„Wird das Bemühen um wirtschaftliche Selbständigkeit nicht mehr ernsthaft eingefordert, ändert sich der Charakter der Hilfeleistungen weg vom Subsidiaritätsprinzip hin zu einer bedingungsarmen Leistung, bei der materielle Teilhabe stärker und die Integration in Arbeit schwächer gewichtet wird.“ (Holger Schäfer)
Die Energiepreis-Krise dominiert gegenwärtig alles. Es droht wirtschaftlicher Niedergang. Davon wären Arme stärker betroffen als Reiche. Vor allem ihnen muss aber geholfen werden. Damit ist die Grundsicherung gefordert. Die Bundesregierung plant, sie zu reformieren und wetterfest zu machen. Das Hartz-IV-System soll durch ein Bürgergeld ersetzt werden. Es besteht gesellschaftlicher Konsens, der Staat muss allen Bürgern ein (sozio-kulturelles) Existenzminimum garantieren. Das gilt unabhängig davon, ob Menschen unverschuldet oder selbst verschuldet in Not geraten. Die Hilfe der Gesellschaft ist aber nicht bedingungslos. Sie ist eine staatliche Hilfe zur individuellen Selbsthilfe. Auch darüber besteht Einvernehmen. Der Sozialstaat steht allerdings vor einem Dilemma. Ist er bei der Grundsicherung zu knickrig, verliert er den Kampf gegen die Armut. Agiert er dagegen zu großzügig, sabotiert er die Hilfe zur Selbsthilfe.
Die Diskussion um „fördern und fordern“ illustriert den Konflikt. Es ist Aufgabe der Politik, eine Balance zwischen Großzügigkeit staatlicher Leistungen und Forderungen an die Leistungsbezieher zu finden. Diese Balance ist einem ständigen Wandel unterworfen. Ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungen verändern sie. In den späten 90er und frühen 00er Jahren hatte die Grundsicherung eine Schlagseite zugunsten des „Förderns“. Das ging nicht gut. Die Arbeitslosigkeit stieg, der Sozialstaat wurde unfinanzierbar. In den Hartz-Reformen wurde das „Fordern“ wieder stärker betont. Der Widerstand vor allem gegen Sanktionen nahm zu. Mit dem neuen Bürgergeld schlägt das Pendel wieder zurück. Die Leistungen des Staates sollen großzügiger, die Anforderungen an die Transferempfänger geringer werden. Darüber ist politischer Streit entbrannt. Wie könnte eine optimale Balance zwischen Fördern und Fordern aussehen?
Welche Zustände herrschten in der Vor-Hartz-Zeit?
Die späten 90er und frühen 00er Jahre waren hierzulande wirtschaftlich keine gute Zeit. Deutschland wurde zum kranken Mann in Europa. Die Arbeitslosigkeit stieg stark an, die Langzeitarbeitslosigkeit erhöhte sich, die Erwerbsquote sank. Arbeitslose wurden vor allem in der Gesetzlichen Rentenversicherung versteckt. Die staatliche Beschäftigung wuchs. Die schlechte Lage auf den Arbeitsmärkten hatte viele Gründe. Einer war die expansive (Sockel)Lohnpolitik der Gewerkschaften, ein anderer waren institutionelle Defizite der Grundsicherung. Eine grottenschlechte aktive Arbeitsmarktpolitik verstärkte die negative Entwicklung. Vielfältige Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und immer neue Beschäftigungsgesellschaften erlebten einen Boom. Auch die Arbeitslosigkeitsindustrie blühte auf. Die Bundesanstalt für Arbeit tat vieles. Arbeitslose effizient zu vermitteln, gut zu beraten und marktverwertbar zu qualifizieren gehörte nicht dazu. Sie schönte lieber die Arbeitslosenzahlen.
