Nach der Finanzmarktkrise: Ist der Kapitalismus in der Krise?

Ob die Finanzmarktkrise beendet ist, kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden, zumindest schwere Nachbeben halten an, wenn die Verschuldungskrise europäischer und anderer Staaten mit berücksichtigt wird. Ebenso wenig kann heute bereits eine belastbare Bestandsaufnahme der Vermögensverluste und der gesamtwirtschaftlichen Wirkungen gemacht werden, die der Finanzmarktkrise zuzurechnen sind. Zwei Auswirkungen können allerdings heute schon ausgemacht werden: Erstens ist ein ordnungspolitischer Schwenk festzustellen, bei dem noch nicht einzuschätzen ist, ob er vorübergehend oder anhaltend sein wird. Zweitens ist eine ordnungspolitische Differenzierung verloren gegangen, was als eine kommunikative Fehlleistung einzuschätzen ist, deren Folgen heute ebenso wenig beurteilt werden können. Diese beiden zusammenhängenden Tatbestände bilden den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen, die institutionenökonomischer Natur sind.

Eine undifferenzierte Kapitalismuskritik ist nach der Finanzmarktkrise sehr populär geworden. Marktwirtschaft, selbst  wenn es eine „soziale“ ist, wird gern als Kasino- oder Turbokapitalismus diskreditiert, womit sich Begründung und Argumentation meist erübrigen. Differenzierungen sind weitgehend verloren gegangen. Marktversagen ist längst zu einer Vokabel der Umgangssprache und scheinbar selbsterklärend geworden. So scheint es angemessen geworden zu sein, private Akteure (Bürger wie Unternehmen) als hilfsbedürftig und den Staat als einen leistungsfähigen Retter in der Not zu sehen, dessen Leistungsfähigkeit auch nicht mehr hinterfragt zu werden braucht.  Es muss erstaunen, wie schnell es völlig normal geworden ist, Staat und Politik eine außerordentlich hohe Lösungskapazität für alle Problemlagen in Wirtschaft und Gesellschaft zuzutrauen. So entsteht der Eindruck der Notwendigkeit einer staatlichen Breitbandaktivität als Antwort auf einen Kapitalismus, der in der Krise sei. Sieben Thesen sollen die folgenden Ausführungen strukturieren.

Erstens: Eine kapitalistische Ordnung ist ein konsistentes institutionelles Gerüst, das Orientierung für einzelwirtschaftliche Entscheidungen ermöglicht.

Dieses Regelgerüst liefert Informationen und enthält Anreize für einzelwirtschaftliches Handeln. Es ermöglicht es also nicht nur, Erwartungen zu stabilisieren, wie dies auch andere Regime können. Das Besondere besteht vielmehr in der Schaffung einer konsistenten Anreizstruktur, mit der es gelingt, Gewinnmöglichkeiten und Verlustrisiken auf die einzelwirtschaftlichen Entscheidungsträger zu konzentrieren. Ein anreizkonsistentes Institutionengefüge erzwingt es somit, für die eigenen Entscheidungen auch Verantwortung zu übernehmen, die Handlungsfolgen auf sich zu beziehen. Die Einschränkung individueller Freiräume für opportunistisches Verhalten sollen Raum für Neues und zusätzliche Transaktionen  schaffen, was der Gesellschaft oder der Organisation insgesamt zugute kommen soll.

Zweitens: Menschen schätzen Sicherheit und Garantien.

Sicherheit zählt zu den präferierten Werten. Für Deutschland zeigt dieses hohe Sicherheitsbedürfnis zuletzt eine GfK-Studie vom August 2010. Fast drei Viertel der Befragten hält Sicherheit für den wichtigsten Wert, dessen Bedeutung nach der Finanzmarktkrise deutlich zugenommen hat. Der Wunsch nach Sicherheit bringt das Streben mit sich, Verlustrisiken möglichst auszuschalten ohne die Gewinnmöglichkeiten zu beeinträchtigen. Staat und Politik sind willkommene Adressaten entsprechender Wünsche, entweder auf der Regelebene oder diskretionär in konkreten Einzelfällen. Anreize durch die politischen Rahmenbedingungen bringen es mit sich, ihnen auch zu entsprechen. Dies mag in Krisensituationen besonders drastisch zum Ausdruck kommen, ist aber nicht nur auf solche beschränkt.

