Die griechische Eurotragödie hat die Diskussion um die Vorteile intertemporaler Ersparnisbildung und die Anpassungskanäle von asymmetrischen Schocks in (mehr oder weniger) optimalen Währungsräumen neu entfacht. Die Vorteile der Währungsunion in Form geringer Kosten für innereuropäische Transaktionen und makroökonomischer Stabilität (McKinnon 1963) sind hinter die Diskussion um die Anpassungskanäle asymmetrischer Schocks (Mundell 1961) zurückgetreten. Während die einen aus Angst vor der Transferunion länderspezifische Geldpolitiken (sprich Griechenlands Austritt aus der Währungsunion) fordern, drängen EU und IWF die Hellenen zur Lohnflexibilisierung (sprich Reallohnsenkungen). Um in Zukunft aus Leistungsbilanzungleichgewichten resultierende Krisen zu verhindern, fordert die französische Wirtschaftsministerin Lagarde den deutschen Konsum durch Lohnerhöhungen anzuheizen. Wie der Blick auf die Auswirkungen der deutschen Wiedervereinigung auf die intra-europäischen Leistungsbilanzen zeigt, dürfte die erhoffte Hinwendung Deutschlands zum Konsum nicht ohne schwerwiegende Folgen für die europäischen Partner bleiben.
Die deutsche Wiedervereinigung ist ein Lehrbuchbeispiel für die Vorteile der intertemporalen Ersparnisbildung in heterogenen Währungsräumen. Westdeutschland tendierte traditionell zu Spar- und Leistungsbilanzüberschüssen, die bei der Wiedervereinigung für den Aufbau Ost zur Verfügung standen. Die deutsche Leistungsbilanz drehte sich abrupt ins Defizit (Abb. 1). Durch die Umlenkung der Kapitalexporte von den europäischen Partnerländern in den neuen Osten des Landes wurde der Wiedervereinigungsboom finanziert.
Aus supranationaler Sicht übertrug sich die deutsche Wiedervereinigung als asymmetrischer Schock über die Kapitalmärkte auf die europäischen Partnerländer. Das Ausbleiben der deutschen Kapitalzuflüsse bewirkte einen Zinsanstieg in den Nachbarstaaten, der das Wachstum ausbremste. Die Staaten, die nicht Willens schienen im Rahmen des Europäischen Währungssystems dem geldpolitischen Kurs Deutschlands zu folgen, wurden zudem Opfer von spekulativen Attacken und Währungskrisen.
Abbildung 1 – Leistungsbilanz in Mrd. Euros (1980 – 2000)
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Quelle: Eurostat und Statistische Ämter der Länder und des Bundes.
Die Krise des Europäischen Währungssystems wurde wie im Modell von Mundell (1961) durch die Anpassung der Wechselkurse gelöst. Die Schlussfolgerung Mundells (1961), dass die Abwertung der Währung des Rezessionslandes auch im Boomland willkommen ist, weil sie dort den Inflationsdruck bremst, triff aber nicht zu. Denn die starke reale Aufwertung der DM, die aus den nominalen Abwertungen der Krisenwährungen, der Aufwertung der DM gegenüber Drittwährungen und der realen Aufwertung der DM aufgrund des Preisanstiegs im Wiedervereinigungsboom resultierte, setzte auch dem deutschen Boom ein Ende. Es scheint als wurden im Ergebnis die Kosten der Wiedervereinigung über die ganze Europäische Union verteilt. Denn nicht nur in Deutschland, sondern auch in fast allen anderen europäischen Ländern stieg die Staatsverschuldung sprunghaft an (Abb. 2).
Abb. 2 – Bruttoschuldenstand in Prozent des BIP
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Quelle: IWF.
Innerhalb von Deutschland äußerte sich die Wiedervereinigung als typischer asymmetrischer Schock nach den Annahmen von Mundell (1961), da sich die Nachfrage plötzlich von Ostgütern zu Westgütern verschob. Als Anpassungskanal wurde weder der Wechselkurs (Umtauschkurs 1:1 bzw. 1:2) noch produktivitätsorientierte Lohnanpassungen gewählt. Stattdessen kam es zu einer Mischlösung von Migration der Arbeit (bzw. Pendelbewegungen) und hohen Transfers von West nach Ost. Auch wenn letztere gemessen an einer innerdeutschen Leistungsbilanz kontinuierlich abnehmen, bereitet deren Persistenz westdeutschen Bürgern Kopfzerbrechen.