In der Zeit um die Jahrtausendwende war die Balance zwischen „fördern“ und „fordern“ zugunsten des Förderns verzerrt. Es existierten zwei Institutionen, die für die Grundsicherung zuständig waren, die Arbeitslosen- und die Sozialhilfe. Die Arbeitslosenhilfe war eine Versicherungsleistung. Mit ihr wurde der Einkommens-Status der Transferempfänger vor der Arbeitslosigkeit berücksichtigt. Die Leistungen waren relativ hoch (57 % des letzten Nettoeinkommens für Arbeitslose mit Kindern, 53 % für alle anderen), die Dauer des Bezugs war (faktisch) unbegrenzt, die Zumutbarkeitskriterien waren eher lasch. Die Sozialhilfe wurde an Personen gewährt, die keinen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe hatten. Sie sicherte nur ein Existenzminimum ab. Finanziert wurde sie allerdings von den Kommunen. Diese versuchten deshalb ihre Klientel, kurzfristig in sozialversicherungspflichtige Arbeit zu bringen. Damit waren sie im Falle der neuerlichen Arbeitslosigkeit berechtigt, steuerfinanzierte Arbeitslosenhilfe zu beziehen. Dieser Drehtüreffekt war hochgradig ineffizient.
Was änderten die Hartz-Reformen?
Die stark steigende Arbeitslosigkeit in Europa löste um die Jahrtausendwende einen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Wandel aus, auch in Deutschland. Alte Rezepte funktionierten nicht mehr. Die Arbeitsmärkte waren stark verkrustet. Zentrale Lohn- und Tarifpolitiken stießen an die Grenzen heterogener Arbeitsmärkte. Arbeitslosenversicherung, Arbeitslosen- und Sozialhilfe schufen falsche Anreize. Die aktive Arbeitsmarktpolitik lief aus dem Ruder. Es wurde immer kostspieliger, „überschüssige“ Arbeit stillzulegen. Organisatorische Ineffizienzen der Bundesanstalt für Arbeit wurden offenkundig. Es musste etwas geschehen. Eine neue Balance von „fördern und fordern“ war unvermeidlich. Vor allem die skandinavischen Länder hatten das schon viel früher erkannt. Die Krise machte auch hierzulande ein neues Konzept dringlich. Mit der „Agenda 2010“ setzte der „Basta-Kanzler“ Gerhard Schröder und Rot-Grün die neue Balance von „fördern und fordern“ um.
Mit Hartz I – III wurde versucht, die Arbeitsmarktpolitik zu reformieren. Hartz IV sollte die Grundsicherung anreizkompatibler machen. Die Anreize sollten verbessert, die Sanktionen verschärft werden. In einem ersten Schritt wurden Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt. Vor allem Langzeitarbeitslose mussten spürbare Einbußen hinnehmen. Der materielle Status wird durch das Arbeitslosengeld II nicht mehr gesichert. Und (fast) alle angebotene Arbeit ist zumutbar. Mit einer geringeren Transferentzugsrate wurden die Anreize weiter erhöht, eine angebotene Arbeit anzunehmen. Trotzdem bleibt sie immer noch sehr hoch. Sie liegt bei einem Hinzuverdienst von über 100 Euro zwischen 80 und 100 %. Die Sanktionen wurden verschärft. Bei individuellem Fehlverhalten der Transferempfänger konnten die Leistungen teilweise empfindlich gekürzt werden. Das BVerfG hat sie allerdings 2019 erheblich entschärft.
Ein Blick in die Empirie zeigt, Hartz IV ist erfolgreich. Die Arbeitslosigkeit verringerte sich nach der Einführung im Jahr 2005 signifikant. Die Arbeitsmärkte haben bisher auch alle schweren Krisen – Finanz-, Euro- und Corona-Krise – relativ gut überstanden. Die Arbeitslosigkeit sank von 8,5 % im Jahr 2004 auf 5,1 % im Jahr 2019. Mit der massenhaften Arbeitslosigkeit ging auch die Langzeitarbeitslosigkeit spürbar zurück. Noch im Jahr 2005 hatte Deutschland die höchste Langzeitarbeitslosenquote in der OECD. Das hat sich grundlegend geändert. Eine rückläufige Quote der Langzeitarbeitslosigkeit verringerte auch die Zahl der Empfänger von Grundsicherung. Also: Es scheint als habe Hartz IV gewirkt. Mit zur positiven Entwicklung auf den Arbeitsmärkten haben aber auch andere Faktoren beigetragen. Eine stärker dezentrale Lohn- und Tarifpolitik (betriebliche Bündnisse für Arbeit) ist einer, die Abwertung des realen Wechselkurses für Deutschland in der EWU ein anderer. Wie auch immer: Hartz IV hat gewirkt.
Woran entzündet sich die Kritik an Hartz IV?
