Gastbeitrag
Grünes Licht für die VDL-2 Kommission
Findet jetzt ein Politikwechsel hin zu mehr Wettbewerbsfähigkeit statt?

Einleitung

Am 27. November 2024 hat das Europäische Parlament die neue Kommission unter Führung von Präsidentin von der Leyen bestätigt. Somit kann die VDL-2 Kommission knapp sechs Monate nach der Europawahl am 1. Dezember 2024 ihr Amt antreten.

Die erste Amtszeit der VDL Kommission stand ganz im Zeichen des Green Deals, einer umfassenden Strategie, mit der die EU das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 erreichen will. Mit dem Paket Fit for 55 hat die VDL-1 Kommission die EU-Klimaziele in EU-Rechtsakte übertragen und eine Vielzahl von Regulierungs-vorschlägen in den Bereichen Klima, Umwelt, Energie, Verkehr, Industrie, Landwirtschaft und nachhaltiges Finanzwesen vorgelegt. Der Green Deal, auch als Man-on-the-Moon-Vorhaben bezeichnet, sollte die EU zum Vorreiter bei Klimatechnologien machen und sollte zu Wirtschaftswachstum und neuen Arbeitsplätze führen. Die EU hat diese Vorreiterrolle nicht erreicht, sie ist im Vergleich zu den USA und China zurückgefallen, sie ist kein Klimatechnologie-Weltmeister dafür aber Regulierungsweltmeister. In ihrer ersten Amtszeit hat die VDL-1 Kommission über 400 Verordnungen und über 130 Richtlinien vorge-schlagen; hinzu kommen mehr als 800 delegierte Rechtsakte und mehr als 4900 Durchführungsrechtsakte. Der Draghi-Bericht spricht gar von 13.000 Regulierungen. All diese Regulierungsaktivitäten haben zu erheblichen Kosten-steigerungen und zu einer Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft geführt. Präsident Macron, ein Befürworter des Green Deals und der verantwortliche Staatschef für die Auswahl von Präsidentin von der Leyen im Jahre 2019, hat schon im Mai 2023 zu einer europäischen Regulierungspause aufgerufen. Auch der Draghi-Bericht sieht die Gefahr einer Deindustrialisierung durch verfehlte Regulierungen zur Dekarbonisierung.

Am 27. Juni 2024 hat der Europäische Rat die Strategische Agenda 2024 – 2029 verabschiedet. Mit ihr legen die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten ihre Prioritäten und strategischen Ausrichtungen für die kommenden fünf Jahre fest. Sie dient als Richtschnur für die Arbeit der EU-Organe. Sie enthält drei Schwerpunkte: ein freies und demokratisches Europa, ein starkes und sicheres Europa und ein wohlhabendes und wettbewerbsfähiges Europa. Auch die politischen Leitlinien für die nächste Kommission 2024 – 2029 setzen auf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas und auf Bürokratie-abbau. 

Bemerkenswert ist, dass der Politikwechsel zu mehr Wettbewerbsfähigkeit gerade von der Protagonistin kommen soll, die die Überregulierung und den Bürokratieaufbau der letzten Jahre mitzuverantworten hat. Es wäre aber unfair, hierfür nur die Europäische Kommission verantwortlich zu machen. Als Initiator der europäischen Gesetzgebung trägt sie zwar Verantwortung, die kritisierten Regulierungen wurden aber vom europäischen Co-Gesetzgeber (Rat und Europäisches Parlament) verabschiedet, also mitgetragen. Das EP und der Rat (die Mitgliedstaaten!) müssen sich daher ebenfalls ihrer Verantwortung stellen.

Wie also sollten Kommission, Europäisches Parlament und Rat in der Amtszeit 2024 – 2029 zusammenarbeiten, um Bürokratie abzubauen und um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zu stärken? Diese Frage möchte ich anhand folgender Themen erörtern:

  1. Europäische Regulierungsvorhaben stärker national diskutieren.
  2. Wettbewerbsfähigkeit stärken – Bürokratie abbauen.
  3. The German Vote – die Bedeutung der Ratsarbeit zur Erreichung eines Politikwechsels.
  4. Das Europäische Parlament hat Macht! Wird es den Politikwechsel verhindern?
  5. Das Komitologieverfahren – den Regulierungswildwuchs eindämmen.
  6. Handelspolitik – Geopolitik und regelbasierter Ansatz.
  1. Europäische Regulierungsvorhaben stärker national diskutieren

Im Vorfeld der Wahl zum Europäischen Parlament gab es eine nationale Debatte über europapolitische Themen.  Wie die Erfahrung zeigt, bleibt dies nicht so.

Zentraler Diskussionspunkt war der Green Deal mit seiner Vielzahl die Wirtschaft und die Bürger betreffender Regulierungen. Gerade die konservativen Parteien haben im Wahlkampf die Detailtiefe der Regulierungen und die hiermit verbundene überbordende Bürokratie gebrandmarkt, die die Wettbe-werbsfähigkeit Europas zunehmend negativ beeinträchtigt.

Dennoch! Auch wenn die Europapolitik national bei dieser Wahl eine stärkere Beachtung fand als früher, waren nationale und nicht europäische Aspekte wahlentscheidend. Europa ist auch im Jahre 2024 noch immer weit weg vom Bürger und die Wahl zum EP ist kein echtes Votum über die Europapolitik der vergangenen fünf Jahre. Dies ist umso erstaunlicher, als die verabschiedeten europäischen Gesetze den Bürger direkt betreffen, wie zum Beispiel die europäische Gebäuderichtlinie (RL (EU) 2024/1275): Die Richtlinie sieht zwar keinen Sanierungszwang vor, sie legt aber dennoch eine konkrete Senkung des Energieverbrauchs fest, die die Mitgliedstaaten umsetzen müssen. Wenn diese dann die Bürger mit nationalen Regeln in die Pflicht nehmen, wird der Aufschrei groß sein. Dann wird automatisch wieder die Schuld Europa zugeschoben. Das „Europabashing“ verschweigt aber geflissentlich, dass die Regulierung von EP und Rat verabschiedet wurde, in aller Regel mit deutscher Zustimmung! Warum, so fragt man sich, ist es unmöglich, dass im Vorfeld der Verabschiedung der europäischen Gebäuderichtlinie eine öffentliche Diskussion mit der Vehemenz stattfindet, wie wir sie in Deutschland während des Habeckschen Heizungs-gesetzes erlebt haben. Die Folge wäre, dass die europäische Gesetzesinitiative erhebliche Änderungen erfahren oder vielleicht sogar zurückgewiesen werden könnte.

