Die aktuelle EU-Schuldenkrise und ihre vorläufige (Schein)Lösung durch den Rettungsschirm hat neben den offenkundigen Komponenten des Staatsversagens – vor allem dem Versagen der Disziplinierungsinstrumente der EU – auch eine Dimension des Marktversagens. Hätten die Märkte das Kreditausfallrisiko bestimmter Staaten realistischer eingeschätzt, wäre es nicht zu einer so weitgehenden Konvergenz der Zinssätze gekommen. Genau diese Konvergenz wurde zwar durch die Schaffung der EWU angestrebt. Sie wurde aber auf dem nicht beabsichtigten Weg der faktischen Ausschaltung der „No bailout“-Klausel des Maastrichter Vertrags realisiert. Dies hatte verheerende Folgen, wie die akute EU-Schuldenkrise zeigt.
Das aktuelle Auseinanderdriften der Zinsen auf Staatsanleihen in der Eurozone belegt, dass die Zinsen auf deutsche Anleihen lange zu hoch und diejenigen auf PIGS-Anleihen zu niedrig waren. Man vertraute auf die von der Politik der Öffentlichkeit glaubwürdig vermittelte Fiktion, man dürfe und würde kein Mitgliedsland der Eurozone fallen lassen. Deutschland musste als potenzieller Retter höhere Zinsen auf seine Staatsschuld bezahlen, da die Märkte die aus potenziellen Rettungsaktionen für ein vor der Insolvenz stehendes Land (und aus der Rettung anderer schwächerer Retterstaaten) entstehenden Zusatzbelastungen zu Recht mitdachten. Länder wie Portugal und Griechenland hingegen profitierten von zu niedrigen Zinsen, die dort zu exzessivem Konsum, stark steigenden Löhnen, sinkender Wettbewerbsfähigkeit, steigenden Handelsbilanzdefiziten und letztlich zu hoher privater und öffentlicher Verschuldung führten. Die Folgen sind bekannt.
Stärker ausdifferenzierte Zinsen hätten Anreize für die Staaten entfaltet, sich auch hinsichtlich ihrer Haushaltspolitik um eine optimale Risiko-Chancen-Position zu bemühen. Dies bedeutet nicht, dass alle Staaten vergleichbar niedrige Verschuldungsquoten hätten anpeilen müssen. Riskantere Strategien wie das Setzen auf eine schuldenfinanzierte Binnennachfrage hätten aber eben auch ihre Risikoprämie verdienen müssen. Vor allen Dingen hätten sie Geldgeber finden müssen, die derartige Strategien unabhängig von der Existenz zwischenstaatlicher Rettungsmechanismen als vertrauenswürdig erachten. Aus der Perspektive von Regierungen, die solche Strategien verfolgen, hätte sich der Zeithorizont erheblich verkürzt. Dies wäre wegen der für die unter ständigem Machterhaltungsdruck stehende Politik typischen Myopia besonders wertvoll zur Eindämmung einer exzessiven Schuldenpolitik gewesen.
Eine wesentliche Rolle bei der Bildung einer Marktmeinung spielen die Rating-Agenturen. Sie haben schwächere Staaten der Eurozone auch deshalb lange mit ausgezeichneten Ratingnoten versehen, weil diese einer gedachten Solidargemeinschaft angehören. Dies zeigt beispielsweise die Historie der Moody’s Ratings für Portugal, Irland, Griechenland und Spanien (die so genannten PIGS). Obwohl sich schon seit längerem abzeichnete, dass weder Portugal noch Griechenland in der Lage waren, ihren heimischen Kapitalstock durch inländische Ersparnis konstant zu halten, stufte Moody’s Portugal nach fast vierzehn Jahren Aa2 erst am 5. Mai 2010 auf Aa2- und am 13. Juli 2010 erneut auf A1 herab. Griechenlands Rating stand siebeneinhalb Jahre auf A1, bis es schrittweise am 29. Oktober 2009 auf A1-, am 22. Dezember 2009 auf A2, am 22. April 2010 auf A3 und am 14. Juni auf schließlich nur noch Ba1 abgesenkt wurde. Angesichts des graduellen Abrutschens der Volkwirtschaften bis in die Nähe der staatlichen Insolvenz ist dieses Bewertungsmuster weder sachgerecht noch verantwortlich. Nicht viel besser erscheint die Verfahrensweise in den Fällen Irland und Spanien, deren Probleme im Platzen einer Immobilienkrise zum Vorschein traten, sich aber bekanntlich ebenfalls schrittweise aufbauten. Moody’s stufte Irland erst am 17. April 2009 nach mehr als zwölf Jahren Aaa auf Aaa-, am 2. Juli 2010 auf Aa1 und am 19. Juli 2010 auf Aa2 herab. Das Rating Spaniens wurde, wohl auch mit Blick auf die eigentlich solide Haushaltsführung bis zum Ausbruch der Finanzkrise nach achteinhalb Jahren Aaa erst am 30. Juni 2010 auf Aaa- herabgesetzt.