Die Anpassung an den deutsch-deutschen Wiedervereinigungsschock auf der Basis von Transfers und einem hohen Lohnniveau in Ostdeutschland ist die Ursache für den Aufbau der Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone, die der jüngsten Krise vorangegangen sind. Der starke Anstieg der Staatsverschuldung und der Arbeitslosigkeit in Deutschland im Verlauf des Aufbaus Ost war ein Schock hinsichtlich der Verhandlungsmacht der Gewerkschaften. Die angestrebte Konsolidierung der Staatsverschuldung forcierte – nicht zuletzt aufgrund der Restriktionen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes – die Zurückhaltung bei öffentlichen Lohnabschlüssen. Im privaten Sektor erhöhte der deutliche Anstieg der gesamtdeutschen Arbeitslosigkeit die Verhandlungsmacht der Industrie.
Abb. 3 – Leistungsbilanzen in der EWU
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Quelle: IWF.
Die Divergenz der Leistungsbilanzen innerhalb der Europäischen (Währungs-)Union (Abb. 3) wurde durch die Einführung des Euro begünstigt, da nun einer einheitlichen Geldpolitik in zusammenwachsenden Kapitalmärkten unterschiedliche Lohnpolitiken entgegenstanden. Während in Deutschland aufgrund der vereinigungsbedingten Störungen im Arbeitsmarkt eine restriktive Lohnpolitik forciert wurde, blieben an der Peripherie – gespeist von deutschen Ersparnissen – die Lohnerhöhungen wie in der Vergangenheit hoch. Die nicht mehr existierende DM wertete gegenüber den Peripheriewährungen real graduell ab und die Leistungsbilanzensalden begannen zu divergieren.
Im Gegensatz zu dem späteren Argument von Mundell (1973a, 1973b), dass auch in heterogenen Währungsräumen integrierte Kapitalmärkte asymmetrische Schocks absorbieren, haben diese die Divergenz der Leistungsbilanzsalden erst ermöglicht. Denn der Euro führte nicht – wie von Mundell (1973a, 1973b) angenommen – dazu, dass Deutsche mehr griechische Vermögenswerte und Griechen mehr deutsche Vermögenswerte hielten. Stattdessen flossen die deutschen Ersparnisse einseitig nach Griechenland.
Offenbar wurde – im Gegensatz zu den Bekundungen des europäischen Vertragswerks – die Währungsunion als Haftungsgemeinschaft interpretiert. Da in vergangenen Dekaden Zahlungsbilanzkrisen immer wieder durch öffentliche Kreditvergabe bzw. durch Zinssenkungen in den Kreditgeberländern monetarisiert wurden, konnten die griechische Regierung und die deutschen Finanzinstitute im Falle einer Krise auf supranationale Hilfe hoffen. Im Gegensatz zu den Annahmen von Mundell (1961) war dieser Schock nicht zufällig, sondern durch die kontinuierliche Divergenz der Leistungs- und Kapitalbilanzsalden vorprogrammiert. Zwar bleibt zunächst unklar, wer die Kosten der Eurokrise trägt. Doch dürften überproportional die deutschen Sparer und Steuerzahler beteiligt werden, wenn die europaweit angestiegene Staatsverschuldung über Steuern oder Inflation abgetragen wird. Die intertemporale Verteilung wird dann in eine transnationale Umverteilung überführt.
Fazit: Die Zusammenhänge asymmetrischer Schocks in einheitlichen Währungsräumen sind komplex und gehen weit über Mundells (1961) Modellwelt hinaus. Insbesondere auch deshalb, weil in Haftungsgemeinschaften die Schockabsorption über Transfers wahrscheinlich ist. Sowohl die deutsche Wiedervereinigung als auch die von Griechenland ausgehende Eurokrise hat bzw. wird die gesamteuropäische Verschuldung steigen lassen, was eine Entschuldung über Inflation wahrscheinlicher macht. Intertemporales Sparen lohnt nicht, wenn im Verlauf von Krisen Kreditausfälle im Ausland durch einen Anstieg der Staatsverschuldung finanziert werden. Aus dieser Sicht ist der Vorschlag der französischen Wirtschaftsministerin Lagarde im Sinne der deutschen Sparer und Steuerzahler, da er mit dem deutschen Leistungsbilanzüberschuss deren Risiken reduziert. Bleiben aber die deutschen Konsumenten trotz steigender Löhne ihrer Sparmoral treu, dann müsste ein staatliches Investitionsprogramm nach dem Muster der Wiedervereinigung Konsum und Investition ins Inland lenken. Die Grenzleistungsfähigkeit dieser Investitionen dürfte jedoch unter denen privater liegen und über die Zeit hinweg abnehmen. Zudem dürften die Rückwirkungen auf Europa, wie sie während der deutschen Wiedervereinigung zu beobachten waren, nicht im Sinne der französischen Ministerin sein.