Dasselbe gilt für das Verbrennerverbot. Rat und Parlament haben im März 2023 die CO2– Flottengrenzwerte der Verordnung 2019/631 deutlich verschärft und ab 2035 eine CO2-Emissionsminderung von 100 % beschlossen mit der Folge, dass ab 2035 nur noch emissionsfreie Neuwagen (Verbrennerverbot) auf den Markt gebracht werden dürfen. Deutschland hat dieser Verschärfung im Rat zugestimmt. Der Europäische Rat feiert diese Regulierung überschwänglich: für die Bürger führt der Übergang zu emissionsfreien Fahrzeugen zu weniger Luftver-schmutzung und zu einem besseren Schutz der Gesundheit; für die Verbraucher führt die Regulierung zu höheren Produktions- und Verkaufszahlen emissions-freier Fahrzeuge, zu erschwinglicheren Modellen und zu weniger Energie-verbrauch; und für die Automobilindustrie führt die Regulierung zu mehr Innovationen bei emissionsfreien Technologien, der Stärkung der technologischen Führungsrolle und der Wettbewerbsfähigkeit sowie zu mehr Arbeitsplätzen in der Entwicklung und Bereitstellung neuer Technologien. Nur 18 Monate später befindet sich die europäische Automobilindustrie in einer schweren Krise. Die von der Politik erwarteten Vorteile der Regulierung sind nicht eingetreten, im Gegenteil. Erschwingliche E-Autos kommen, wenn überhaupt, aus China und werden jetzt wegen der chinesischen Subventionen beim Import mit einem Ausgleichszoll belegt. Außerdem denkt die Automobilindustrie über Werksschließungen und Arbeitsplatzabbau nach. Auch die in der Verordnung ab 2025 vorgesehenen Strafzahlungen stehen auf dem Prüfstand. Waren diese Entwicklungen im Frühjahr 2023 nicht vorhersehbar? Wie konnte der Europäische Rat eine solche Fehleinschätzung treffen?

Man stelle sich vor die Bundesregierung hätte im Bundestag ein Gesetz zur Einführung eines Verbrennerverbots à la EU eingebracht. Ein solches Gesetz wäre in Deutschland vermutlich gescheitert. In Europa wurde es verabschiedet und dies hat zu einer tiefen Verunsicherung der Bürger geführt, wie die sinkende Nachfrage für E-Autos in Deutschland deutlich macht. Die Nichteinbeziehung des Bürgers auf nationaler Ebene bezüglich des europäischen Gesetzgebungs-prozesses ist für das Projekt Europa brandgefährlich, weil man anti-europäischen Tendenzen einen Nährboden bereitet. Der Brexit hat gezeigt, wie leicht es ist, mit populistischen Argumenten erfolgreich Stimmung gegen Europa zu machen. Es geht hier nicht um eine Rückübertragung europäischer Kompetenzen auf die nationale Ebene, wie von vielen anti-europäischen Parteien gefordert, die europäischen Zuständigkeiten stehen nicht zur Diskussion; es geht vielmehr darum, dass die nationale Politik den Bürger in der Europapolitik mit einbezieht und ihm das Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem Brüsseler Entscheidungs-prozess nimmt. Wenn sechzig Prozent der Bundesbürger das Verbrennerverbot ablehnen (Umfrage März 2023), dann führt eine fehlende Auseinandersetzung mit diesem Thema auf nationaler Ebene nur zu einer Stärkung anti-europäischer Kräfte.  

Fazit: Nach der Wahl zum Europäischen Parlament darf Europa nicht bis 2029 in einen medialen Dornröschenschlaf verfallen. Europa viel zu wichtig, als dass man hierüber nur im Fünfjahresrhythmus diskutiert. Die vorgeschlagenen Rechtsvor-schriften betreffen uns alle und müssen daher national ebenso vehement diskutiert werden wie nationale Gesetzgebungsvorhaben. Nationale Politik und Medien tragen hierfür Verantwortung.

  • Wettbewerbsfähigkeit steigern – Bürokratie abbauen

Bürokratieabbau – „Every Commission the same procedure”

Am 1. Dezember 2024 beginnt die Gesetzgebungsarbeit der VDL-2 Kommission.  Basis hierfür sind die Politischen Leitlinien 2024 – 2029 sowie die Strategische Agenda 2024 – 2029 des Europäischen Rates. Sie stehen ganz im Zeichen von Bürokratieabbau und einer nachhaltigen Wettbewerbsfähigkeit. Jedes Mitglied der neuen Kommission ist angehalten, sich auf weniger Verwaltungsaufwand und Berichterstattung zu konzentrieren, sondern auf mehr Vertrauen, bessere Durchsetzung und schnellere Genehmigungen.   Der gesamte EU-Besitzstand soll unter Führung eines Vizepräsidenten einem Stresstest unterzogen werden. All dies klingt vielversprechend, Zweifel sind dennoch angebracht. In der VDL-2 Kommission wird Kommissar Dombrovskis für den Bürokratieabbau zuständig sein, nicht etwa ein Vizepräsident.

Die VDL-1 Kommission hat das von ihr verfolgte One-in – One-out Prinzip ebenso verfehlt, wie das Ziel, die Berichtspflichten um 20 Prozent zu senken. Im Gegenteil, die Berichtspflichten für Unternehmen haben überdimensional zugenommen. Laut einer konservativen Schätzung des Bundesjustizministeriums belaufen sich allein die Kosten der Nachhaltigkeitsberichterstattungsrichtlinie (CSRD, RL (EU) 2022/2464) auf jährlich 1,6 Milliarden Euro. Auch der deutsche Juristentag hält diese Richtlinie für unverhältnismäßig. Es gibt weitere Rechtsvorschriften, die zwar gut gemeint sind, die Wirtschaft aber mit erheblichen Berichtspflichten überziehen, wie zum Beispiel die Entwaldungs-verordnung (EUDR; VO (EU) 2023/1215). Ihr hehres Ziel ist die Verhinderung der Abholzung von Regenwäldern mit der Folge, dass beim Import bestimmter Rohstoffe (zum Beispiel Soja oder Holz) der Nachweis einer entwaldungsfreien Lieferkette erbracht werden muss. Die Kommission hat kürzlich vorgeschlagen, die Umsetzung dieser Verordnung um 12 Monate zu verschieben. Auch die CBAM-Verordnung (EU 2023/956, kurz Klimazoll auf energieintensive Importe) führt zu einem erheblichen bürokratischen Aufwand. Die Unternehmen sind verpflichtet, Angaben über den CO2-Fußabdruck der Importe zu machen, sie müssen also Daten im Ausland erheben, deren Ermittlung nicht nur schwierig, sondern auch sehr personalintensiv ist.

