normativen Charakter haben, sondern versuchen, Kausalzusammenhänge so objektiv wie möglich zu beschreiben. Das ist natürlich ein Ideal, das selbst im engeren Wissenschaftsbetrieb, der sich an den Universitäten, Hochschulen und staatlichen Forschungsinstituten abspielt, nicht immer vorliegt. Aber in den wissenschaftlichen Kreisen, in denen Menschen in einem Wettbewerb um knappe Kapazitäten in referierten Forschungsjournalen stehen, kommt man dem Idel am nächsten.
WiSt: Aber Wissenschaft allein dürfte nicht reichen. Schließlich kann man nicht erwarten, dass Menschen anfangen wissenschaftliche Publikationen zu lesen und zu verstehen.
Weimann: Völlig richtig. Deshalb braucht man einen kundigen Übersetzer und das können nur die Medien sein. Ich glaube, ein wichtiger Schritt könnte darin bestehen, dass die Frage, welche Wissenschaftler die Politik beraten, nicht mehr von der Politik entschieden wird, sondern von der Wissenschaft selbst. Das würde den Beiräten und Sachverständigenräten eine hohe wissenschaftliche Reputation verschaffen, die auch die Medien zwingen würde, über die Vorschläge und Analysen die aus der unabhängigen Wissenschaft kommen, zu berichten. Und dann könnten sich Politiker bei der Konstruktion ihrer Narrative nicht mehr ohne weiteres über das beste verfügbare Wissen zu einem Problem hinwegsetzen.
WiSt: Glauben Sie wirklich, dass es dazu kommt?
Weimann: Glauben hilft an der Stelle nicht. Aber man darf die Hoffnung nicht verlieren.
Hinweis: Das Interview erschien in Heft 4 (2023) der Fachzeitschrift WiSt.
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„Dazu braucht man eine Institution, die erstens dazu in der Lage ist, Narrative kompetent zu bewerten und die zweitens dabei keiner Verzerrung unterliegt, weil sie partikularen Interessen dient. Mir fällt dabei nur die Wissenschaft ein.“
Das ist eine schöne Idee. Die Erfahrungen mit der Covid-Pandemie dürften aber in weiten Teilen der Öffentlichkeit erhebliche Skepsis gegenüber der Wissenschaft geschaffen haben. Roger Pielke, Prof. für Technologiepolitik in Boulder, hat gerade in seinem Blog aus den von der US-Regierung nun veröffentlichen E-Mails der internationalen Forschergruppe um Antony Fauci zusammengefasst, wie die Labor-Hypothese wider besseres Wissen von führenden Wissenschaftlern (darunter auch ein deutscher) öffentlich verworfen wurde, um ganz bewusst ein falsches Narrativ zu setzen: https://rogerpielkejr.substack.com/p/covidgate.
Läuft es bei uns wirklich anders? Wieviel unsinnige Narrative hat sich die deutsche Wirtschaftswissenschaft in den letzten Jahren von der Politik aufschwatzen lassen? Man denke nur an das ganze Nachhaltigkeitsgeschwurbel mit dem jetzt so viele in der Öffentlichkeit renommieren wollen…