Literatur
McKinnon, Ronald 1963: Optimum Currency Areas, American Economic Review 53, 717-725.
Mundell, Robert 1961: A Theory of Optimum Currency Areas, American Economic Review 51, 657-665.
Mundell, Robert 1973a: A Plan for a European Currency, in: Johnson, Harry / Swoboda, Alexander (eds.): The Economics of Common Currencies, Allen and Unwin: London, 143-172.
Mundell, Robert 1973b: Uncommon Arguments for Common Currencies, in: Johnson, Harry / Swoboda, Alexander (eds.): The Economics of Common Currencies, Allen and Unwin: London, 114-132.
Hinweis: Holger Zemanek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftspolitik der Universität Leipzig.
Fragen, nichts als Fragen:
a) Wieso soll es eine Eurotragödie sein, wenn griechische Regierungen über Jahre hinweg über ihre Verhältnisse und die ihres Landes leben? Klingt eher nach (griechischem) Regierungsalltag.
b) Welchen Kausalzusammenhang soll es für eine europäische Finanzierung der deutschen Wiedervereinigung geben? Dass die Staatsverschuldung in ganz Europa nach der Wiedervereinigung ansteigt, wäre allein ähnlich plausibel wie der Zusammenhang zwischen Storchenflug und Babyboom. Habe ich etwas übersehen?
c) Welche konkreten Ansatzpunkte haben Sie für „spekulative Attacken“, denen Staaten zum Opfer fielen? Ich dachte, die Märkte würden anzeigen, dass für eine unsolide, nicht aufrecht zu erhaltende Wirtschafts- und Finanzpolitik Aufschläge zu zahlen sind. Naive neoliberale Perspektive?
d) Warum empfehlen Sie den Regierungen keine wirtschafts- und ordnungspolitische Kehrtwende, zumal diese mir in Ihrem Beitrag angesichts vieler Aggregate zu wenig im Rampenlicht stehen? Es ist kein Ausdruck konsequenter Ordnungspolitik, staatlichen Investitionsprogrammen das Wort zu reden, wenn Konsumenten ihrer lobenswerten „Sparmoral“ treu bleiben. Das gilt umso mehr angesichts der Ressourcenverschleuderung durch gigantische Konjunkturprogramme in Japan und in den USA.
Lieber Herr Prollius,
nach dem asymmetrischen Schock der Deutschen Wiedervereinigung ist wie Abb. 2 zeigt die Staatsverschuldung in ganz Europa sprunghaft angestiegen. Auslöser war aus unserer Sicht die Umkehr der deutschen Kapitalströme, die Rezessionen in den europäischen Partnerländern nach sich gezogen hat.
Die zweite Generation der Währungskrisenmodelle modelliert Zielkonflikte zwischen Wechselkursstabilität und Beschäftigung im Europäischen Währungssystem. Von den Ländern, die spekulativ angegriffen wurden, wurde angenommen, dass sie die Wechselkursziele früher oder später der Beschäftigung unterordnen würden (was für England der Fall war). George Soros hat angeblich durch die Spekulationen ein Vermögen gemacht.
Sie haben recht, dass die Rückkehr zu Geldwertstabilität, soliden Staatsfinanzen und Haftung der Königsweg zu einer weltwirtschaftlichen Stabilisierung ist. Allerdings besteht ein spieltheoretisches Dilemma. Wenn Deutschland alleine diesen Prinzipien folgt, dann könnten bald wieder deutsche Ersparnisse im Ausland verloren gehen bzw. der deutsche Steuerzahler für Kreditausfälle haften.