Die Praxis wird zeigen, ob die Politischen Leitlinien nur eine kommunikative Meisterleistung der Kommissionspräsidentin zur Ermöglichung ihrer Wiederwahl waren oder ob die neue Kommission sie auch umzusetzen imstande ist. Über den Umfang des Bürokratieabbaus entscheidet zunächst die Kommission, denn nur sie allein macht die Vorschläge, die dann oft vom EP seltener vom Rat noch verschärft werden.

Vorschläge zum Bürokratieabbau:

Es ist zwar unwahrscheinlich, aber die Kommission könnte bestimmte Regulierungen ganz zurückziehen, wie die umstrittene Taxonomie-Verordnung (Klassifizierungssystem für ökologisch nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten), so der Vorschlag des Präsidenten des IFO-Instituts, Clemens Fuest.

Sie könnte auch entscheiden, die Berichtspflichten nicht länger einseitig den Unternehmen aufzubürden, sondern sie vielmehr lastenteilig zwischen Unternehmen und Staat zu verteilen. Anstelle die gesamte Lieferkette auf die Einhaltung eines umfangreichen Katalogs von Umwelt- und Menschenrechten zu kontrollieren, könnte eine geänderte europäische Lieferkettenrichtlinie (CSDDD, RL (EU) 2024/1760)  einen Negativlistenansatz vorsehen: Europäische Unternehmen sollten mit Unternehmen außerhalb der EU dann keine Geschäfte mehr machen dürfen, wenn diese sich nachweislich schwerwiegender Verstöße gegen Menschenrechte schuldig gemacht oder schwerwiegende Umwelt-verstöße begangen haben. Dass sich die Kommission mit einem Listenansatz schwertut, zeigt die Konfliktmineralien-Verordnung 2017/821, die EU-Importeure von Zinn, Tantal, Wolfram und Gold aus Konfliktgebieten zu umfangreichen Sorgfaltspflichten in der Lieferkette verpflichtet. Artikel 9 dieser Verordnung sieht vor, dass die Kommission eine weltweite Liste verantwortungsvoller Hütten und Raffinerien erstellen sollte, um damit die Sorgfaltspflichten von EU-Importeuren zu erleichtern. Die Verordnung ist im Juni 2017 in Kraft getreten, bis heute liegt aber keine Positivliste vor. Während es der Kommission in sieben Jahren nicht gelungen ist, eine Positivliste für einen klar abgegrenzten Anwendungsbereich zu erstellen, überzieht sie die Unternehmen in der Lieferkettenrichtlinie mit ungleich weitreichenderen Sorgfaltspflichten; und Rat und EP stimmen einfach zu. Fast könnte man annehmen, dass der Staat die Umsetzung der Gesetzes nicht mehr als seine Aufgabe ansieht, sondern sie auf die Unternehmen ablädt.

Der Bürokratieabbau sollte auch Überschneidungen existierender Regelungen abschaffen: so doppeln sich zum Beispiel die Berichtspflichten nach der Entgelttransparenzrichtlinie mit denen der CSRD-Richtlinie. Ferner sollte die Kommission Widersprüche zwischen Regulierungen beseitigen: einerseits führt die CSDDD-Richtlinie zwangsläufig zu einer Konsolidierung der Lieferkette, da die Unternehmen ihre Sorgfaltspflichten und das Rechtsrisiko geringhalten wollen, andererseits will der Critical Raw Materials Act (VO (EU) 2024/1252) die Rohstoffsicherheit der EU durch größere Diversifizierung erhöhen. Konsoli-dierung oder Diversifizierung?   

Bisherige Erfahrungen:

Gute Erfahrungen mit Bürokratieabbau gibt es in der EU nicht wirklich. Man denke nur an die Better Regulation Initiative und den mit ihr verbundenen Fitness-Check (REFIT) aus dem Jahre 2012, die zu Regulierungen hätten führen sollen, die zielgerichtet, effektiv, und mit möglichst geringem Aufwand einfach umzusetzen sind. Auch die im Jahre 2008 vom damaligen Kommissions-vizepräsidenten Günter Verheugen eingesetzte hochrangige Arbeitsgruppe zum Bürokratieabbau unter Leitung von Edmund Stoiber sah in ihrem Ergebnisbericht im Jahre 2015 für alle EU-Vorhaben einen Bürokratiecheck vor. All diese Initiativen hätten eigentlich zu einer „besseren“ Regulierung und führen sollen. Die Realität heute, neun Jahre nach dem Stoiber Bericht, ist, dass Brüssel weiterhin Bürokratie auf- anstatt abbaut.  

Der nationale Normenkontrollrat forderte im Oktober 2024, EU-Regulierungen zurückhaltender, bürokratieärmer und zielgenauer zu gestalten und Minister Habeck geht noch weiter und möchte bei der Entwaldungsverordnung und den CSRD- und CSDDD-Richtlinien die Kettensäge anlegen – eine Erkenntnis, die nach dem Inkrafttreten der Regulierungen leider zu spät kommt! Im Dezember 2022 hat Staatssekretär Giegold die Einigung des Rates in Sachen CSDDD noch als großen Erfolg auch für die Wirtschaft gefeiert.

Fazit: Die VDL-2 Kommission muss liefern. Sie muss beweisen, dass Bürokratie tatsächlich abgebaut wird und dass die Berichtspflichten für Unternehmen um mindestens 25 Prozent (für KMU mindestens 35 Prozent) gesenkt werden. Die Verschiebung der Umsetzung der Entwaldungsverordnung ist ein erster, zaghafter Anfang, sie reicht bei weitem nicht aus.

Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit: „wer einen Sumpf trockenlegen will, sollte nicht die Frösche fragen“.