Fatal wirkt sich in diesem Zusammenhang aus, dass von den Rating-Agenturen wahlweise die Fiskalpolitik oder die Geldpolitik in Geiselhaft für ins positive verzerrte Ratings genommen werden. So heißt es im Bewertungsschema von Rating-Agenturen in Bezug auf die Fiskalpolitik typischerweise, dass mehrere EU-Länder von einer Abnahme ihrer Schuldenlast durch die Annäherung ihrer Zinsen an die deutschen Sätze im Zuge ihres Beitritts zum Euroraum Ende der 1990er Jahre profitiert hätten. In Bezug auf die Geldpolitik notieren Rating-Agenturen häufig als Bonuspunkt (!) im Länderrating, dass das Risiko, dass eine Zentralbank Regierungen aus ihrem Wirkungsbereich in den Zahlungsausfall zwingt, in der Praxis vernachlässigbar ist. Faktoren, der durch die Förderung von Zockerei an Finanz- und Immobilienmärkten einige Länder der Insolvenz näher brachte, nämlich eine viel zu lockere Geldpolitik und ein viel zu niedriges Zinsniveau, geht regelmäßig als Positivum in das Rating von Volksirtschaften ein! Dies ist ein unhaltbarer Zustand.
Dabei ist es im Grundsatz richtig, das Konstrukt der gedachten Solidargemeinschaft in der Rating-Gesamtnote zu berücksichtigen, da die Adressaten des Ratings, die Investoren, das Ausfallrisiko als Aggregat interessiert. Zum Beispiel betrachten Rating-Agenturen im Rahmen ihrer externen Liquiditätsrisikoanalyse – Hat die Regierung Zugang zu ergiebigen externen Finanzierungsquellen? – auch externe Unterstützung aus dem öffentlichen Sektor. Und im Fall der Eurozone hat es sich bisher auch als richtig erwiesen, von einer solchen Solidargemeinschaft auszugehen. Dennoch sprechen eine Reihe gewichtiger Gründen dafür, die Rating-Agenturen dazu zu verpflichten, neben der aggregierten Ratingnote auch ein sogenanntes Stand-alone-Rating der Staaten zu veröffentlichen, bei dem die Bonität unter Ausschluss möglicher Hilfen Dritter beurteilt wird.
Stand-alone-Ratings wurden von den Rating-Agenturen als so genannte „Unsolicitated Ratings“ für die deutschen Landesbanken im Vorfeld der Aufhebung der Gewährträgerhaftung 2005 herausgegeben. Dahinter standen damals geschäftspolitische Ziele der Rating-Agenturen, die sich vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklung als sehr zweifelhaft erwiesen. Die Landesbanken wurden auf diesem Wege darauf eingestellt, nach dem endgültigen Wegfall der Gewährträgerhaftung neue Geschäftsmodelle verfolgen zu müssen, um ihre Kapitalkosten verdienen zu können.