Drittens: Die Finanzmarktkrise brachte ein institutionelles Problem zum Ausdruck.

Vielen Akteuren gelang es vor und in der Krise, Verantwortung für eigene Entscheidungen abzuwälzen, Vorteile in Anspruch zu nehmen, negative Folgen jedoch auszulagern. Fast könnte von einer tolerierten oder sogar einer strukturellen Verantwortungslosigkeit gesprochen werden, die mit zu den Krisenursachen zu zählen ist. Offensichtlich war der institutionelle (kapitalistische) Hintergrund im Laufe der Jahre ausgehöhlt  und seine Konsistenz brüchig geworden. Die Restriktionen waren nicht mehr hinreichend bindend, ihre Verletzung wurde nicht oder unzureichend sanktioniert. Dies galt für Unternehmen, vor allem für Banken, aber auch für die Politik. Ein ausgeprägter Mach- und Gestaltbarkeitsglaube dominierte. Banken fanden Wege, der Regulierung auszuweichen, und nutzbare Regulierungslücken. Doch auch Regulatoren überschätzten ihre Möglichkeiten. In- und ausländische Politiker gingen davon aus, dass für sie ökonomische Gesetze nicht gelten würden (z. B. in den USA Hauseigentum für alle) und Wirtschaftsabschwünge verhindert werden könnten. Nicht Marktversagen (Kapitalismuskritik) gilt es also einseitig zu geisseln, sondern es war das Regulierungs- und Politikversagen, das kollektiv schädliche Entscheidungen privater Akteure ermöglichte und so zur Finanzmarktkrise beitrug.

Viertens: Die Reaktionen auf die Finanzmarktkrise förderten „falsche Anreize“, selbst  wenn sie ohne Alternativen waren.

Doch auch die Reaktionen auf die Finanzmarktkrise mit ihren Bürgschaften, Garantien, Hilfspaketen für Banken und Unternehmen sowie Rettungsschirmen für Staaten bestanden aus Maßnahmen, die einen Keil zwischen Gewinnmöglichkeiten und Verlustrisiken trieben, auch als explizites bail-out. Dabei gilt es zu konstatieren, dass es für manche Maßnahmen keine Alternative gab. Doch letztlich gelang es auch auf diese Weise, Kosten auf die Gesellschaft zu verlagern, was Moral Hazard fördert. Menschen werden auch in Zukunft mehr wagen, wenn Andere (beabsichtigt oder unbeabsichtigt) für Verluste einstehen, sie sich die Vorteile aber privat aneignen können. Eine Außerkraftsetzung dieses Zusammenhanges zieht kapitalistischen Ordnungen das Fundament weg.

Fünftens: Mit der Finanzmarktkrise ist ein institutioneller Kollateralschaden zu beklagen.

Es ist anzuerkennen, dass in und nach der Finanzmarktkrise ein staatlicher Krisenpragmatismus berechtigt war. Doch damit auch in Krisenzeiten die ordnungspolitische Glaubwürdigkeit erhalten werden kann, sind institutionelle Prinzipien erforderlich. Diese ermöglichen es, „Außergewöhnliches“ zu tun, ohne es als „gewöhnlich“ einzuschätzen. Die Prinzipien aber entstehen in „Nichtkrisenzeiten“. Sie machen spontane und situativ geprägte Begründungen unnötig und am Ende werden langwierige und konfliktreiche Diskussionen um Exit-Strategien verzichtbar. Wie herausfordernd die Vereinbarung und Umsetzung solcher Strategien ist, haben die vergangenen Monate gezeigt. Fehlt ein glaubwürdiger institutioneller Rahmen werden auch die Maßnahmen zur Krisenbekämpfung beliebig. Diesen gilt es nun wieder bewusst zu machen und zu stärken. Gelingt dies nicht, bleibt ein institutioneller Kollateralschaden, dessen negative Konsequenzen der Finanzmarktkrise anzurechnen sind.