Der Green Deal steht nicht zur Disposition! Die VDL-2 Kommission wird sich vielmehr auf die Umsetzung des bestehenden Rechtsrahmens für 2030 konzentrieren, möglichst einfach, fair und kosteneffizient und dies mit einem neuen Deal für eine saubere Industrie. Der Green Deal wird umbenannt und heißt jetzt A New Clean Industrial Deal. Die Kommission wird einen Rechtsakt vorschlagen, der den europäischen Leitmarkt für die Entwicklung, Herstellung und Verbreitung sauberer Technologien in der Industrie fördern soll. Zusätzlich plant sie einen Rechtsakt über die Kreislaufwirtschaft, mit dem die Markt-nachfrage nach Sekundärrohstoffen und ein Binnenmarkt für Abfälle geschaffen werden soll.  Dieses Muster ist typisch für Brüssel. An eine Reduzierung der Regulierungsdichte ist nicht gedacht, vielmehr soll die Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit durch weitere Regulierungen und durch einen Wett-bewerbsfähigkeitsfonds erreicht werden. Was genau bedeutet das? Sind wir auf dem Weg in eine französisch inspirierte und ordnungspolitisch höchst umstrittene Industriepolitik basierend auf Regulierung, Subventionen und Protektionismus? Gerade die Exportnation Deutschland, aber auch die europäische Industrie müssten gegen eine solche Politik Sturm laufen. 

Wettbewerbsfähigkeit lässt sich nicht herbeiregulieren. Sie wird erreicht, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und dieser Rahmen der Wirtschaft die notwendigen Freiräume lässt, sich im Wettbewerb durchzusetzen. Wettbewerbs-fähigkeit lässt sich auch nicht durch Zielfestlegungen beschließen. Schon die Lissabon-Strategie des Jahres 2000, mit der Europa zum wettbewerbsfähigsten und dynamischen, wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt werden sollte, hat Europa nicht wettbewerbsfähiger gemacht. Der eingesetzte Wettbewerbs-fähigkeitsrat, der dieses Ziel sicherstellen sollte, ist gescheitert. Er existiert zwar noch, führt aber ein Schattendasein, selbst die zuständigen Minister (Habeck) glänzen oft durch Abwesenheit. Auch der Green Deal hat Europa nicht zum Vorreiter bei Klimatechnologien werden lassen. Europa hängt hinter den USA und China hinterher, wie der Draghi-Bericht schonungslos feststellt. Während Europa reguliert, konzentrieren sich unsere Wettbewerber darauf, Geschäfte zu machen. Ist der New Clean Industrial Deal daher ebenso zum Misserfolg verdammt wie die Lissabon Agenda? Nicht notwendigerweise. Die Kommission müsste aber über ihren Regulierungsschatten springen und Vorschläge vorlegen, die einen Rahmen vorgeben, ohne sich in klein, klein zu verlieren. So enthält der Verordnungsvorschlag der Kommission für das Recycling von Fahrzeugen vom Juli 2023 (COM (2023) 451 final) eine Vielzahl planwirtschaftlicher Steuerelemente, zum Beispiel beim Rezyklatanteil. Fast hat man den Eindruck, als ob ein EU-Beamter mittels Komitologie festlegen könnte, wieviel Plastikanteil ein Fahrzeug haben darf. Die neue Kommission könnte diesen Vorschlag daher entweder ganz zurückziehen oder ihn im Sinne einer nachhaltigen Wettbewerbsfähigkeit (einfach, fair und kosteneffizient) im vorzulegenden Rechtsakt über die Kreislaufwirtschaft neu interpretieren.

Fazit: Wettbewerbsfähigkeit lässt sich nicht herbeiregulieren. Die Kommission hat die Möglichkeit, den Politikwechsel einzuleiten, in dem sie aufhört, die Wirtschaft durch möglichst kleinteilige Vorgaben zu regulieren und sich auf das Setzen von Rahmenbedingungen konzentriert. 

  • The German Vote – die Bedeutung der Ratsarbeit zur Erreichung eines Politikwechsels

Ein Kommissionsvorschlag scheitert selten. Die Kompromissfindungsmaschine zwischen Kommission, Rat und Europäischem Parlament führt in aller Regel zu Ergebnissen, auch wenn diese nicht von allen Mitgliedstaaten mitgetragen werden. Als Co-Gesetzgeber kann der Rat mit seinem Abstimmungsverhalten dem gewünschten Politikwechsel Wirkung verleihen. Der Rat stimmt in der Regel den Kommissionsvorschlägen mit einer doppelten Mehrheit zu, die Mehrheit der Mitgliedstaaten (55% = 15 Mitglieder) und die Mehrheit der Bevölkerung (65 %). So geschehen auch bei der CSDDD-Richtlinie, die von der belgischen Rats-präsidentschaft trotz deutschen Widerstands erfolgreich durchgeboxt wurde.

Die Europäische Kommission hat ihren Vorschlag zu CSDDD am 23. Februar 2022 vorgelegt. Dieser Vorschlag wurde dann den Co-Gesetzgebern übermittelt. Grundsätzlich äußert sich das Europäische Parlament zuerst, der Rat verabschiedet dann seine Position auf Basis der vom Parlament verabschiedeten Änderungen. Sind sich die Co-Gesetzgeber einig, wird der Vorschlag verabschiedet, sind sie es nicht, geht er in die nächste Lesung. Der Vertrag sieht drei Lesungen vor, oft werden die Vorschläge aber schon nach einer Lesung im sog. Trilog verabschiedet: Rat, Europäisches Parlament und Kommission suchen nach einem Kompromiss, der, wenn gefunden, dann noch von EP und Rat formal verabschiedet werden muss, um Gesetzeskraft zu erlangen.

In Sachen CSDDD einigten sich im Dezember 2023 Rat und EP (und Kommission – wäre sie nicht einverstanden gewesen, hätte sie ihren Vorschlag zurückziehen können!) auf einen Kompromiss, der dann aber von Deutschland vorläufig blockiert wurde. Im Falle einer Abstimmung im Rat hätte sich Deutschland enthalten, was einer Ablehnung gleichgekommen wäre. Da auch andere Mitgliedstaaten Bedenken angemeldet hatten, wäre die Richtlinie beinahe gescheitert. Es kam aber nicht zur Abstimmung, diese wurde vielmehr verschoben. Die belgische Ratspräsidentschaft schlug vor, den gefundenen Trilog-Kompromiss weiter abzuschwächen (z.B. eingeschränkter Adressatenkreis, Streichung der Risikosektoren). Dies ist ihr gelungen. Zunächst hat das Europäischen Parlament am 24. April 2024 den neuen Kompromiss als Standpunkt verabschiedet, danach hat der Rat am 24. Mai 2024 diesem Standpunkt ebenfalls mit doppelter Mehrheit unter Enthaltung Deutschlands zugestimmt. Somit ist die CSDDD-Richtlinie verabschiedet.

