Personenfreizügigkeit (4)
Arbeitsmigration in die Schweiz

Seit Einführung des Freizügigkeitsabkommens (FZA) mit der EU-/EFTA im Jahr 2002 ist die Schweizer Bevölkerung um 1.5 Mio. Menschen gewachsen. Zwei Drittel der Zuwanderer kamen im Rahmen des FZA, und diese Zuwanderung wurde weitestgehend durch die Nachfrage der Wirtschaft bestimmt. Um diese Arbeitsmigration dreht sich unsere Übersichtsstudie (Arbeitsmigration in die Schweiz: Eine Einordnung aktueller Erkenntnisse. – IWP) – die Asylmigration steht dagegen nicht im Fokus.

Die ökonomische Theorie besagt, dass eine arbeitsmarktgesteuerte Zuwanderung die Wirtschaftsleistung und die Produktivität erhöhen kann. Die Zuwanderung hat über die Wirtschaft hinaus aber auch Auswirkungen auf den Staat und die Gesellschaft. Arbeitskräfte kommen beispielsweise häufig in Begleitung von Familienmitgliedern. Neuzugewanderte beteiligen sich an der Finanzierung des Sozialstaates und der öffentlichen Infrastruktur. Gleichzeitig beanspruchen sie Leistungen des Sozialstaates, nutzen die öffentliche Infrastruktur und tragen mancherorts zur Überfüllung bei. Diese Auswirkungen werden von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bei der Personalrekrutierung im Ausland nur teilweise berücksichtigt.

Es versteht sich von selbst, dass der Nutzen der Zuwanderung für rekrutierende Firmen und rekrutierte Zuwanderer die Kosten überwiegt. Ob dies für den Staat und die Gesellschaft insgesamt ebenfalls zutrifft, ist dagegen offen. Für eine Beurteilung des aktuellen Zuwanderungsregimes der Schweiz ist die Beantwortung dieser Frage allerdings zentral. Das IWP trägt in dieser Übersichtsstudie die aktuelle Literatur zum Thema Arbeitsmigration zusammen und ordnet sie ein. Wo Forschungslücken bestehen, nimmt sich das IWP dieser im Rahmen dieser Übersichtsstudie und künftiger Forschung an.

Erkenntnisse

1. Die Personenfreizügigkeit steigert die Wertschöpfung in der Schweiz, geht aber mit geringem individuellen Wohlstandsgewinn einher.

  • Das Schweizer BIP pro Kopf ist seit dem Jahr 2000 inflationsbereinigt um 23?% gestiegen. Damit liegt die Schweiz im europäischen Mittelfeld. Andere Länder wie Deutschland haben im selben Zeitraum ein ähnlich hohes BIP-pro-Kopf-Wachstum bei deutlich tieferer Zuwanderung erreicht.
  • Gemäss Studien geht nur ein kleiner Teil des BIP-pro-Kopf-Wachstums der Nullerjahre auf die Zuwanderung zurück. Die Zuwanderung hat durchschnittlich 0.09 bis 0.15 Prozentpunkte zum jährlichen BIP-pro-Kopf-Wachstum beigetragen. Die Schätzungen sind allerdings mit viel Unsicherheit behaftet. Für die Zeit nach 2013 existieren bislang keine Studien.
  • Das BIP ist als Wohlstandsindikator unzureichend. Während zuwanderungsbedingte Bautätigkeit das BIP steigert, werden beispielsweise negative Effekte für das Landschaftsbild, externe Effekte auf die Umwelt, die Qualität der Infrastruktur und die Lebensqualität nicht vom BIP erfasst.

2. Die hohe Zuwanderung bringt viele Fachkräfte in die Schweiz, hat den Fachkräftemangel aber nicht beseitigt.

  • Die Zahl der Firmen mit Rekrutierungsschwierigkeiten befindet sich auf dem höchsten Stand seit Beginn der Messung im Jahr 2004.
  • Zugewanderte Arbeitskräfte verursachen ihrerseits eine Nachfrage nach Arbeitskräften. Studien zeigen, dass für jede bei einem exportorientierten Unternehmen geschaffene Stelle für eine zugewanderte Fachkraft 0.6 bis 1.4 Stellen im lokalen Gewerbe neu entstehen.
  • Der Familiennachzug ist zahlenmässig bedeutsam: Von der seit 2002 eingereisten und im Jahr 2017 noch anwesenden ausländischen Wohnbevölkerung sind 40?% im Rahmen des Familiennachzugs eingereist. Im Gegensatz zur arbeitsmotivierten Zuwanderung werden im Rahmen des Familiennachzugs nicht gezielt Fachkräfte rekrutiert.