Die neue Balance von „fördern und fordern“ stieß nicht nur auf Zustimmung. Vor allem im linken politischen Lager war Hartz IV von Anfang an verhasst. In der Kritik stehen die Regelsätze im Arbeitslosengeld II. Viele erachten sie nicht nur als zu niedrig. Sie bemängeln auch, dass sie nicht dynamisiert sind. Es ist strittig, wie hoch das Existenzminimum sein soll. Wie immer bei normativen Fragen, muss darüber die Gesellschaft entscheiden. Ein inflationsindexierter Regelsatz scheint konsensfähig. Wie hoch er ausfallen soll, ist aber nicht nur eine normative Frage. Die Höhe hängt auch davon ab, wie groß der Lohnabstand sein soll. Ist er zu groß, ist die staatliche Hilfe zu gering. Ist er zu gering, lohnt Arbeit (zu) wenig. Das Sozialstaatsdilemma ist unübersehbar. Da die Kosten der Unterkunft und der Heizung erstattet werden, ist die Gefahr allerdings nicht von der Hand zu weisen, dass der Lohnabstand für bestimmte Transferempfänger, wie etwa Familien mit Kindern, zu gering ausfällt. Das schwächt die Hilfe zur Selbsthilfe.
Der größte Aufreger in der öffentlichen Diskussion sind die Sanktionen. Sie werden von Jobcentern bei Pflichtverletzungen (1/5) und Meldeversäumnissen (3/4) ausgesprochen. Allerdings waren im Jahr 2018 monatlich nur 3 % der erwerbstätigen Transferempfänger davon betroffen. Viele sehen in Sanktionen eine Gängelung der Leistungsempfänger und fordern, sie einzudämmen oder gar abzuschaffen. Diese Kritik verkennt, dass die Leistungen des Sozialstaates nicht bedingungslos sind. Es ist (noch) gesellschaftlicher Konsens, Transferempfänger sind zu Gegenleistungen verpflichtet. Werden sie nicht erbracht, fahren Transferempfänger unsolidarisch gesellschaftlich Trittbrett. Sanktionen sind elementarer Bestandteil des Konzeptes von „fördern und fordern“. Das sieht auch das Bundesverfassungsgericht nicht anders. In seinem Urteil aus dem Jahr 2019 hat es festgestellt, Sanktionen sind grundsätzlich verfassungskonform. Auch Regelsätze sind kürzbar, allerdings in Grenzen.
In der Kritik sind auch die sehr hohen Transferentzugsraten. Sie geben an, wieviel des selbst verdienten Einkommens dem Transferempfänger von der Grundsicherung abgezogen werden. Die Anreize für Hartz IV-Empfänger, eine angebotene Arbeit anzunehmen, sinken mit steigender Transferentzugsrate. In der Grundsicherung sind die Raten (fast) prohibitiv hoch. Nach einem Freibetrag von 100 Euro, liegen sie zunächst bei 80 %, steigen oberhalb von 800 Euro auf 90 % und liegen ab 1200 Euro bei 100 %. Wer die Arbeitsanreize erhöhen will, muss die Transferentzugsraten senken. Allerdings stößt ein solches Vorhaben an finanzielle Grenzen des Staates. Mit geringeren Anrechnungssätzen dehnt sich der Kreis der Leistungsempfänger immer weiter aus. Das Arbeitseinkommen, bis zu dem Transferempfänger auch noch Arbeitslosengeld II erhalten, erhöht sich. Die Transfergrenze verschiebt sich nach oben. Damit steigen nicht nur die finanziellen Belastungen des Staates. Auch immer größere Teile der Arbeitnehmer werden zu Transferempfängern.
Was bringt das neue Bürgergeld?