Der Fall zeigt, wie wichtig die Mitarbeit der Mitgliedstaaten im Rat ist. Aber wie arbeitet der Rat eigentlich?

Die Arbeiten des Rats werden vom Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV = die Botschafter der Mitgliedstaaten bei der EU) und einer Vielzahl von Arbeits-gruppen vorbereitet, in denen nationale Fachbeamte die Position des Mitgliedstaates vertreten. Folgende Arbeitsweise hat sich in den Arbeitsgruppen durchgesetzt: die Kommission stellt ihren Vorschlag vor; es erfolgt eine erste Aussprache, in der die Mitgliedstaaten ihre Position zum Vorschlag darlegen; im Anschluss hieran wird jeder Artikel einzeln besprochen, die Mitgliedstaten bringen ihre Änderungsvorschläge ein, die in einem sog. Fußnotendokument zusammengefasst werden. Der Vorsitzende der Arbeitsgruppe führt die unter-schiedlichen Positionen zusammen und legt das Dokument dann dem AStV vor, der wiederum die unterschiedlichen Positionen zusammenführt und versucht, eine doppelte Mehrheit zu erreichen. Gelingt ihm das, erfolgt eine rein formale Zustimmung des Rats. Selten wird ein Vorschlag den Ministern zu einer strittigen Abstimmung vorgelegt, sie können aber gebeten werden, die politische Richtung vorzugeben.

In Deutschland wurde die FDP für die Ablehnung des Trilog-Kompromisses verantwortlich gemacht. Es ist zwar unüblich, einen mühsam ausgehandelten Trilog-Kompromiss in letzter Minute, also bei der formalen Zustimmung, abzulehnen. Aber warum hat sich Deutschland enthalten (müssen)?

Im Koalitionsvertrag hatte die Bundesregierung eine europäische Lieferketten-richtlinie befürwortet: Wir unterstützen ein wirksames EU-Lieferkettengesetz, basierend auf den UN-Leiprinzipien Wirtschaft und Menschenrechte, das kleine und mittlere Unternehmen nicht überfordert. Innerhalb der Bundesregierung war das Bundesarbeitsministerium für den Richtlinienvorschlag zuständig, aber auch Justizministerium und Kanzleramt waren eingebunden. Man hätte daher eigentlich erwartet, dass sich Deutschland in den Beratungen des Rates dafür einsetzt, dass die europäische Regulierung der existierenden deutschen entspricht. Der Trilog-Kompromiss vom Dezember 2023 war aber deutlich strenger als das deutsche Gesetz und selbst die abgeschwächte endgültige Regelung ist es noch. Erst die Betätigung der Notbremse seitens der FDP hat gezeigt, dass der Trilogkompromiss nicht im Einklang mit der deutschen Position stand, wie eine Protokollerklärung Deutschlands vom Dezember 2022 zeigt, in der die Bundesregierung deutlich gemacht hat, dass sie die CSDDD-Richtlinie nur dann unterstützen kann, wenn diese eine Haftungsprivilegierung enthält.Die verabschiedete Richtlinie schließt eine solche Privilegierung sogar aus.

Es passiert immer wieder, dass Deutschland wegen Uneinigkeit innerhalb der Bundesregierung im Rat einen allgemeinen Prüfvorbehalt gegen den Gesetz-gebungsvorschlag einlegt: Deutschland arbeitet im Rat nicht mit, macht keine Änderungsvorschläge, sucht keine Verbündete, sondern wartet ab. Den Ratsvorsitz kümmert ein allgemeiner Prüfvorbehalt wenig, wenn andere Mitgliedstaaten aktiv am Vorschlag arbeiten. Wird eine Mehrheit erzielt, zahlt Deutschland für sein Inaktivität die Zeche. Die Regulierung wird verabschiedet und Deutschland muss sie umsetzen.

Auch der Normenkontrollrat verlangt daher eine strategischere Ausrichtung der deutschen Ratsarbeit: Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Deutschland seiner eigenen Verantwortung in Brüssel bei den Verhandlungen gerecht werden und viel aktiver als bisher auf die Vermeidung unverhältnismäßiger Bürokratie drängen muss. Wenn die Minister Buschmann (zu CSRD) und Habeck (zu CSDDD, CSDR und Entwaldungsverordnung) die europäischen Regulierungen wegen der Bürokratiebelastung nach deren Inkrafttreten wieder abschaffen wollen, dann muss man schon frech fragen, ob Deutschland bei der Diskussion über diese Gesetze im Rat überhaupt anwesend war, ob es eine wie auch immer geartete Europastrategie verfolgt hat oder ob es die Arbeiten nur verschlafen hat. Brüssel wird wieder für etwas verantwortlich gemacht, das Deutschland mitzuverant-worten hat. Die deutschen Minister hätten sich auch gegenüber ihren Kollegen im EP einbringen können, die den Bürokratieaufbau freudig mitgetragen haben.   

Fazit: Mit klaren Vorgaben aus Berlin und einer guten Lobbyarbeit innerhalb des Rates kann Deutschland den gewünschten Politikwechsel mitgestalten. Die Europapolitik bedarf seitens der Bundesregierung aber einer strategischen Ausrichtung im Sinne einer frühzeitigen, klaren Positionierung und sie bedarf zusätzlich der Suche nach Partnern im Rat, die die deutsche Positionen mittragen können. Ohne eine solche Ausrichtung, zahlt Deutschland einen hohen Preis.

Aus Transparenzgründen sollte der Rat das Abstimmungsverhalten der EU-Mitgliedstaaten veröffentlichen. Nur so kann Verantwortung zugeordnet und ein blame shifting oder Europabashing verhindert werden. Wenn ein Land einer EU-Regelung zugestimmt hat, dann darf es nicht mit dem Finger auf Brüssel zeigen, nur weil die Umsetzung national umstritten ist.

  • Das Europäische Parlament hat Macht! Wird es den Politikwechsel verhindern?

