Gastbeitrag:
Wohlfahrtsverbände – ein unterschätzter Wirtschaftsfaktor

Der deutsche Sozialstaat kennt zahlreiche Institutionen. Zu den bedeutendsten und einflussreichsten gehören die sechs Verbände der freien Wohlfahrtspflege, nämlich Caritas, Diakonie, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden, Rotes Kreuz, Arbeiterwohlfahrt und Paritätischer Wohlfahrtsverband. Die Verbände sind in vielfältiger Weise Akteure der Sozialpolitik: als Interessenvertreter von Hilfebedürftigen, als Berater der Politik, als Mitentscheider in Gremien des Korporatismus, aber vor allem als Anbieter sozialer Dienste. Gleichwohl werden sie in der medialen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.

Dies widerspricht aber nicht nur deren sozialpolitischer Rolle, sondern auch ihrer wirtschaftlichen Bedeutung. So weist die wenig aktuelle Statistik der Bundesarbeitsgemeinschaft der Verbände für Anfang 2008 1,54 Millionen hauptamtliche Beschäftigte aus. Unter den einzelnen Verbänden stellen Caritas und Diakonie mit insgesamt gut 60% das Gros der Arbeitsplätze. Diese beiden kirchlichen Verbände sind damit die größten Arbeitgeber in Deutschland – noch vor den Top-Industrieunternehmen.

Soweit sich Medien mit der freien Wohlfahrtspflege befassen, scheint Schwarz-Weiß-Malerei zu dominieren. Positiv gestimmte Beobachter zeichnen gerne ein Bild uneigennütziger sozialer Einrichtungen, die sich ausschließlich zum Wohle Hilfebedürftiger betätigen und den Staat entlasten. Natürlich sind die Verbände ebenfalls bestrebt, dieses Image zu fördern. Dazu verweisen sie oft auf eine hohe Zahl von 2,4 Millionen ehrenamtlichen Mitarbeitern. Manche kritische Beobachter sehen in den Verbänden hingegen Protagonisten einer Wohlfahrtsindustrie, die darauf abzielt, sich an den Fleischtöpfen des Sozialstaates gütlich zu tun.

Solche Pauschalurteile greifen indes zu kurz. Dafür sind die Strukturen der Verbände zu komplex und ihr Tätigkeitsbereich zu weit gefächert. So lässt sich das breite Tätigkeitsfeld aufgliedern in marktnähere Bereiche, wie Pflegedienste, Pflegeheime und stationäre Krankenversorgung, in denen die Wohlfahrtspflege Leistungen gegen Entgelt anbietet und in Konkurrenz mit privaten Trägern steht, sowie in marktferne Segmente wie Beratungsstellen und Kinderheime. Zumindest in den marktnäheren Bereichen ist die Stilisierung als selbstlose Hilfsorganisationen jedoch schon deshalb fragwürdig, weil hier auch die Einrichtungen der freien Wohlfahrt nur mit professionellem, wirtschaftlich ausgerichtetem Verhalten bestehen können. Das gegenteilige Zerrbild ausgreifender Sozialdienstekonzerne wiederum passt weder zu der fehlenden Gewinnorientierung noch zu der differenzierten Organisation der Verbände. Diese verfügen über keine wesentlichen Lenkungskompetenzen gegenüber den einzelnen (lokalen) Einrichtungen. Letztere (bei der Caritas z.B. handelt es sich dabei um über 20.000 Beratungsstellen, Sozialstationen, Krankenhäuser etc.) sind in der Regel rechtlich selbständig und agieren relativ unabhängig.

Differenzierter Betrachtung bedarf auch das Thema Finanzierung. Die Einrichtungen leben weder allein von Spenden und freiwilliger Tätigkeit der Bürger noch hängen sie ausschließlich am Tropf der Steuerzahler. Das Spendenaufkommen in Deutschland ist sehr volatil, d.h. von singulären Ereignissen wie der Flut in Ostdeutschland 2002 oder Hurricane Katrina bestimmt. Schätzungen zufolge könnten 2008 zwar bis zu 4,5 Milliarden Euro gespendet worden sein – überwiegend für soziale Zwecke. Wie viel davon tatsächlich an die Wohlfahrtsverbände geflossen ist, lässt sich hier jedoch nicht feststellen. In jedem Fall dürfte der Großteil der Spenden an die Verbände aber zweckgebunden sein und überwiegend marktferne Bereiche betreffen.

Die öffentlichen Zuwendungen – ebenfalls meist zweckgebundene Zahlungen – und Steuervergünstigungen belaufen sich Schätzungen zufolge auf insgesamt rd. 0,6 Milliarden Euro. Ferner fördert der Bund Zivildienststellen bei den Verbänden durch Übernahme von Kosten (rd. 70% des Lohnes und der Sozialversicherung) im Volumen von geschätzten 330 Millionen. Zweifellos sind dies erkleckliche Beträge, die auf den Prüfstand gehören. So lässt sich die Körperschafts- und Gewerbesteuerbefreiung gemeinnütziger Einrichtungen (EUR 220 Millionen) heute kaum noch rechtfertigen. Das gilt zumindest für den Krankenhaus- und den Pflegebereich, wo die gemeinnützigen Träger mit privaten Angeboten konkurrieren. Von anderen Vergünstigungen wie der Umsatzsteuerbefreiung für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen profitieren indes grundsätzlich auch private Anbieter. Diese Subventionen wirken also zumindest auf den betreffenden Märkten weniger verzerrend. Beim Zivildienst, den die Bundesregierung ja aussetzten will, dürfte der wirtschaftliche Nutzen angesichts der kurzen Dauer von nur noch sechs Monaten schon heute sehr begrenzt sein.