3. Die Zuwanderung lindert aktuell die strukturellen Probleme der AHV, ist aber keine dauerhafte Lösung.

  • Bei Schweizern kommen auf 10 Personen im erwerbsfähigen Alter 4 Rentner. Bei Ausländern beträgt dieses Verhältnis aufgrund des vergleichsweise tiefen Altersschnitts der Zuwanderer aktuell 10 zu 1. Dabei handelt es sich jedoch um eine Momentaufnahme, da auch Zugewanderte künftig verstärkt das Rentenalter erreichen.
  • Über den gesamten Lebenszyklus hinweg beziehen die meisten Personen mehr Leistungen aus der AHV, als sie selbst zu deren Finanzierung beigetragen haben: Pro Franken an Lohnbeiträgen erhalten EU-/EFTA-Bürger 1.76 Franken, übrige Zuwanderer über 2 Franken und Schweizer 1.83 Franken Rente. Die langfristige Finanzierung der AHV ist bei den aktuellen Beitragssätzen auf immer mehr Nettozuwanderung angewiesen – was die Nachhaltigkeit verletzt. Nur dann bleibt das aktuell vorteilhafte Verhältnis von Erwerbstätigen zu Rentnern auch künftig bestehen.

Forschungslücken

1. Überfüllungseffekte

  • In welchem Umfang die Zuwanderung zur Überfüllung der staatlichen Infrastruktur (ÖV, Strassen, Schulhäuser) beiträgt oder deren Ausbau bedingt, beziehungsweise in welchem Verhältnis die zusätzlichen Kosten und Steuereinnahmen durch Zugewanderte stehen, ist heute nicht bekannt.
  • Überfüllungseffekte können auch ausserhalb der staatlichen Infrastruktur auftreten (Wohnungsknappheit, Zunahme der Siedlungsfläche, abnehmende Selbstversorgung mit Strom und Lebensmittel, negative Effekte auf lokale Umwelt). Die damit verbundenen (nicht-)monetären Kosten sind heute kaum beziffert.

2. Magneteffekte

  • Der Magneteffekt bezeichnet die Anziehungskraft, die von einem Land mit grosszügigem Sozialsystem auf Einwanderer ausgeht. Empirische Studien weisen für einige Länder, darunter die Schweiz, auf die Existenz des Magneteffekts hin. Für die Schweiz ist der Magneteffekt dennoch noch zu wenig erforscht.

3. Auswirkungen der Migration auf die politische Kultur

  • Mit steigendem Ausländeranteil sinkt der Anteil der wahlberechtigten Bevölkerung. Ausserdem ist die Wahlbeteiligung von Eingebürgerten der 1. und 2. Generation vergleichsweise tief. Die Folgen für das direkt-demokratische System sind bisher ebenfalls kaum erforscht.

4. Steuerungssysteme

  • Bislang ist unbekannt, wie die Gesamtbilanz der Zuwanderung ausfällt, wenn die Auswirkungen auf die Wirtschaft, aber auch die Kosten und der Nutzen im staatlichen und gesellschaftlichen Bereich berücksichtigt werden. Für den Fall, dass die Kosten deren Nutzen übersteigen, stellt sich die Frage, mit welchen Reformen die Bedürfnisse der Wirtschaft nach Arbeitskräften stärker mit den gesellschaftlichen Anforderungen in Einklang gebracht werden können.

Blog-Beiträge der Serie: Personenfreizügigkeit

Klaus F. Zimmermann (GLO, 2023): EU-Personenfreizügigkeit in Gefahr. Stottert der Wachstumsmotor Mobilität?

Norbert Berthold (JMU, 2024): Binnenmarkt, Euro und Migration. Europa braucht mehr Mobilität, nicht weniger!

David Stadelmann (UBT, 2024): Personenfreizügigkeit mit Zuwanderungsabgaben?

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