Das neue Europäische Parlament ist nach rechts gerückt: Renew (77 Sitze) und Grüne (53 Sitze) haben 42 Sitze verloren, die S&D-Fraktion (136 Sitze) konnten ihre Position mit leichten Verlusten behaupten, die EVP-Fraktion ist stärkste Kraft (188 Sitze) und die beiden Fraktionen rechts der EVP, EKR (78 Sitze) und Patrioten für Europa (84 Sitze), haben deutlich zugenommen. In Frankreich und Deutschland wurden bei der Wahl am 9. Juni 2024 die Regierungen abgestraft, in Italien hingegen bestätigt. Gerade die EVP-Fraktion drängt auf Bürokratieabbau und auf eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, aber wird sie sich in der Gesetzesarbeit auch durchsetzen können?

Im Europäischen Parlament 2019 – 2024 wurden die umstrittenen Regulierungen des Green Deals meist mit den Stimmen von Grünen, S&D, Renew und EVP angenommen. Diese vier Fraktionen hatten 489 von 705 Sitzen. Im neuen Parlament haben sie 454 von 719 Sitzen, eine ausreichende Mehrheit also. Präsidentin von der Leyen wurde am 18. Juli 2024 in geheimer Wahl mit 401 Stimmen (vermutlich aus diesen vier Fraktionen) wiedergewählt. Ist die Wiederwahl der Kommissionspräsidentin ein Indiz dafür, dass sich trotz deutlicher Veränderung der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments an den Mehrheiten künftig nicht viel ändern wird? Vermutlich Nein!

Bei den Anhörungen der Kommissare im November 2024 hat sich die EVP im Streit der Fraktionen um die Zustimmung zu den vorgeschlagenen Vizepräsi-denten Ribeira (S&D) und Fitto (EKR) durchgesetzt. Der Kompromiss von EVP, S&D und Renew sieht vor, dass das Europäische Parlament die VDL-2 Kommission als Ganzes ohne Vorbehalt bestätigt. Die S&D-Fraktion konnte die Ablehnung von Vizepräsidenten Fitto nicht durchsetzen, weil sie Gefahr lief, dass im Gegenzug die EVP-Fraktion die Vizepräsidentenkandidatin Ribeira abgelehnt hätte. Somit hätte die Gefahr bestanden, dass das Parlament die VDL-2 Kommission mit den Stimmen rechts der Mitte (409 der 719 Sitze) bestätigt. Weder S&D noch Renew aber ebenso wenig die EVP-Fraktion hätten einen solchen Rechtsruck akzeptieren können. Sie haben sich daher auf das Platform Cooperation Statement vom 20. November 2024 verständigt, mit dem sie ihre im Juli 2024 begonnene Zusammenarbeit bekräftigen, aber allerdings auch Partner akzeptieren, die zur europäischen Integration, zur Rechtsstaatlichkeit sowie zur Unterstützung der Ukraine stehen, mit anderen Worten die rechtskonservative EKR-Fraktion. Die fallweise Zusammenarbeit zwischen EVP und EKR Fraktionen erfolgte bereits in der Abstimmung des Parlaments am 14. November 2024 zur Verschiebung der Umsetzung der Entwaldungs-Verordnung. Das Parlament hat nicht nur die Verschiebung bestätigt, sondern auch inhaltliche Änderungs-vorschläge angenommen.

Die Bestätigung der VDL-2 Kommission zeigt, dass künftig die Mehrheiten im Parlament eher rechts als links der Mitte zustande kommen werden. Zwar verfügen EVP, EKR und Renew über keine Mehrheit (338 der 719 Sitze), dennoch hat der Automatismus der Kompromissfindung zwischen EVP, S&D, Grüne und Renew aus der letzten Legislaturperiode mit dieser Bestätigung ein Ende gefunden.

Um ihre Forderung nach Bürokratieabbau und Stärkung der Wettbe-werbsfähigkeit durchzusetzen, bedarf es seitens der EVP einer besonderen Wachsamkeit. Da die Parteien links der Mitte den umstrittenen Vorschlägen des Green Deals in der letzten Legislativperiode zugestimmt haben, werden sie jetzt nicht geneigt sein, Änderungsinitiativen der Kommission, die sich aus den Politischen Leitlinien ergeben, zu unterstützen. Auch muss die EVP künftige Initiativberichte des EP kritisch hinterfragen und eventuell verhindern, da die Kommissionspräsidentin dem Parlament in den Leitlinien eine stärkere Rolle bei der Gestaltung von Rechtsvorschriften eingeräumt hat und in der Vergangenheit zu jedem legislativem Initiativbericht des EP einen Legislativvorschlag vorgelegt hat. Gerade weil die EVP bei politisch umstrittenen Themen aber wesentlich heterogener abstimmt als zum Beispiel die S&D oder die Grünen, ist sie künftig bei der Gestaltung der Europapolitik besonders gefordert, wie das Beispiel CSDDD-Richtlinie deutlich macht: bei der Abstimmung des EP im April 2024 haben 55 der 176 EVP-MdEPs der Richtlinie zugestimmt trotz des vehementen Widerstands der CDU/CSU-Gruppe im EP.

Fazit: Im Europäischen Parlament gibt es keine Koalitionen, also auch keinen Koalitionszwang. Zwar werden auch künftig EVP, S&D und Renew zusammen-arbeiten, die Bestätigung der VDL-2 Kommission macht aber die Verschiebung der Machtverhältnisse deutlich. Je nach Dossier könnte daher die rechtskon-servative EKR-Fraktion künftig Zünglein an der Waage sein.  

  • Komitologie – den Regulierungswildwuchs eindämmen

Die Gesetzesarbeit ist mit der Verabschiedung der mehr als 600 Verordnungs- und Richtlinienvorschläge unter der VDL-1 Kommission nicht beendet. Viele Details und technische Bestimmungen können im Basisrechtsakt nicht festgelegt werden und müssen zu einem späteren Zeitpunkt ergänzt werden. Hierfür sieht der Vertrag zwei Verfahren vor, mit denen der Kommission die Befugnis erteilt wird, die Regulierung zu ergänzen oder zu implementieren, delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte (das sog. Komitologieverfahren).

