Es gibt sie wieder: zwei wirtschaftspolitische Lager, die einander unversöhnlich gegenüberstehen und diametral entgegengesetzte Politikempfehlungen propagieren. Wie schon in der Fiskalismus-Monetarismus-Kontroverse des vergangenen Jahrhunderts steht erneut eine eher keynesianische Richtung der marktprozessorientierten, das heißt einer dem Wirkungsmechanismus der wettbewerblichen Preisbildung vertrauenden Position gegenüber.
Die keynesianische Position wird durch ihre Galionsfigur, den Nobelpreisträger Paul Krugman, repräsentiert, der eine Mischung aus postkeynesianischer und „Beggar-thy-neighbor“-Theorie propagiert. Die marktprozessorientierte Sicht verfügt derzeit über keinen so dominanten Frontkämpfer. Dennoch prägen vor allem monetaristische und „österreichische“ Positionen die aktuelle Debatte, da diese vergleichsweise großen Spielraum für gleichgewichtsfernere Zustände einräumen. Wie sehen die grundlegenden Erklärungsmuster dieser beiden Lager aus? Welche wirtschaftspolitischen Konsequenzen ergeben sich daraus und welche der Rezepte erscheinen aus aktueller Sicht erfolgversprechender? Diesen Fragen wollen wir im Folgenden nachgehen.
1. Die keynesianische Erklärung der Finanz- und Wirtschaftskrise
Die Finanz- und Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre wird im Allgemeinen auf vier potenzielle Ursachen zurückgeführt: (1) die Geldpolitik der westlichen Zentralbanken, (2) die US-amerikanische Immobilienpolitik, (3) den ausufernden Einsatz neuer, intransparenter Finanzinstrumente sowie (4) die Außenhandelsungleichgewichte zwischen den großen wirtschaftlichen Nationen. Weitgehend wird akzeptiert, dass alle vier Faktoren eine gewisse Rolle bei der Entstehung der Finanzmarktblase eingenommen haben könnten, die Gewichtung zwischen den wirtschaftstheoretischen Schulen unterscheidet sich allerdings erheblich.
Aus keynesianischer Sicht werden der Geldpolitik und der US-amerikanischen Immobilienpolitik nur untergeordnete Bedeutungen eingeräumt. Die Verwerfungen im Finanzsektor werden als Problem anerkannt, es wird jedoch bezweifelt, ob sie die Blasenbildung an den Vermögensmärkten erklären können.
Die Außenhandelsungleichgewichte gelten folglich als zentrale Ursache der Krise: Eine Reihe von Nationen wies in den vergangenen zehn Jahren Außenhandelsüberschüsse auf. Das zusätzliche Sparen in diesen Ländern bewirkt Kapitalexporte in andere Länder. In den das Kapital aufnehmenden Ländern erhöht sich die Nachfrage nach Vermögensobjekten: Immobilien- und Wertpapierpreise steigen, und die Dauerhaftigkeit dieser Entwicklung nährt die Erwartung auch zukünftiger Vermögenspreiserhöhungen. Haushalte und Unternehmen bauen Schuldpositionen auf, um – durch Kauf von Immobilien oder Wertpapieren – an diesem Prozess zu partizipieren. Es entwickelt sich eine Preiserhöhungsdynamik, die sich aus immer optimistischeren Erwartungen und den dauerhaften Kapitalzuflüssen speist.
Da eine solche Dynamik mangels realwirtschaftlicher Basis nicht endlos fortgesetzt werden kann, kommt es schlussendlich zum Platzen der Blasen. Der damit verbundene plötzliche Vermögensverlust zwingt Haushalte und Unternehmen, den in der Hausse aufgebauten Schuldenberg gleichzeitig abzubauen, was einen Einbruch der Güternachfrage bedeutet. Es folgen Arbeitslosigkeit und konjunkturelle Selbstverstärkungseffekte. Die durch Finanzinnovationen verursachte Bankenkrise verschärft diesen Prozess noch einmal.
Die hier grob skizzierte keynesianische Theorie wird in Abbildung 1 noch einmal zusammengefasst.