Sechstens: (Kapitalistische)Institutionen benötigen Stabilität und Flexibilität

Gute Institutionen stabilisieren, glaubwürdig sind sie dann, wenn sie beharrend sind. Doch wenn sich wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen verändern, verlieren sie ihre produktive Kraft, sie werden inkonsistent, liefern widersprüchliche Signale. Sie verunsichern die Menschen und schränken ihre Bindungskraft ein. Ein schlechtes Institutionengefüge und diskretionäre Eingriffe fördern den Verlust des Vertrauens in die Institutionen, der sich dann auch auf andere (politische und gesellschaftliche) Institutionen ausdehnen kann. Institutionen verlieren in diesem Prozess ihre Eigenschaft als Vertrauensanker. Vor diesem Hintergrund ist ihre kontinuierliche und behutsame Änderung  notwendig, eine Aufgabe, die Gesellschaft und Politik übernehmen müssen. Nur eine solche ermöglicht Anpassungen ohne krisenhafte Schockkorrekturen, wie wir sie erlebt haben. Dabei geht es aber um Änderungen der Ordnungselemente. Gelingen diese, bleibt Arbeitsteilung mit ihren inhärenten Abhängigkeiten und Ausbeutbarkeiten lohnend ebenso wie langfristig orientierte Entscheidungen. Dies reduziert den aktuellen Hang zur Kurzfristorientierung, der zur Ausbeutung menschlicher und zur Übernutzung natürlicher Ressourcen beiträgt. Wettbewerb ist auch in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht als ein ultrakurzfristiger Vergleich von Alternativen zu interpretieren, ohne an die Konsequenzen nach dieser kurzen Frist zu denken.

Siebtens: Ob der Kapitalismus in die Krise kommt, hängt von uns ab.

Die Finanzmarktkrise ist weder durch eine Kapitalismuskrise ausgelöst noch von einer solchen abgelöst worden. Vielmehr hat sich wieder einmal gezeigt, dass ein konsistenter institutioneller Rahmen – wird er nun als marktwirtschaftlich oder wird er als kapitalistisch bezeichnet – eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist, Finanzmarktkrisen im Idealfall zu vermeiden, zumindest aber glaubwürdig bekämpfen zu können. Der Kapitalismus würde dann in die Krise kommen, wenn die skizzierten Zusammenhänge vergessen oder nicht mehr akzeptiert werden  würden.

Eine Antwort auf „Nach der Finanzmarktkrise: Ist der Kapitalismus in der Krise?“

  1. Kurz und knapp auf den Punkt gebracht !

    Lassen Sie mich einige Anmerkungen dazu festhalten.

    Ich denke, die Definition, was Kapitalismus ausmacht, ist bei uns vollends abhanden gekommen. Der Kapitalist ist dadurch gekennzeichnet, dass er als Gläubiger in der Realwirtschaft durch seinen Zins ( wie auch immer der zu Stande kommen mag ) einen positiven realen Ertrag erwirtschaften kann UND es den Übrigen auch ermöglicht wird voran zu kommen. Es sollte also eine Art Symbiose zwischen Kreditoren und Debitoren geben. In dem heutigen weltweit vernetzten Finanzsystem ist dies nicht der Fall. Die Welt ertrinkt in Verschuldung ohne eine wirkliche Lösung dieser zu haben. Die Geldgeber werden bei einem möglichen Default einfach durch debasiertes Geld befriedigt, was zwar nominal zu einem Anstieg des verfügbaren Vermögens/Einkommens führt, aber Real nichts passieren lässt. Das Ergebnis sind die Rechts- und Linksradikalen die sich auf aufgeblähte Bankbilanzen stürzen und die Endlösung parat zu haben scheinen: noch mehr Schulden und noch mehr Verwerfungen.

    Wenn eine Gesellschaft Entscheidungen dritten Parteien, die mit diesen nichts zu tun haben, überlässt, ist es bereits zu spät Änderungen vor zu nehmen. Der Preis der dann zu zahlen ist, ist nicht materiell auf zu wiegen. Er findet sich in einer strukturellen Zerstörung von Gesellschaftsverbindungen und Auflösung von Moral und Tugend.

    Der Chef von Bridgwater Associates hat diese Symbiose auf einer Konferenz treffend beschrieben: wer es schafft eine Gesellschaft „aufzubauen“ ( also alle Seiten zu befrieden ) wird am Ende auch Real gewinnen. Das dies durch Regierungen nicht möglich ist, sollte nun allen bewusst sein.

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