Bei delegierten Rechtsakte erhält die Kommission die Befugnis legislativ tätig zu werden. Sie kann bestimmte, nicht wesentliche Vorschriften des Basisrechtsakts ergänzen oder ändern. Die Befugnisübertragung muss allerdings im Basisrechts-akt klar festgelegt werden. Da die Kommission bei delegierten Rechtsakten legislativ tätig wird, haben EP und Rat sowohl ein Widerspruchsrecht, sie können die Befugnisübertragung grundsätzlich widerrufen, als auch ein Einspruchsrecht, sie können den von der Kommission vorgelegten delegierten Rechtsakt innerhalb einer festgelegt Frist (zwei Monate) ablehnen. Bei Durchführungsrechtsakten ist die Befugnisübertragung exekutiver Art, der Basisrechtsakt legt die Kriterien für das Tätigwerden der Kommission fest (zum Beispiel eine einheitliche Umsetzung). Die Kommission legt ihren Vorschlag für den Durchführungs-rechtsakt einem Ausschuss der Mitgliedstaaten vor, der diesen dann verab-schiedet, ablehnt oder Änderungen vorschlägt. Das Verfahren zur Verab-schiedung von Durchführungsrechtsakten wurde in einer speziellen Verordnung festgelegt. 

Die Zahlen sprechen für sich: delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechts-akte sind in der ersten Amtszeit der VDL-1 Kommission sprunghaft angestiegen: mehr als 800 delegierte Rechtsakte und über 4900 Durchführungsrechtsakte. EP und Rat haben von ihrem Kontrollrecht bei delegierten Rechtsakten wenig Gebrauch gemacht: laut dem EP-Register wurden insgesamt neun delegierte Rechtsakte abgelehnt. Auch die über 4900 verabschiedeten Durchführungs-rechtsakte wurden von den Mitgliedstaaten bestätigt. Wenn der Basisrechtsakt einmal in Kraft ist, hat die Kommission scheinbar freie Hand, weitere kleinteilige und bürokratieaufbauende Regelungen im Komitologieverfahren festzulegen.

Die Kommissionspräsidentin hat in den Politischen Leitlinien festgelegt, den gesamten EU-Besitzstand einem Stresstest zu unterziehen und Vorschläge zur Vereinfachung, Konsolidierung und Kodifizierung der Rechtsvorschriften vorzulegen, um Überschneidungen und Widersprüchlichkeiten unter Aufrecht-erhaltung hoher Standards zu beseitigen. Die neue Kommission muss also nur die Politischen Leitlinien anwenden: wenn sie damit beginnen würde, alle delegierten und Durchführungs- Rechtsakte der ersten Amtszeit dahingehend zu überprüfen, ob sie einfach, fair und kosteneffizient sind, und wenn sie im Nachgang zu dieser Überprüfung Änderungen vorschlagen würde, mit denen mehr Vertrauen aufgebaut, schnellere Genehmigungen, bessere Durchsetzung, weniger Verwaltungsaufwand und weniger Berichterstattung erreicht werden sowie Bürokratie abgebaut werden würde, wäre schon viel erreicht.

Fazit: Dem Wildwuchs an delegierten Rechtsakten und Durchführungsrechts-akten muss Einhalt geboten werden. Die Kommission muss nicht nur den gesamten Besitzstand der Sekundärregulierung im Sinne der Politischen Leitlinien überprüfen, sie muss auch bei neuen Rechtsakten Zurückhaltung üben (Regulierungspause). EP und Rat wie auch die Mitgliedstaaten allein, müssen strenger als bisher die Befugnisübertragung an die Kommission kontrollieren und sollten immer dann einschreiten, wenn die Vorschläge der Kommission den Zielen der Politischen Leitlinien widersprechen. 

  • Handelspolitik – Geopolitik und regelbasierter Ansatz

Die gemeinsame Handelspolitik der EU steht vor einem geopolitischem Umbruch. Das Regelwerk der WTO bietet keine Garantie für einen regelbasierten Handel mehr, vielmehr rücken macht- und sicherheitspolitischen Interessen in den Vordergrund. Man denke nur an die Exportrestriktionen Chinas bei seltenen Erden oder an die Stahlzölle der USA. Nur dreißig Jahre nach Gründung der WTO sind Protektionismus und Unilateralismus wieder hoffähig geworden! Die Europäische Union verteidigt zwar den Multilateralismus, aber auch sie konzentriert sich mittlerweile auf bilaterale Abkommen und auf unilaterale Handelsmaßnahmen. Der Europäische Rat fordert in seiner Strategischen Agenda 2024 – 2029, eine ehrgeizige, robuste, offene und nachhaltige Handelspolitik, mit der schädliche Abhängigkeiten reduziert und diversifizierte und sichere strategische Lieferketten erreicht werden sollen.  Auch der Bundeskanzler sieht im Freihandel eine Grundlage unseres Wohlstands und fordert mehr bilaterale EU-Abkommen. Aber ist die EU in der Lage, ein solch diversifiziertes handelspolitisches Regelwerk zur Verringerung von gefährlichen Abhängigkeiten mit einer Vielzahl von Partnerländern zu erarbeiten?

Europa steht sich im Wege: am europäischen Wesen muss die Welt genesen!

TTIP, die transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft wurde mit fraglichen Argumenten (Chlorhühnchen, Investitionsschiedsgerichtsbarkeit) zu Fall gebracht. Nach der ersten Trumpschen Präsidentschaft hätten sich viele Europäer eine vertragliche Festlegung der handelspolitischen Beziehungen zu den USA gewünscht. Auch Präsident Biden hat die Trumpsche Handelspolitik (Stahlzölle) nur ausgesetzt, sie aber nicht rückgängig gemacht. Als Bedingung für die Aufhebung der Zölle wollte die Biden-Administration von der CBAM-Verordnung der EU ausgenommen werden. Der Showdown erfolgt mit der erneuten Präsidentschaft von Donald Trump und seiner Ankündigung, die Zölle zum Teil drastisch zu erhöhen. Trotz aller Bekenntnisse zur transatlantischen Partnerschaft, ist eine handelspolitische Vereinbarung oder gar ein Freihandelsabkommen mit den USA in weite Ferne gerückt.

Das Abkommen mit Kanada ist noch immer nicht von allen Mitgliedstaaten der EU ratifiziert, allerdings werden die reinen EU-Regeln des Abkommens (mehr als 90 Prozent) seit 2017 vorläufig angewandt. Sollte zum Beispiel Frankreich aus agrarprotektionistischen Gründen die Ratifizierung verweigern (trotz EU-Agrar-handelsüberschuss mit Kanada), müsste auch die vorläufige Anwendung rück-gängig gemacht werden.

