Personenfreizügigkeit (3)
Personenfreizügigkeit mit Zuwanderungsabgaben?

Die Personenfreizügigkeit bringt einen großartigen Freiheitseffekt. Sie führt jedoch in besonders wettbewerbsfähigen Ländern auch zu erhöhter Zuwanderung und damit Bevölkerungswachstum. Um die dadurch entstehenden externen Kosten auszugleichen, böte die Einführung von Zuwanderungsabgaben einen freiheitlichen Lösungsansatz.

Im Jahr 2016 entschied sich Großbritannien mit dem Brexit als erstes Land für einen Austritt aus der Europäischen Union. Ob dieser Schritt weitere zukünftige Austritte wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher gemacht hat, bleibt unklar. Vieles dürfte davon abhängen, wie sich die wirtschaftliche Lage Großbritanniens im Vergleich zu den großen EU-Ländern Deutschland und Frankreich in den nächsten Jahren entwickelt. Die anhaltende wirtschaftliche Schwäche Deutschlands und die Schwierigkeiten in Frankreich verdeutlichen die Reformunfähigkeit zentraler EU-Mitglieder. Die Debatten in Großbritannien während der Übergangsphase von der Brexit-Abstimmung bis zum tatsächlichen EU-Austritt zeigten, wie kritisch viele mit der EU vertraute Politiker diese sahen. Beitritte der reichsten europäischen Volkswirtschaften, wie Norwegen und der Schweiz, erscheinen unwahrscheinlich. Doch auch Mitgliedschaften der Ukraine oder der Türkei sind aus vielfältigen Gründen in den nächsten Jahren nicht sehr naheliegend.

Insbesondere die Personenfreizügigkeit in der EU war und ist eine der zentralen Fragen für viele EU-Nachbarn, wie Großbritannien und der Schweiz. Sie wird innerhalb der EU selbst wenig diskutiert, obgleich in Ländern wie den Niederlanden, ähnlich wie bei Nicht-EU-Mitglied Schweiz, immer stärker über „Dichtestress“ aufgrund von Zuwanderung geklagt wird.

Personenfreizügigkeit und Freihandel

Der Brexit selbst wurde wesentlich durch die Debatte über Migrationsbewegungen nach Großbritannien geprägt und die Personenfreizügigkeit in der EU war gemäß Umfragen ein relevanter Einflussfaktor für die Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen. Zwar bringt die Personenfreizügigkeit einen großartigen Freiheitseffekt, da sie es den Bürgern erlaubt, sich ohne bürokratische Einschränkungen in einem anderen Mitgliedsstaat niederzulassen (Niederlassungsfreiheit) und dort Arbeit aufzunehmen (Arbeitnehmerfreizügigkeit).

Doch die Personenfreizügigkeit funktioniert nicht in gleicher Weise wie Freihandel. Freihandel verbessert Import- und Exportbedingungen. Die Konsumenten haben Vorteile durch günstigere Importe. Produzenten setzt zwar der steigende Preiswettbewerb im Freihandel zu, aber ihnen werden auch neue Exportchancen eröffnet, was potenzielle Skalenerträge realisierbar macht und stimulierend auf die Produktivität wirken kann. Im Allgemeinen führt Freihandel daher zu einem relativ symmetrischen Wachstum von Importen und Exporten und generiert Wirtschaftswachstum bei konstanter Einwohnerzahl, was wiederum das Pro-Kopf-Einkommen erhöht und so Wohlstand schafft. Zwar generiert Freihandel nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer, doch überwiegen die Nutzen von Freihandel die Kosten, so dass durch geeignete Umverteilungsmaßnahmen prinzipiell eine Verbesserung für alle erzielt werden könnte.

Die Personenfreizügigkeit hat andere Auswirkungen als der Freihandel: Sie ermöglicht verbesserte Ein- und Auswanderungsmöglichkeiten, was zunächst sehr vorteilhaft für die Bürger ist. Allerdings wird die Zuwanderung umso asymmetrischer, je attraktiver die politischen Bedingungen und die Einkommensverhältnisse in einem Land sind. Anders formuliert: Migration erfolgt in der Regel von weniger erfolgreichen Staaten in erfolgreichere, so dass die Migrationsströme oft asymmetrisch sind. Diese asymmetrischen Migrationsströme können zu Bevölkerungswachstum und Überlastungen führen, da die knappen Ressourcen wie Boden, Infrastruktur und Umwelt stärker beansprucht werden, was zu steigenden Kosten führt. Obwohl das durch Zuwanderung induzierte Bevölkerungswachstum die Gesamtwirtschaft volumenmäßig vergrößert, also das Bruttoinlandsprodukt insgesamt erhöht, steigt das Pro-Kopf-Einkommen meist nur bei besonders hochqualifizierter Einwanderung, die dazu beitragen kann, die totale Faktorproduktivität zu erhöhen. Bei durchschnittlicher Qualifikation der Zuwanderer bleibt das Pro-Kopf-Einkommen im Empfängerland oft gleich, die Gesamtwirtschaft wird lediglich gedehnt, ohne die Effizienz der Wirtschaft insgesamt zu steigern. Die Hauptnutznießer der Personenfreizügigkeit sind in der Regel die Migranten selbst. Werden deren Nutzengewinne mit einbezogen, überwiegen auch bei der Personenfreizügigkeit die Nutzen die Kosten. Insofern ist Personenfreizügigkeit großartig. Jedoch lässt sich der Nutzenüberschuss praktisch oft nicht umverteilen, um die Verlierer der Einwanderung zu entschädigen, da die Interpretation der EU-Regelungen zur Personenfreizügigkeit eine temporäre Diskriminierung zwischen bestehenden Einwohnern und neu Eingewanderten nicht zulassen. Dies bedeutet, dass bestehende inländische Arbeitnehmer und Einwohner, die unter den Folgen des Bevölkerungswachstums leiden, nicht durch gezielte Umverteilungsmaßnahmen entschädigt werden können.

