Medical Savings Accounts als Reformoption für das deutsche Gesundheitswesen

Die Maßnahmen der Gesundheitsreform, die die große Koalition auf den Weg gebracht hat, zeichnen sich durch eine teilweise unglückliche Ausgestaltung aus und dürften kaum die mit ihnen verbundenen Zielsetzungen wie beispielsweise Beitragsstabilität erreichen. Vor diesem Hintergrund scheint es sinnvoll, auf eine Reformoption hinzuweisen, die erfolgreich in anderen Staaten wie etwa Singapur eingeführt worden ist: Die Medical Savings Accounts (deutsch: Gesundheitssparkonten).

Unter dem Begriff „Medical Savings Accounts“ werden individuelle Konten subsumiert, denen Versicherte regelmäßig einen festgelegten Betrag zuführen und auf diese Weise einen Kapitalstock bilden (Bornemann & Daumann 2006). Diesen Kapitalstock nehmen die Versicherten eigenständig in Anspruch, um vorher festgelegte Gesundheitsleistungen zu finanzieren. Medical Savings Accounts beschreiben folglich eine (limitierte) individuelle Absicherung des Krankheitsrisikos durch Bildung von Rücklagen. Sie entsprechen damit im Charakter einer Selbstversicherung. Über diese grundlegenden Eigenschaften hinaus können Medical Savings Accounts höchst unterschiedlich ausgestaltet sein (Prescott & Nichols 1998; Schreyögg 2003), für eine Einpassung in das deutsche Gesundheitswesen bietet sich jedoch eine verpflichtende Dotierung der Versicherten als prozentualer Anteil am Einkommen an, die nach Erreichen einer Obergrenze für den Kapitalstock ausgesetzt wird. Denkbar wäre also, daß der Versicherte monatlich drei Prozent seines Bruttoeinkommens seinem Gesundheitssparkonto solange zuführt, bis er beispielsweise 20.000 Euro angespart hat. Danach entfallen die Zwangssparbeiträge, bis das Konto wieder durch die Inanspruchnahme unter 20.000 Euro abfällt.

Zum Verständnis des Gesamtkonzepts der Medical Savings Accounts ist es notwendig, sich das Grundkonstrukt einer Krankenversicherung vor Augen zu führen: Eine Krankenversicherung basiert auf einen Tausch des Risikos gegen eine sichere Prämie. Aus dieser Konstruktion erwächst ein Dilemma: Zum einen resultiert aus der Übernahme des Risikos durch die Versicherung für risikoaverse Individuen ein Nutzengewinn. Zum anderen kann der Versicherungsschutz bei asymmetrischen Informationen (die Versicherten haben umfangreichere Informationen als die Versicherung) kostentreibende Verhaltensänderungen der Versicherten induzieren (Moral hazard): Diese bestehen einerseits vor Schadenseintritt in einem risikogeneigterem Verhalten oder dem Verzicht auf individuelle Prävention und andererseits in einer Ausdehnung der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen im Krankheitsfall.

Die Konzeption der Medical Savings Accounts macht sich nun die beiden folgenden Eigenschaften der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen zunutze:

  1. Gesundheitsleistungen sind keine vollkommen homogenen Güter, insofern fällt die Preiselastizität der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen in Abhängigkeit von der Art der Gesundheitsleistungen stark unterschiedlich aus.
  2. Das Ausmaß der Moral-hazard-Effekte korreliert positiv mit der Höhe der Preiselastizität der Nachfrage. Das bedeutet: Bei Gesundheitsleistungen, deren Nachfrage sich vor Abschluß einer Versicherung durch eine hohe Preiselastizität auszeichnet, fällt der Moral-hazard-Effekt größer als bei Gesundheitsleistungen mit geringer Preiselastizität aus.

Damit läßt sich die Nachfrage in Abhängigkeit der Preiselastizität in drei Bereiche unterscheiden, in denen unterschiedlichen Finanzierungsformen für die Gesundheitsleistungen zur Anwendung gelangen (Ramsay 1998, 13; Brunner 1999, 74; Schreyögg 2003, 78):

  1. Der Bereich der sehr elastischen Nachfrage umfaßt wenig kostenintensive, einfache Leistungen mit absehbaren und begrenzten finanziellen Folgen. Hier sind sehr hohe Moral hazard-Effekte zu erwarten, weswegen dieser Nachfragebereich gänzlich der Selbstfinanzierung des Patienten überlassen bleibt (out-of-pocket-Leistungen).
  2. Im Bereich der eher unelastischen Nachfrage nach Gesundheitsleistungen finden sich kostenintensive, zumeist stationäre Behandlungen sowie Behandlungen chronischer Krankheiten, bei denen von nur geringen versicherungsbedingten Verhaltensänderungen ausgegangen werden kann. Das in diesem Bereich sehr geringe Moral-hazard-Risiko geht einher mit einem großen Nutzengewinn aus einer Risikoabsicherung. Folglich werden Gesundheits¬leistungen dieses Bereichs durch die Gesetzliche Krankenversicherung abdeckt, deren Leistungskatalog entsprechend anzupassen wäre.
  3. Der Nachfragebereich mit einer mittleren Elastizität und entsprechend mittlerem Moral hazard-Risiko enthält wenig kostenintensive stationäre sowie ambulante Gesundheitsleistungen. Dieser Bereich wird durch Medical Savings Accounts finanziert.

