Personenfreizügigkeit (1)
EU-Personenfreizügigkeit in Gefahr
Stottert der Wachstumsmotor Mobilität?

Migration gehört zu den Wachstumsfaktoren erfolgreicher Volkswirtschaften. Zuwanderung hilft bei der Bestandssicherung schrumpfender Bevölkerungen. Fluktuierende und flexible Arbeitskräfte sichern durch Anpassungen an ökonomische Bedarfe eine optimale Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen.[1] Die Personenfreizügigkeit ist ein grundlegendes Recht, das den Bürgern der Europäischen Union (EU) die Option einräumt, sich innerhalb der EU frei zu bewegen und zu arbeiten. Dieses Konzept eines offenen Arbeitsmarktes bildet einen integralen Bestandteil des europäischen Wirtschaftsmodells und ist eine der Errungenschaften der EU. Über Jahrzehnte hinweg haben die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes den europäischen Volkswirtschaften Entwicklung, Wohlstand und soziale Sicherheit gebracht. Es sind diese Grundfreiheiten, und nicht die Prinzipien der Demokratie und Menschenrechte, die Europa in der Welt attraktiv machen.

Angesichts der zunehmenden Krisen und Konflikte in Eurasien und Afrika, der Bevölkerungsexplosion in Afrika mit seinem enormen Potenzial an Arbeitskräften und dem steigenden Bedarf an Fachkräften in Europa aufgrund der demografischen Schrumpfung stellt sich die Frage nach der Zukunft der Personenfreizügigkeit in der EU. Illegale und legale Zuwanderung verstärken den Trend der Entfremdung der europäischen Bevölkerungen von Europa und führen zur politischen Radikalisierung, insbesondere auf der rechten Seite des politischen Spektrums. Die Herausforderung besteht darin, den Zustrom illegaler Zuwanderung einzudämmen, während gleichzeitig die benötigten Fachkräfte für Europa gewonnen werden müssen. Es stellen sich die Fragen, ob rechtliche Restriktionen und Asylbeschränkungen effektive Mittel sind, um diese Herausforderungen zu bewältigen, und ob die Aufgabe oder Einschränkung der Personenfreizügigkeit als mögliche Maßnahme zur Bewahrung des Gleichgewichts in den europäischen Gesellschaften genutzt werden kann.

Der vorweihnachtliche europäische Asylkompromiss wird von vielen als historisch bedeutsam betrachtet. Die verschiedenen Elemente dieses Kompromisses wurden bereits seit langem auf politischer Ebene intensiv diskutiert und galten auch zuvor in der Wissenschaft als unvermeidlich.[2] Eine der Hauptregelungen sieht vor, dass Asylsuchende sich an den Außengrenzen der EU registrieren und biometrisch erfassen lassen müssen. In Aufnahmelagern („streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen“ für Bewerber aus „sicheren Herkunftsländern“) sollen ihre Anträge zeitnah bewertet werden, und Rückführungen in Länder ohne Bedrohungslage sollen zügig eingeleitet werden. Länder, die nicht an den Grenzen liegen, erklären sich bereit, eine Quote an Asylbewerbern aufzunehmen oder leisten Ausgleichszahlungen. Dieser Kompromiss erfordert eine europäische Vereinheitlichung der nationalen Verfahren und setzt auf die Bekämpfung von Schleppern sowie der Fluchtursachen in den Ursprungsländern.