Es lässt sich also darüber streiten, ob die Vergünstigungen das Verdikt staatlicher Kostgängerschaft rechtfertigten. Richtig ist freilich, dass die Einnahmen der Verbände überwiegend aus staatlichen Quellen stammen, nämlich aus Entgelten für Dienste, die die freie Wohlfahrt auf Rechnung der Sozialversicherungen und von Ländern und Kommunen erbringt.

Die Höhe der Umsätze und damit auch die Wertschöpfung der Wohlfahrtsverbände bleibt mangels verfügbarer Daten weitgehend im Dunkeln. Für die stationäre Gesundheitsversorgung, die Pflege sowie die Rettungsdienste sind jedoch (überschlägige) Berechnungen anhand der Statistik der Gesundheitsausgaben möglich. Demnach dürfte das Leistungsvolumen (Umsätze minus Vorleistungen für Waren) in den genannten Bereichen rund 40 Milliarden Euro betragen. Dies reflektiert die hohen Marktanteile der freigemeinnützigen Träger von über 50% bei Pflegeeinrichtungen und mehr als einem Drittel bei Krankenhäusern. In diesen Wachstumsbereichen verlieren die gemeinnützigen Träger zwar Marktanteile gegenüber privaten Einrichtungen. Sie können sich aber besser behaupten als die öffentlichen Träger. Dabei dürften die Wohlfahrtsverbände von ihrer weithin guten Reputation in der Bevölkerung profitieren.

Das Leistungsvolumen in den marktferneren Bereichen, wie Kinder-, Jugend- und Familienhilfe sowie andere soziale Dienste, liegt wohl in einer fast ähnlichen Größenordnung. Freilich ist hier der Mangel an aussagekräftigen aggregierten Daten besonders eklatant. Gewisse Rückschlüsse erlaubt aber die hohe Zahl der Beschäftigen – weit mehr als 40% der hauptamtlichen Beschäftigten der Wohlfahrtsverbände sind hier tätig. Ein weiteres Indiz sind die hohen Ausgaben der Kommunen für die Kinder- und Jugendhilfe sowie für Eingliederungshilfen für Behinderte, die 2008 insgesamt 37 Milliarden Euro betrugen.

Gerade in den marktferneren Bereichen besteht ein erhöhtes Risiko von Ineffizienzen und von Rent-seeking-Verhalten der Anbieter. Hier gibt es ein kaum überschaubares Geflecht vielfältiger Ansprüche der Bürger auf Hilfe. Die Anbieter erbringen ihre Leistungen für die einzelnen Hilfebedürftige und im Benehmen mit diesen, aber auf Rechnung der (kommunalen) Sozialbehörden. Und wesentliche Mittel werden über korporatistische Institutionen wie die Jugendhilfeausschüsse verteilt. Aus dem Mangel an Transparenz, an Kostenverantwortung sowie an effizienten Steuerungs- und Koordinierungsmöglichkeiten der verschiedenen Kostenträger resultiert die Gefahr vielfacher Fehl-, Über-, aber auch Unterversorgung. Darauf deutet auch der kräftige Anstieg einschlägiger kommunaler Sozialausgaben (z.B. Hilfen für Erziehung +36% in den letzten Jahren) hin, der mit eher spärlichen Erfolgsmeldungen kontrastiert. Freilich ist das Wuchern des Sozialstaates in diesem Bereich in erster Linie dem Gesetzgeber anzulasten.

Für die Verbände bleibt aber vor allem die Forderung nach mehr Transparenz. Das sollte schon bei den von manchen Akteuren – zumindest auf der zentralen Ebene –wenig gepflegten Daten beginnen. Mit aussagekräftigen, zeitnahen Daten nicht nur zur Beschäftigung, sondern auch etwa über Umsätze, wäre das Wirken der freien Wohlfahrtsverbände einfacher zu bewerten. Und die Verbände könnten der Neigung mancher Medien zur Mythenbildung besser entgegenwirken.

Im eigenen Interesse der Wohlfahrtsverbände läge es auch, ihr Konzept gemeinnütziger Tätigkeit in den marktnahen Bereichen stärker zu evaluieren. Über privatwirtschaftliche Unternehmensausgründungen, bei denen gemeinnützige Verbände als tragende Gesellschafter fungieren, könnte die Wettbewerbsposition vieler zugehöriger Einrichtungen wohl nachhaltig gestärkt werden. Einerseits würde sich die Kapitalbeschaffung über die Möglichkeit der Eigenkapitalfinanzierung verbilligen. Das Beispiel privater Kliniken zeigt, dass hier eine verbesserte Innenfinanzierung von Investitionen möglich ist. Gerade aber die Fähigkeit, Investitionen – auch ohne die immer knapperen öffentlichen Mittel – frei zu tätigen, dürfte in geraumer Zeit ein wesentlicher Wettbewerbsvorteil sein. Weiterhin dürfte eine Beteiligung von Eigenkapitalgebern zu einer Professionalisierung der Aufsichtsgremien beitragen. Im freien Wettbewerb generierte Erträge könnten dann zu einer Querfinanzierung klassischer Sozialwirtschaftsbereiche dienen.

Hinweis: Alexander Falter ist Student an der Universität Passau.

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