Ein derartiges System hätte verschiedene Vorzüge:

  1. Existenzbedrohende Erkrankungen werden stets abgesichert.
  2. Die gewünschte Umverteilungswirkung bleibt im Bereich der unelastischen Nachfrage (GKV-Bereich) wie bisher erhalten. Im Bereich der Gesundheitssparkonten ließen sich darüber hinaus Umverteilungselemente durch eine Subventionierung des Ansparbetrags bei sozial schwachen Personen aus Steuermitteln einpassen.
  3. Bei einfachen Gesundheitsleistungen wird aufgrund der direkten Selbstzahlung der kostentreibende Moral-hazard-Effekt komplett beseitigt.
  4. Im Bereich der Gesundheitssparkonten wird ebenfalls der Moral-hazard-Effekt erheblich vermindert, da die Leistungen aus dem individuellen Gesundheitssparkonto gezahlt werden müssen und damit die Beitragsfreistellung aufgeschoben wird. Zudem entfallen die Fehlanreize periodischer Selbstbehalte wie etwa das Aufschieben ambulanter Leistungen in Perioden, in denen der Versicherte sowieso beabsichtigt, weitere Gesundheitsleistungen in Anspruch zu nehmen.

Die Wirksamkeit des Konzepts setzt eine strikte Abgrenzung der drei Nachfragebereiche voraus. Dagegen wirkende Effekte können sich einstellen, wenn es nicht gelingt, die drei Bereiche strikt voneinander abzutrennen: Die Patienten haben stets einen Anreiz, die Finanzierung der in Anspruch genommenen Gesundheitsleistungen über den Leistungskatalog der GKV abzuwickeln. In einem Wettbewerb der Leistungserbringer untereinander und einer Vergütung, die einzelleistungs- oder leistungsbasiert ist, hat auch der Leistungserbringer ein Interesse an der Abdeckung durch die Krankenversicherung, da vor allem in diesem Bereich der Patient einer Ausdehnung der zu erbringenden Leistungen nur geringen Widerstand entgegensetzen wird. Die Folge wäre eine suboptimale Kombination von Therapien, die zu einer Kompensation des Spareffekts führen könnte, indem etwa bisher ambulante Leistungen vermehrt stationär erbracht oder insgesamt kostenintensivere Therapieformen bevorzugt werden, obwohl sie nicht medizinisch indiziert sind. Vor diesem Hintergrund erfordert das Ausschöpfen des Einsparpotentials eine Abgrenzung der drei Bereiche voneinander, die sich weitgehend objektivieren läßt.

Literaturverzeichnis

Bornemann, S., Daumann, F. (2006), Selbstbeteiligung durch Ansparen – Sind Medical Savings Accounts eine Reformoption für die Gesetzliche Krankenversicherung?, in: Daumann, F., Okruch, O., Mantzavinos, C. (Hrsg.), Wettbewerb und Gesundheitswesen: Konzeptionen und Felder ordnungsökonomischen Wirkens. Festschrift für Peter Oberender zu seinem 65. Geburtstag, Budapest, S. 259-271.

Brunner, K. (1999), Partielle Selbstsicherung: Ein Konzept zur Stärkung der Eigenvorsorge der Patienten im schweizerischen Gesundheitswesen. Bamberg.

Prescott, N., Nichols, L.M. (1998), International comparison of medical savings accounts. World Bank Discussion Paper, Nr. 392.

Ramsay, C. (1998), Medical Savings Accounts. Universal, accessible, portable, comprehensive health care for Canadians. Vancouver, B.C.: Fraser Institute.

Schreyögg, J. (2003), Medical Savings Accounts. Eine ökonomische Analyse von Gesundheitssparkonten unter besonderer Berücksichtigung des Gesundheitssystems in Singapur. Nomos: Baden-Baden.

Eine Antwort auf „Medical Savings Accounts als Reformoption für das deutsche Gesundheitswesen“

  1. Moral Hazards: Dieser Effekt ist in diesem Bereich ein ungeeignetes Mittel zur Modellierung des Verhaltens der betroffenen Menschen. Zu unterscheiden ist hier das ex post– und das ex ante-Verhalten.