Die überzogene Betonung der Ertrags- gegenüber der Sicherheitskomponente, die die Rating-Agenturen bei ihren Rating-Einschätzungen an den Tag legten, drängten die Landesbanken angeblich in vermeintlich profitable, vor allem aber sehr riskante Geschäfte, aus denen ihnen dann in der Finanzkrise gewaltige Verluste erwuchsen. Aber verhält es sich nicht genau umgekehrt? Um das Vertrauen der Kapitalanleger zurück zu gewinnen und zukünftig niedrigere Zinsen auf ihre Staatsschuld zu bezahlen, sind die Landesbanken wie übrigens auch Volkswirtschaften eigentlich gezwungen, geringere Risiken in ihrem Haushaltsgebaren einzugehen. Genau hierin liegt ja der Vorteil des Wegfalls der Gewährträgerhaftung. Da der Markt bei der Bonitätsbewertung von Bankinstituten Einstandspflichten der Staaten aber unabhängig davon, ob diese rechtsformal geregelt sind oder faktisch existieren (“too big to fail“), einpreist, ist ein striktes Festhalten an einem Stand-alone-Rating umso wichtiger. Liest man die Prospekte der Rating-Agenturen, so wird die Eigenschaft des „Too big to fail“ von Ratingagenturen ausdrücklich als ratingverbessernde (!) Eigenschaft einer Bank benannt.
Für die Veröffentlichung von Stand-alone-Ratings von Staaten sprechen mehrere Argumente. Erstens sollte den Rating-Agenturen die zur Erstellung dieser Ratings erforderliche Information bereits vorliegen. Es entstehen also kaum zusätzliche Kosten. Denn die Beurteilungen der Kreditwürdigkeit beruhen in aller Regel zunächst auf einer Einschätzung der jeweiligen wirtschaftlichen Einheit in Isolation. Diese wird erst in einem zweiten Schritt in Abhängigkeit von Sicherheiten und Haftungsverhältnissen modifiziert.
Zweitens liefert das Stand-alone-Rating den Investoren zwar eine nur bedingt relevante Aussage, diese aber mit einer möglicherweise entscheidend höheren Präzision. Die Analyse der Kreditwürdigkeit eines Staates in isolierter Betrachtung anhand verfügbarer Daten über Haushalt, Wirtschaftskraft und anderer relevanter Rahmenbedingungen fällt unter die Kernkompetenzen einer Rating-Agentur. Die Frage dagegen, ob eine bestimmte Unterstützungsleistung Dritter erfolgt oder nicht, wird im politischen Raum beantwortet. Sie hängt von individuellen Entscheidungen und auch Zufälligkeiten ab. Eine Prognose ist mit hoher Unsicherheit behaftet. Ob die Rating-Agenturen diese besser durchzuführen vermögen als Dritte, z.B. die Investoren selbst, erscheint zweifelhaft.
Drittens sind spricht als ein zentrales Argument für Stand-alone-Ratings, dass sie eine wichtige Informationsquelle für eine stärker differenzierende Marktwahrnehmung und eine entsprechend reagiblere Preisgestaltung darstellen. Eine verfehlte Haushaltspolitik führt regelmäßig zu höheren Zinsen und damit zu einer raschen Einschränkung der Handlungsspielräume der Regierung. Stand-alone-Ratings können damit helfen, die Lenkungswirkung des Kapitalmarktes wieder zu verstärken.
Viertens bieten Stand-alone-Ratings den Wählern eines Landes eine zusätzliche Information über die Qualität ihrer Regierung – ein willkommenes Korrektiv in Zeiten der kurzfristigen Ausrichtung von Wirtschaftspolitik an Wahlterminen.
Fünftens erlaubt der Vergleich der Stand-alone-Ratings mit den Gesamtratings eine Einschätzung, welchen Wert explizite oder implizite Haftungszusagen für den betreffenden Staat haben.
Offenkundig entspricht ein Verschweigen von Stand-alone-Ratings für Staaten nicht dem Gemeinwohlinteresse, obwohl, oder gerade weil diese Information für die Regierungen unbequem ist und ihnen große Probleme bereiten kann.
Gegen die Veröffentlichung von Stand-alone-Ratings wird geltend gemacht, dass manche Staaten auf dieser Grundlage möglicherweise höhere Zinsen zahlen müssten. Daher werden viele Staaten versuchen, dies zu verhindern. Eine sich abzeichnende Argumentation dürfte dann wie folgt lauten. Wenn sich die EZB für das Stand-alone-Rating entscheiden sollte, hätte das eine sehr starke Signalwirkung für Investoren. Dies würde erfahrungsgemäß aus politischer Sicht als heikel und im jetzigen Marktumfeld als nicht ganz unproblematisch bezeichnet werden. Darüber hinaus dürften die Rating-Agenturen argumentieren, dass ihre Ratings für EWU-Staaten Stand-alone-Ratings sind – auch wenn dies sehr zweifelhaft ist. Die Rating-Agenturen könnten anführen, dass sie in diesem Jahr eine Herabstufung der Ratings für einige EWU-Länder vorgenommen haben, obwohl der Schutzschirm durch die europäische Politik bereits gespannt war.