Eine geordnete, humane und schnelle Überprüfung der Asylanträge an den europäischen Außengrenzen, also auf europäischem Boden mit einem einheitlichen, fairen Verfahren, wäre zweifellos ein Fortschritt im Vergleich zur gegenwärtigen Praxis. Diese sieht entweder ein informelles Durchreichen von Migranten aus den EU – Grenzländern in andere EU-Länder mit langwierigen Verfahren und später möglichen Abschiebungen vor. Oder die Lösung des Problems wird durch Ausgleichszahlungen an Durchgangsstaaten wie bsw. die Türkei oder Libyen ohne Rücksicht auf humanitäre Kriterien oder asylrechtliche Prinzipien erkauft. Bei einer Prüfung nach dem neuen europäischen Asylkompromiss in einem europäischen Ersteintrittsland und einer erfolgreichen Anerkennung könnten Asylbewerber dann frei wählen, in welches EU-Gastland sie gehen möchten, oder sie könnten sogar nach sozialen und wirtschaftlichen Kriterien in Aufnahmeländer vermittelt werden.

Die Umsetzung der Regulierungen des Asylkompromisses in der Praxis wird entscheidend sein. Es ist unbestreitbar, dass die europäischen Grenzländer materielle und ideelle Unterstützung für ihre Dienstleistungen benötigen. Die politisch als „Verschärfung“ vermarktete Vereinbarung mag kurzfristig politische Entspannung bringen, solange der Glaube an die Zugangsbeschränkungen anhält, insbesondere im kritischen Wahljahr 2024, unter anderem zum Europäischen Parlament. Doch in der Praxis wird der politische Druck auf die etablierten politischen Parteien durch das Problem der illegalen Zuwanderung nicht so leicht nachlassen. Das Potenzial für illegale Zuwanderung aus den Armuts- und Krisenregionen der Welt, insbesondere aus Afrika, bleibt erheblich, und wird künftig sogar noch gewaltig zunehmen. Und die Erfahrung zeigt, dass institutionelle Restriktionen und staatliche Beschränkungen oft zu mehr Illegalität unter Zuwanderern führen. Daher wird das Thema der illegalen Zuwanderung die EU auch in der Zukunft weiterhin beschäftigen. Und Abschiebungen bleiben schwierig, sie scheitern sehr häufig bereits an der ungeklärten Frage, wo die Menschen ursprünglich herkamen.

Der Asylkompromiss könnte, wenn effizient umgesetzt, zu einer beschleunigten Anerkennung und gezielteren Verteilung von Asylbewerbern führen. Insbesondere ein gezieltes Profiling könnte zu einer verbesserten Integration in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft beitragen. Gleichzeitig bleibt die Herausforderung durch die illegalen Arbeitsmigranten bestehen, deren Zustrom und Bestand eher zunehmen wird. Das gesamte Mobilitätspotenzial durch EU-externe Zuwanderer bleibt also hoch oder nimmt sogar zu. Gleichzeitig ist es eher unwahrscheinlich, dass diese Entwicklungen den strukturellen Fachkräftemangel in den Teilen Europas nachhaltig reduzieren werden.

Der Fachkräftemangel, insbesondere in Ländern wie Deutschland, ist strukturell bedingt und resultiert aus einem demografischen Prozess der Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung. Dieses Phänomen ist seit Jahrzehnten absehbar, jedoch hat die Politik versäumt, rechtzeitig Anpassungsmaßnahmen zu ergreifen, wie beispielsweise eine deutliche Erhöhung der Lebensarbeitszeit. Die Schrumpfung der Bevölkerung führt zwangsläufig zu einem Rückgang des heimischen Arbeitskräftepotenzials, während die zunehmende Alterung die Arbeitsmobilität und Migration einschränkt. Die Mobilität der europäischen Bevölkerungen wird jedoch entscheidend sein, um diesen Herausforderungen erfolgreich zu begegnen.