Rot-Grün hat „fördern und fordern“ umgesetzt, Rot-Grün-Gelb ändert trotz Gelb die Balance. Angesagt ist „mehr fördern“ und „weniger fordern“. Das geplante neue Bürgergeld, das mit der Idee eines liberalen Bürgergeldes außer dem Namen wenig gemein hat, setzt auf höhere Regelsätze, weniger Sanktionen, mehr Schonvermögen, geringere Transferentzugsraten und mehr Qualifizierung und Weiterbildung. Die Regelsätze sollen um ca. 50 Euro steigen, für Alleinstehende etwas mehr, für alle anderen etwas weniger. Zusammen mit der Einmal-Zahlung von 100 Euro und der Energiepreispauschale, die auch Aufstockern, nicht aber arbeitslosen Transferempfängern, zugutekommt, werden die inflationären Verluste des Arbeitslosengeldes II in diesem Jahr ausgeglichen, viel mehr auch nicht. Eine dynamische Anpassung der Regelsätze der Grundsicherung ist nicht vorgesehen. Die Politik entscheidet weiterhin diskretionär, oft nach Kassenlage, aber immer zeitverzögert.
Die größten Diskussionen haben die geplanten Maßnahmen ausgelöst, die darauf hinauslaufen, die Sanktionen zu verringern. Es soll eine Vertrauenszeit eingeführt werden. Bei Pflichtverletzungen soll es in den ersten 6 Monaten keine Sanktionen mehr geben, danach kann der Regelsatz um maximal 30 % gekürzt werden. Bei Meldeversäumnissen soll es in der Vertrauenszeit zwar geringfügig geringere Regelsätze für einen Monat geben, allerdings nur im Wiederholungsfall. Auch bei der Frage, ob die Kosten der Unterkunft angemessen sind, wird es eine Änderung geben. In den ersten beiden Jahren soll eine Prüfung entfallen. Bisher belief sich die Karenzzeit auf sechs Monate. Der jährliche Anteil der Betroffenen ist schon heute gering, er liegt bei weniger als einem Prozent der Transferempfänger. Das alles ist keine Revolution auf dem Weg zu einem bedingungslosen Grundeinkommen, wie bisweilen befürchtet wird. Es verändert allerdings schleichend den Charakter der Grundsicherung sukzessive, weg von der Subsidiarität hin zu „bedingungsarmen Leistungen“ (Holger Schäfer).
Viel Staub aufgewirbelt hat auch der Plan, die Anrechnung von Vermögen neu zu fassen. Für eine Zeit des Übergangs von zwei Jahren soll das Schonvermögen erhöht werden. Für eine Familie mit 2 Kindern sind das bis zu 150.000 Euro an Finanzvermögen. Dazu kommt das Vermögen für die Altersvorsorge und selbstgenutztes Wohnungseigentum jeder Größe. Das sind schon mittlere Vermögen. Der Bundesrechnungshof monierte das geplante Schonvermögen als unangemessen hoch. Es ist schon richtig, das Prinzip der Subsidiarität verlangt, eigene Mittel zu nutzen, bevor staatliche Leistungen in Anspruch genommen werden. Die Vermögensverteilung in Deutschland zeigt, die Regelung ist primär für Selbständige relevant. Vor allem sie setzen in der Altersvorsorge auf Vermögensbildung. Ein höheres Schonvermögen muss die Lasten für den Staat nicht erhöhen. Es führt zwar zu höheren Lasten bei Arbeitslosigkeit. Im Alter sind die Lasten aber geringer. Allerdings müssen die Erträge aus dem Schonvermögen auf die Rente angerechnet werden. Geschieht das allerdings nicht, könnten die Begünstigten über ein höheres Vermögen verfügen als die, die diese Leistung mit ihren Steuern finanzieren (Holger Schäfer). Die Gefahr eines höheren Schonvermögens besteht darin, dass es zur Statussicherung des Mittelstandes dient.
An einem neuralgischen Punkt des Arbeitslosengeldes II hat sich nicht viel geändert. Die Transferentzugsraten sollen zwar verringert werden, allerdings nur leicht. Die ersten 100 Euro bleiben weiter anrechnungsfrei. Der Bereich von 100 bis 520 Euro, der Einkommensgrenze für Minijobs, sollen Beschäftigte 20 % behalten können. Auf der Stufe zwischen 520 Euro und 1000 Euro rechnet das Jobcenter 30 % nicht an. Unverändert ist der Bereich zwischen 1000 Euro und 1200 Euro. Dort sollen 10 % anrechnungsfrei bleiben. Oberhalb von 1200 Euro ist geplant, alles auf das Arbeitslosengeld II anzurechnen. Die Anreize eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufzunehmen, werden durch die leicht geringere Transferentzugsrate kaum verändert. Die umstrittene Rolle der Minijobs beim Übergang in reguläre (Vollzeit)Beschäftigung soll ausgebaut werden. Damit soll die Gefahr verringert werden, dass noch größere Teile der Transferempfänger in die Schwarzarbeit abwandern.