Offenkundig entspricht eine Verhinderung von Stand-alone-Ratings für Staaten aber nicht dem Gemeinwohlinteresse. Problematisch ist auch die große Marktmacht einiger weniger Rating-Agenturen und die Gefahr, dass diese unter den politischen Einfluss bestimmter Staaten geraten oder bereits geraten sind, auf deren Wohlwollen sie zwingend angewiesen sind. Die Gefahr systematisch verzerrter Ratings ist evident. Solche Ratings spielen eine große Rolle bei der Entstehung der aktuellen Finanzkrise. Dieser Gefahr sind jedoch allen Ratings und nicht nur Stand-alone-Ratings ausgesetzt. Bei diesen dürfte dieses Risiko sogar wegen der höheren Objektivierbarkeit der Ergebnisse eher etwas geringer ausfallen. Grundsätzlich ist aber eine gesunde Skepsis gegenüber Rating-Urteilen angebracht.
Demgegenüber sollte der Signalwirkung der am Markt ermittelten Spreads für Staatsanleihen mehr Vertrauen entgegen gebracht werden – sofern diese nicht durch Anleihekäufe der Notenbank hinunter manipuliert werden. Empirische Untersuchungen zeigen, dass diese selbst in Krisenzeiten systematisch auf Änderungen länderspezifischer Fundamentaldaten wie die fiskalische Position eines Landes reagieren. Zudem spreizen sie sich wieder zunehmend, nachdem sich ihr Abstand in den ersten Tagen nach Spannen des Rettungsschirms verringert hatte. Dies deutet die Ineffizienz des Rettungsschirms an – selbst wenn man ihn nur als Mittel ansieht, um Zeit für eine nachhaltige Lösung zu erkaufen.
- Gastbeitrag
Stand-alone-Ratings für Staaten - 12. Oktober 2010
Den Ansatz, EU-Staaten bei ihrer Finanzierung mehr Eigenverantwortung zu überlassen, halte ich ebenfalls für den sinnvollsten Weg zu vernünftigerem Umgang mit den Staatsfinanzen. Allerdings denke ich, dass der Ansatz, Rating-Agenturen zu irgendetwas zu drängen grundsätzlich schwierig ist. Dabei sind zwei Probleme zu beachten:
– das Geschäftsmodell der Rating-Agenturen als privatwirtschaftliche Institutionen
– die geographisch(geopolitisch) einseitige Konzentration im anglo-amerikanischen Raum
Diese beiden Umstände führen einerseits dazu, dass die Agenturen sich eher ihren Geldgebern (oft den zu bewertenden selbst) verpflichtet fühlen und für geldpolitische Entscheidungen eine problematisch Quelle darstellen. Hinzu kommt, dass die Agenturen für politischen Druck aus Europa eher unanfällig sind, denn politische Einflüsse laufen nach wie vor eher in umgekehrter Richtung über den Atlantik.
Daraus sollte der Schluss gezogen werden, sich hier in Europa nicht blind auf die amerikanischen Ratings zu verlassen und dort anzusetzen, wo direkter Einfluss möglich ist. Das bedeutet, das Kernproblem anzugehen, nämlich die europäische Transferunion. Würde die europäische Politik glaubhaft an der „no-bailout“-Klausel festhalten, gäbe es dieses ganze Theater nicht und jeder (Staaten, Investoren und Ratingagenturen) wüssten, woran sie sind.
Da eine Runde „huge bailouts“, welche Spekulanten, Banken und Staaten mit unverantwortlichen Finanzen gleichsam auf Kosten der Allgemeinheit bevorteilt hat, allerdings schon gelaufen ist, fällt es für die hohen Riegen der Politik nun schwer, den Kurs zu wechseln ohne das Gesicht zu verlieren. Es bleibt die Hoffnung, dass das Pferd Euro nicht weiter stur in eine Richtung geritten wird, bis es zusammenbricht.