Um dem Fachkräftemangel und den Mobilitätsdefiziten zu begegnen, könnte eine arbeitsmarktorientierte Zuwanderungspolitik einen Beitrag leisten. In Deutschland plant die Bundesregierung, Migranten schneller Staatsbürger werden zu lassen, bereits nach fünf Jahren Aufenthalt im Land oder sogar nach drei Jahren bei vorweisen guter Sprachkenntnisse, erfolgreicher schulischer oder beruflicher Leistung oder bei ehrenamtlichen Tätigkeiten. Eine doppelte Staatsbürgerschaft soll möglich werden, und bei der Anwerbung älterer Arbeitskräfte im Rahmen staatlicher Abkommen könnten schriftliche Deutschprüfungen und Einbürgerungstests entfallen. Diese Maßnahmen sollen Deutschland für Fachkräfte attraktiver machen, wenngleich noch nicht transparent ist, warum dies gelingen soll.  Allerdings ist dies Gegenstand anhaltender parlamentarischer Debatten, die sich voraussichtlich bis weit in das Jahr 2024 hineinziehen werden.

Es sollte deutlich gemacht werden, dass der Verzicht auf die Personenfreizügigkeit erhebliche ökonomische Kosten in Form von Wohlfahrtsverlusten in Europa nach sich zieht. Dies führt nicht nur zu einer Reduzierung von Gütern und Dienstleistungen, sondern auch zu geringeren staatlichen und sozialen Ausgleichsleistungen. Zudem stehen dadurch weniger Mittel zur Verfügung, um angemessen auf die aktuellen Herausforderungen inmitten der „Zeitenwende“ zu reagieren. Dies betrifft unter anderem die Finanzierung höherer Rüstungsausgaben, die Implementierung besserer Sicherheitssysteme zur Terrorismusbekämpfung und die Unterstützung der Ukraine bei der Verteidigung westlicher Sicherheit und gesellschaftlicher Werte. Die Ursprungsländer dieser Herausforderungen sind erkennbar in den Regionen Arabien, Afrika und Asien.

Sicherheit ist eine weitere Kategorie, gegen die die Personenfreizügigkeit ihren Wert behaupten muss. Eine sichere Organisation der Personenfreizügigkeit ist sicherlich machbar, erfordert jedoch wahrscheinlich erhebliche zusätzliche Ressourcen. Das Dilemma besteht darin, dass die Personenfreizügigkeit durch externe Zuwanderung in die EU und eine hohe interne Arbeitsmobilität wesentlich zur Schaffung der finanziellen Mittel beiträgt, die für die Bewältigung dieser Herausforderungen erforderlich sind. Die Möglichkeit dazu ist keine wirtschaftliche Erkenntnisfrage, sondern eine politische Gestaltungsaufgabe. Wenn es nicht gelingt, die breite Öffentlichkeit und Gesellschaft von den Vorteilen weiterer hoher Einwanderung und flexibler Arbeitsmobilität zu überzeugen, könnten die Herausforderungen für Demokratie und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in Europa bedenklich zunehmen.


[1] Klaus F. Zimmermann: Migration, Jobs and Integration in EuropeMigration Policy Practice, Vol. IV, Number 4, October – November 2014, 4 – 16.

[2] Holger Hinte, Ulf Rinne und Klaus F. Zimmermann: Flüchtlinge in Deutschland: Herausforderungen und Chancen , Wirtschaftsdienst, 95 (2015), 744-751.

Ulf Rinne und Klaus F. Zimmermann: Zutritt zur Festung Europa? Neue Anforderungen an eine moderne Asyl- und Flüchtlingspolitik , Wirtschaftsdienst, 95 (2015), 114-120.

Holger Hinte, Ulf Rinne und Klaus F. Zimmermann: Punkte machen?! Warum Deutschland ein aktives Auswahlsystem für ausländische Fachkräfte braucht und wie ein solches System aussehen kann, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 2016, 17(1): 68-87.

Zimmermann, Klaus F., Refugee and Migrant Labor Market Integration: Europe in Need of a New Policy Agenda in: Bauböck, R. and Tripkovic, M.,  The Integration of Migrants and Refugees.  An EUI Forum on Migration, Citizenship and Demography, European University Institute, Robert Schuman Centre for Advanced Studies, Florence 2017, pp. 88 – 100.

Klaus F. Zimmermann

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