Implizite Diskriminierung

Die Personenfreizügigkeit wird in der EU nicht nur durch mögliche Austritte bedroht, sondern auch durch ihre Auswirkungen in Ländern wie Frankreich oder Italien. Das Verbot, Einheimische explizit zu bevorzugen, hat paradoxerweise zu einem zunehmenden impliziten Schutz der Einheimischen oder zu einer indirekten Diskriminierung von Zuwanderern geführt. Instrumente wie Mindestlöhne und Kündigungsschutz im Arbeitsmarkt sowie Mietpreisbremsen und andere Wohnungsmarktregulierungen spielen dabei eine Rolle. Diese Maßnahmen sind laut EU-Recht zulässig, da sie nicht ausdrücklich Einheimische, sondern generell Arbeitsplatz- und Wohnrauminhaber gegenüber Markteinsteigern bevorzugen; zu letzteren zählen natürlich auch junge Einheimische. Die Folge ist eine wachsende Kluft zwischen den Generationen in einigen EU-Ländern: Viele ältere Menschen verfügen über sehr gut bezahlte Arbeitsplätze und leben in großen, relativ preiswerten Wohnungen, während junge Menschen oft von Praktikum zu Praktikum wechseln und zu hohen Kosten in Untermiete leben. Auch die mangelhafte Integration bestimmter Bevölkerungsgruppen in den Arbeitsmarkt, die mit als eine Ursache für extremistische Tendenzen gesehen wird, ist teilweise auf implizite Diskriminierungsmaßnahmen zurückzuführen, die eine indirekte Folge des Verbots expliziter Diskriminierung von Zuwanderern sind. Dies alles bedeutet nicht, dass die Personenfreizügigkeit allein für diese problematischen staatlichen Regulierungen verantwortlich ist, doch sie trägt dazu bei, dass diese zur indirekten Diskriminierung von Zuwanderern genutzt werden.

Marktintegration mit bedingter Personenfreizügigkeit

Es läge sowohl im wirtschaftlichen als auch im politischen Interesse der Bürger der EU, umfassende Freihandelsabkommen mit der Türkei und anderen Nachbarstaaten wie der Ukraine oder den Mittelmeerländern zu schließen. Gleichzeitig läge es im Interesse, dass der Handel mit Waren und Dienstleistungen mit Ländern wie Großbritannien oder der Schweiz im Grunde so frei ist, wie innerhalb der EU. Bisher führte der übliche Weg zur Vertiefung der wirtschaftlichen Beziehungen über eine EU-Mitgliedschaft. Diese würde den ärmeren Ländern langfristig auch die von ihnen gewünschte, jedoch von der EU gegenüber ihnen oft als problematisch angesehene Personenfreizügigkeit verschaffen – umgekehrt verhält es sich bei den Ländern, die wohlhabender sind als der EU-Durchschnitt.

Eine alternative Strategie sähe wie folgt aus: Die EU könnte gemeinsam mit Großbritannien und der Schweiz ein Marktöffnungsabkommen erarbeiten, das völlige Handels- und Dienstleistungsfreiheiten bietet, die Personenfreizügigkeit jedoch an bestimmte Bedingungen knüpft. Solange Migrationsströme über den Durschnitt mehrerer Jahre weitgehend ausgeglichen und symmetrisch sind, sollte die Zuwanderung völlig frei bleiben. Bei zunehmend asymmetrischer Migration, die zu einem starken Bevölkerungswachstum in den Zielländern führt, könnten zeitlich begrenzte Migrationsabgaben eingeführt oder Sozialleistungen für Zuwanderer angepasst werden, wie dies teilweise bereits in Großbritannien der Fall ist.

Mit einem solchen Übergangssystem könnte die Freizügigkeit im Sinne individueller Bewegungsfreiheit, ohne bürokratische Auflagen, fortbestehen. Ein Teil der Einnahmen aus Migrationsabgaben oder Einsparungen bei Sozialleistungen könnte zugunsten der Herkunftsländer der Einwanderer verwendet werden. Ein derartiges Abkommen würde auch die Türkei und andere EU-Nachbarn ohne negative Konnotationen integrieren. Letztlich könnte der Ansatz der bedingten Personenfreizügigkeit mit Migrationsabgaben auch innerhalb der EU selbst Anwendung finden. Solange die Migrationsströme ausgeglichen sind, würden keine Veränderungen eintreten. Erst bei stark asymmetrischen Wanderungsbewegungen würde das System greifen, wodurch die heute existierenden impliziten Diskriminierungsmaßnahmen, die den Markt, den Wohlstand und den sozialen Frieden zunehmend belasten, überflüssig würden und vollständig abgeschafft werden könnten.

Hinweis

Dieser Beitrag beruht auf dem wissenschaftlichen Aufsatz: Eichenberger, Reiner und David Stadelmann (2017). Zuwanderungsabgaben zum Erhalt des freien Personenverkehrs. WiSt, 10/2017: 23-27.

Zitiervorschlag

Stadelmann, David: Personenfreizügigkeit mit Zuwanderungsabgaben?, Wirtschaftliche Freiheit, 19. April 2024, https://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=36650

Blog-Beiträge der Serie: Personenfreizügigkeit

Klaus F. Zimmermann (GLO, 2023): EU-Personenfreizügigkeit in Gefahr. Stottert der Wachstumsmotor Mobilität?

Norbert Berthold (JMU, 2024): Binnenmarkt, Euro und Migration. Europa braucht mehr Mobilität, nicht weniger!

David Stadelmann
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