Ein weiterer Baustein ist der Vorrang von Qulifizierung und beruflicher Weiterbildung vor der Vermittlung. Der bisherige Vermittlungsvorrang soll abgeschafft werden. Wichtiger als die schnelle Vermittlung in einen neuen Job, der nicht zu den Fähigkeiten des Arbeitslosen passt, sei eine solide berufsabschlussbezogene Qualifizierung und Weiterbildung. Dafür soll ein Weiterbildungsgeld bezahlt werden. Auch die berufliche Umschulung soll verlängert und stärker finanziell gefördert werden. Für Maßnahmen einer nachhaltigen Integration ist ein Bürgergeldbonus vorgesehen. Der „soziale Arbeitsmarkt“ (hier) soll entfristet und dauerhaft verankert werden. In einer Welt des schnelleren strukturellen Wandels sind verstärkte Investitionen in marktverwertbares Humankapital elementar. Es sollte allerdings „on the job“ erfolgen. Die leidvollen Erfahrungen mit „sozialen“ Arbeitsmärkten und der Arbeitslosigkeitsindustrie in der Vor-Hartz-Zeit sollten eine Warnung sein. „Soziale“ Arbeitsmärkte verkamen zu einem „employer of last resort“. Berufsbildungswerke waren eher steuerfinanzierte Gelddruckmaschinen – auch der Tarifpartner – als eine Stätte effizienter Investitionen in marktverwertbares Humankapital.
Wie sollte eine effiziente Grundsicherung aussehen?
Die geplante Reform von Hartz IV hat mehr Schatten als Licht. Das Bürgergeld verschiebt die Gewichte in der Grundsicherung hin zu „Fördern“ und weg von „Fordern“. Damit löst es das Sozialstaatsdilemma nicht. Der Zielkonflikt zwischen Effizienz und Gerechtigkeit wird verschärft. Er lässt sich grundsätzlich nicht beseitigen, allenfalls mildern. Mit dem Arbeitslosengeld II war man in Deutschland auf einem guten Weg. Davon scheint man nun abzukommen. Die immer wieder vorgeschlagenen Alternativen einer radikalen Reform der Grundsicherung tragen nicht. Ein bedingungsloses Grundeinkommen setzt allein auf „Fördern“. Das „Fordern“ wird eliminiert. Das Konzept des „Earned Income Tax Credit“ konzentriert sich dagegen aufs „Fordern“. Der Aspekt des „Förderns“ ist unterbelichtet. Trotz aller Schwächen scheint der deutsche (europäische) Weg des „Förderns und Forderns“ sinnvoll. Dabei sollte allerdings immer bedacht werden, dass der Sozialstaat nicht bedingungslos ist. Existierende Schwächen der Grundsicherung sollten verringert werden.
Es macht Sinn, die Regelsätze mit der Entwicklung der Inflationsrate zu dynamisieren. Die Anreize, eine sozialversicherungspflichtige Arbeit aufzunehmen, sollten gestärkt werden. Allerdings ist der finanzielle und gesellschaftliche Spielraum für eine geringere Transferentzugsrate begrenzt. Eine Politik der Statussicherung sollte möglichst vermieden werden. Die Probleme zeigen sich beim Schonvermögen. Sanktionen sind sinnvoll und notwendig, wenn genügend Arbeitsplätze vorhanden sind. Ansonsten sind sie Schikane. Für die notwendigen Arbeitsplätze haben die Tarifpartner zu sorgen. Helfen kann eine betriebsnähere Lohn- und Tarifpolitik. Eine wertvolle Hilfe ist auch eine effiziente Politik der Qualifizierung und Weiterbildung. Die Investitionen in Humankapital sollten aber vorwiegend „on the job“ in den Unternehmen erfolgen. Staatliche Hilfen, wie Lohnkostenzuschüsse, sind denkbar, wenn auch nicht unproblematisch. Die in eine Arbeitslosigkeitsindustrie ausgelagerte aktive Arbeitsmarktpolitik ist ebenso wie „soziale“ Arbeitsmärkte keine wirkliche Alternative.