    Ex post: Niemand wird fahrlässig riskieren, sich Krankheiten oder Verletzungen zuzuziehen, wenn er dies vermeiden kann. Jede Krankheit, die eine Behandlung erfordert, geht mit merklichen Konsequenzen für den Betroffenen einher. Alleine um die kurzfristigen Folgen – von unangenehmen Gefühlen bis hin zu bitteren Schmerzen – zu vermeiden, wird jeder klar denkende Mensch Krankheitsrisiken aus dem Weg gehen, soweit er sich dieser auch nur annähernd bewusst ist.

    Ex ante: Die Behauptung, im Eintrittsfalle würde das Vorhandensein einer die Leistungen begleichenden Versicherung die Nachfrage durch den Versicherten, ergo den Patienten, erhöhen, geht an den Verhältnissen vorbei. Zwar fordert der Patient die Behandlung an sich. Die einzelnen Maßnahmen jedoch, aus denen die Behandlung besteht, werden durch den behandelnden Arzt entschieden. Der Versicherte weiss also nicht einmal, welche Leistungen er überhaupt nachfragen könnte, und selbst unter Medizinern ist die Selbstdiagnose und -medikation verpönt. Und auch, wenn man über Details streiten mag: Der Umfang der Behandlung wird in allererster Linie daran ausgerichtet sein, dem Kranken zur Genesung zu verhelfen, so daß selbst der behandelnde Arzt wenn überhaupt, dann nur einen nur äusserst geringen Handlungsspielraum hat.

    Gesundheitskonten: Es ist, sagen wir, verführerisch, dem Einzelnen die Verantwortung für sein Handeln zu geben. In vielen Fällen ist dies sinnvoll, und in einigen Fällen wäre es wünschenswert; ob dies jedoch im Gesundheitswesen Sinn ergibt, ist eine andere Frage.

    Wenn wir einem Menschen die Verantwortung für sein Handeln geben wollen, müssen wir ihm gleichzeitig die nötige Handlungsfreiheit zugestehen, die er nutzen kann, um negative Konsequenzen entweder zu vermeiden oder auf andere, nämlich auf die tatsächlichen Verursacher, abzuwälzen.

    Und nirgendwo sonst sind – leider – die Informationen über mögliche Zusamenhänge von Ursache und Wirkung so unbestimmt, wie dies aktuell in der Medizin der Fall ist. Eher kann man sich sicher im Strassenverkehr bewegen, als daß man eine klare Anleitung zu einem gesunden Leben befolgen oder gar geben kann.

    Die Vermeidung wird – wie Anfangs schon gesagt – wird jeder schon intuitiv betreiben, so gut er nur kann. Dies jedoch – die eigene Fähigkeit – ist aber gleichzeitig auch die obere Grenze des Machbaren. Um auch noch das letzte Restrisiko von Verletzung oder Krankheit auszuschließen, müssten drastische Maßnahmen getroffen werden. Wie kann ich mich nur mit einem Kollegen unterhalten, ohne eine Ansteckung mit dessen Erkältung oder Grippe zu riskieren? Allein den Weg zu seinem Platz kann ich nicht zurücklegen, ohne zu riskieren, daß ich stolpere und mir den Knöchel verstauche. Und während sich der Alltag im Büro noch recht gefahrenarm ausnimmt – abgesehen von dem gefählichen Weg in das Gebäude -, müssten zum Beispiel Handwerker und Fabrikarbeiter die Arbeit ganz einstellen.

    Die Abwälzung der Kosten von Schäden – nicht nur Gesundheitsschäden – die durch dritte zu verantworten sind, ist zwar bereits in § 823 BGB geregelt. Allerdings wäre dieses Gesetz vollkommen unzureichend. Wen kann denn zum Beispiel der Patient mit Atembeschwerden zur Begleichung der Behandlungskosten heranziehen? Alle Kraftfahrer, die die Luft mit Schadstoffen verunreinigen? Alle Produktionsstätten, die dies tun? Oder nur die in einem gewissen Umkreis? Und dies setzt vorraus, daß man die Ursache bereits genau bestimmt hat, was in vielen Fällen bereits ein Ding der Unmöglichkeit ist.

    Umgekehrt bestünde, wenn der Versicherte zu einer sparsamen Inanspruchnahme von Leistungen gedrängt würde, die Gefahr, daß wichtige Behandlungsschritte aus kurzsichtig getroffenen monetären Entscheidungen nicht durchgeführt werden. So können Nachsorgebehandlungen unterbleiben, so daß sich langfristig die gesundheitliche Beeinträchtigung des Versicherten verlängern, verschlimmern oder wiederholen. Schließlich besteht die Gefahr, daß sich Betroffene – sei es absichtlich oder nur intuitiv – von den durch Gesundheitskonten abgedeckten Bereich in den durch die GKV abgedeckten fallen lassen. Dies wäre dann in der Tat ein Moral Hazard. Einer, der erst durch die Gesundheitskonten geschaffen wurde.

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