Mit dem Freihandelsabkommen mit Japan ist die EU dazu übergegangen, nur solche Vertragsgegenstände zu regeln, für die die EU allein zuständig ist oder die Abkommen aufzuteilen in EU only und EU/Mitgliedstaaten. Das EU only Abkom-men tritt nach der Zustimmung von Rat und Parlament in Kraft, eine Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten entfällt. Auch die Abkommen mit Chile, Kenia, Neusee-land, Singapur und Vietnam fallen in diese Kategorie. Diese Abkommen tragen zur Diversifizierungen der EU-Handelsbeziehungen bei, führen nicht zu einem Zuständigkeitsstreit mit den Mitgliedstaaten, verhindern die Erpressbarkeit der EU (Beispiel die Wallonie in Sachen CETA) und können im Rat auch gegen die Stimmen einzelner Länder verabschiedet werden, solange die notwendige Mehr-heit erreicht wird.  

Die Verhandlungen mit einer Vielzahl wichtiger Handelspartner sind aber entweder gescheitert (Australien) oder sie stecken fest, allen voran das Mercosur Abkommen, aber auch die Abkommen mit Indonesien, Philippinen, Malaysia, Thailand und Indien. In Europa kommt die Kritik an diesen Abkommen aus dem Agrar- und Umweltlager: kein ausreichender Schutz der heimischen Landwirte oder zu geringer Schutz im Bereich Umwelt und Nachhaltigkeit. Die Partner-länder kritisieren insbesondere die Regulierungstiefe der Nachhaltigkeitskapitel und die unilateralen handelspolitischen Regulierungen der EU, wie die CBAM- oder die Entwaldungsverordnung. Sie sehen einen Widerspruch zwischen den von ihnen gemachten Zugeständnissen und den unilateralen EU-Regulierungen.  

So sieht die CBAM Verordnung zum Beispiel vor, dass die EU das Vorliegen eines nationalen Emissionshandels oder eines CO2-Preises im Exportland bei der Festlegung der CBAM-Abgabe beim Import berücksichtigt. Sollte der nationale CO2-Preis aber geringer sein als der EU CO2-Preis, dann muss der Importeur dennoch den Unterschied zum höheren EU CO2-Preis bezahlen. Diese Regelung macht den protektionistischen Charakter der CBAM-Regulierung deutlich: es geht nicht länger um Klimaschutz, die EU legt die CBAM-Abgabe fest, ohne überprüft zu haben, ob das Exportland mit dem nationalen CO2-Preis seine Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaabkommen erfüllt, es geht vielmehr um den Schutz der heimischen Industrie vor günstigeren Importen.

Die CBAM- und die Entwaldungsverordnung legen unilateral und extraterritorial die Bedingungen fest, die Exportländer einhalten müssen, wenn sie in die EU exportieren wollen. Sie sind Ausdruck des neuen geopolitischen Machtver-ständnisses der Europäischen Union. Entgegen ihres Credo zum Multilateralis-mus verhandelt die EU weder multi- noch bilateral, sondern sie oktroyiert: aufgrund ihrer Größe und ihres Binnenmarktes ist sie in der Lage, solche Maßnahmen auch durchzusetzen. Die Kritik der Exportländer ist verständlich und gerechtfertigt und es nimmt nicht wunder, dass sie es ablehnen, Handelszu-geständnisse in Freihandelsabkommen zu machen, wenn diese Zugeständnisse durch unilaterale EU-Maßnahmen zunichte gemacht werden. Die Philippinen und Malaysia sehen zum Beispiel in der Entwaldungsverordnung ein Hindernis für den Abschluss eines Freihandelsabkommens. Erschwerend kommt bei diesen Verordnungen noch die erhebliche bürokratische Belastung der europäischen Importeure hinzu, die nur dann importieren können, wenn sie den konkreten CO2– oder Nichtentwaldungs- Nachweis erbringen.  

Fazit: Um schädliche Abhängigkeiten zu reduzieren und um diversifizierte und sichere Lieferketten zu etablieren, hat die EU ein Interesse daran, wichtige Schwellenländer (Indien, Mercosur, ASEAN Staaten) durch einen regelbasierten Handel an sich zu binden. Die Schwellenländer sind sich ihrer wirtschaftlichen Bedeutung bewusst und verhandeln mit der EU auf Augenhöhe. Will die EU ihre Ziele erreichen, muss sie Zugeständnisse machen.  

Schlussbemerkung – ein vertrauensbasierter Politikansatz

Ein Politikwechsel zu mehr Wettbewerbsfähigkeit verlangt von den europäischen Institutionen mehr Vertrauen gegenüber den Bürgern und den Unternehmen und eine Rückbesinnung auf das Setzen von Rahmenbedingungen. Die Wirtschaft ist Partner und Garant von Wachstum und Wohlstand, sie ist kein Gegner, der durch möglichst kleinteilige Vorgaben reguliert werden muss. Wenn der Staat Bürgern und Unternehmen vertraut, dann schreibt er ihnen nicht vor, welche Duschköpfe sie benutzen müssen, um Wasser zu sparen, er erreicht dies mit der Festsetzung des Wasserpreises. Das Übrige regelt der Markt. Dasselbe gilt auch für die CO2-Reduktion, Wirtschaftswissenschaftler fordern schon lange die Reduktion hauptsächlich über den Preis und nicht über Detailregelungen zu erreichen. Auch muss der Staat den Plastikanteil im Auto zur Erreichung der Kreislaufwirtschaft nicht konkret festlegen, es genügt den Rahmen vorzugeben und der Wirtschaft den Freiraum zu lassen, die festgelegten Ziele zu erreichen.  Ferner muss der Gesetzgeber wieder lernen, Kontrollaufgaben selbst zu übernehmen und sie nicht durch immer mehr Berichtspflichten auf die Unternehmer abzuwälzen.

Der Europäische Rat hat im November 2024 mit der Erklärung von Budapest die Einleitung eines revolutionären Vereinfachungsprozesses gefordert, mit dem der Verwaltungs- Regulierungs- und Meldeaufwand für Unternehmen drastisch verringert werden soll und sich gleichzeitig dafür ausgesprochen, eine befähigende, auf Vertrauen basierende Denkweise einzunehmen, die es Unternehmen ermöglicht, sich ohne übermäßige Regulierung zu entfalten.  Wenn die VDL-2 Kommission die Politischen Leitlinien in diesem Sinne anwendet und ihre Vorschläge dann von Rat und Europäischem Parlament umgesetzt werden, dann leistet Europa einen Beitrag zur Erreichung einer nachhaltigen Wettbewerbsfähigkeit.


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