Die demographische Entwicklung lässt künftig Arbeit knapp werden. Umso wichtiger ist es auch unter diesem Aspekt, die Anreize zu verbessern, damit Transferempfänger der Grundsicherung eher bereit sind, eine reguläre Arbeit aufzunehmen. Das Nebeneinander verschiedener Transfersysteme behindert eine solche Entwicklung. Das wird offensichtlich bei den Wohnkosten. Die Grundsicherung übernimmt sie zur Gänze, das Wohngeld deckt aber nur etwa die Hälfte ab. Das verringert die Anreize, die Grundsicherung zu verlassen. Und noch etwas stört. Betrachtet man Arbeitslosengeld II, Wohngeld und Kinderzuschläge zusammen, können die Grenzbelastungen mit höherem Einkommen auf über 100 % steigen. Ab bestimmten Einkommensgrenzen, die in den Transfersystemen unterschiedlich hoch sind, verlieren Transferempfänger das Anrecht auf Leistungen oder Teile davon. Es kommt an Sprungstellen zu „Umkippeffekten“. Mehr brutto bedeutet weniger netto. Eine „kleine“ Lösung, die es schafft, die Regeln der Transfersysteme einander anzugleichen, die wenig kostet und systembedingte Sprungstellen beseitigt, würde mit dazu beitragen, dass sich (zusätzliche) Erwerbsarbeit wieder eher lohnt (hier).
Fazit
Ein „fast bedingungsloses“ Grundeinkommen wird es nicht werden, das neue Bürgergeld. Von einem „bedingungsarmen“ Grundeinkommen kann man aber getrost reden. Die geplante Reform der Grundsicherung ist in weiten Teilen reaktionär. Das erfolgreiche Prinzip von „fördern und fordern“, das den Hartz-Reformen zugrunde lag, wird aufgeweicht. Die neue Balance orientiert sich wieder stärker am „Fördern statt Fordern“ der dunklen Vor-Hartz-Zeit. „Mehr fördern, weniger fordern“ ist die neue Leitlinie. Das gilt für die geplanten Sanktionen, die Kosten der Unterkunft und mit Abstrichen auch für das Schonvermögen. Das Problem des Lohnabstandes wird nicht verringert, im Gegenteil. Allerdings: Ganz aufgegeben hat die Politik den Charakter der Subsidiarität und das Prinzip der Reziprozität aber (noch) nicht. Weichere Sanktionen verringern zwar die Anreize, zügig eine reguläre Beschäftigung aufzunehmen. Allerdings versucht die Ampel, mit (leicht) geringeren Transferentzugsraten dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Der Schritt, die (berufliche) Qualifizierung und Weiterbildung zu stärken, ist einer in die richtige Richtung. Allerdings nur, wenn er marktverwertbares Humankapital aufbaut und nicht von der Arbeitslosigkeitsindustrie gekapert wird. Einen wichtigen Aspekt haben allerdings weder das alte Hartz IV noch das neue Bürgergeld adressiert: Eine stärkere Dezentralisierung der Grundsicherung, die den Kommunen mehr Entscheidungsfreiheit einräumt (hier).
Literatur
Holger Schäfer (2022), Bürgergeld statt Hartz IV, in: Wirtschaftsdienst, 102. Jahrgang, 2022 · Heft 2 · S. 82–85
Ronnie Schöb (2020): Der starke Sozialstaat. Weniger ist mehr. Frankfurt und New York
Podcasts zum Thema:
Bürgergeld statt Hartz IV. Ein sozialpolitischer Rückschritt
Prof. Dr. Norbert Berthold (JMU) im Gespräch mit Prof. Dr. Ronnie Schöb (FU)
Die sozialpolitische Revolution fällt aus. Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine Schnapsidee
Prof. Dr. Norbert Berthold (JMU) im Gespräch mit Prof. Dr. Ronnie Schöb (FU)
Blog-Beiträge zum Thema:
Holger Schäfer (2022): Bürgergeld: Bedingungsarmes Grundeinkommen?
Norbert Berthold (2018): „Soziale“ Arbeitsmärkte sind fauler Zauber. „Solidarisches Grundeinkommen“, staatliche Beschäftigung und dezentrale Verantworung
Norbert Berthold (2014): Des Läba isch koin Schlotzer. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist grober Unfug
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