Abbildung 1: Die Entstehung der Krise aus keynesianischer Sicht
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Die wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen aus dieser Interpretation der Krise liegen auf der Hand: (a) Die Geldpolitik sollte deutlich expansiv ausgerichtet sein. Vertreter der keynesianischen Position schlagen sogar eine Erhöhung des Inflationsziels vor. Diese wirkt kurzfristig konjunkturbelebend und hilft zugleich beim Prozess der Entschuldung. (b) Natürlich bietet sich auch eine Erhöhung der Staatsausgaben an. Da die privaten Akteure eifrig bemüht sind, ihren Schuldenberg durch konsequentes Sparen (= Rückgang der Nachfrage) zu verringern, könnte der Staat nunmehr kompensierend einspringen, indem er sich aktiv verschuldet (= entspart). (c) Mit besonderem Nachdruck wird – insbesondere von Paul Krugman und seiner Ehefrau und Koautorin Robin Wells – die Zähmung der Exportnationen gefordert. Diese lebten auf Kosten des Rests der Welt, sodass es an der Zeit sei „dass der Rest Europas beginnt, Deutschland zur Verantwortung zu ziehen“ (Krugman und Wells, 2010).
Im Hinblick auf die üblicherweise anerkannten langfristigen Risiken wird festgestellt, dass sie derzeit nicht das Problem seien: Es gelte nicht Inflation, sondern Deflation zu bekämpfen; nicht die Staatsverschuldung sei momentan gefährlich, sondern die drohende Arbeitslosigkeit.
2. Die marktprozesstheoretische Erklärung der Finanz- und Wirtschaftskrise
Die marktprozesstheoretische Interpretation gewichtet die Bedeutung der Ursachen für die Wirtschaftskrise beinahe spiegelbildlich zum keynesianischen Modell. Die Hauptursache für die Entwicklung der Blasen wird in der Geldpolitik gesehen.
Das durch die expansive Geldpolitik in die Wirtschaft gepumpte Übermaß an Liquidität veranlasste insbesondere Finanzinstitutionen zur Anlage in Vermögensmärkten. Die dadurch gestiegene Vermögensnachfrage verursachte Vermögenspreiserhöhungen. Die sich dabei einstellende Eigendynamik steigender Kurse verstärkte den Anreiz, weitere liquide Mittel in die Finanzmärkte zu lenken. Die geringen Refinanzierungskosten ermöglichten auch eine großzügigere Kreditvergabe zur Finanzierung von Investitionen, die ihrerseits konjunkturbelebend wirkten.
Die Rollen der Immobilienpolitik und der Finanzinnovationen werden ähnlich wie im keynesianischen Ansatz gesehen, allerdings etwas stärker betont.
Die Außenhandelsungleichgewichte werden zwiespältig betrachtet: Einerseits sollte langfristig ein Gleichgewicht im Außenhandel erreicht werden. Dauerhafte Defizite beinhalten ein Verschuldungsrisiko, während dauerhafte Überschüsse bedeuten, dass die Volkswirtschaft Güter an das Ausland verschenkt, ohne eine adäquate Gegenleistung zu erhalten. Andererseits, und dies dürfte noch wichtiger zu sein, sollte die Frage der Überschüsse und Defizite durch die Märkte gelöst werden. Schließlich gibt es gute Gründe dafür, warum alternde Gesellschaften wie Deutschland oder China zurzeit mehr sparen als andere. Dem höheren heutigen Sparen steht ein künftiges Entsparen zwecks Konsums im Alter gegenüber.
Es ist auch wichtig zu verstehen, dass es nicht „die Staaten“ sind, die ein Handelsdefizit „wählen“. Vielmehr entscheiden die Konsumenten in den Ländern selbst, welche Produkte sie importieren und welche nicht. Wenn nun Deutschland und China vorgeworfen wird, die eigene Wirtschaft durch Außenhandelsüberschüsse auf Kosten anderer Länder zu stützen, so heißt das nichts anderes, als dass scheinbar unmündige amerikanische Konsumenten gegen ihre eigenen Interessen dazu verführt würden, die falschen – deutsche und chinesische – Güter zu kaufen.
Die Blasenbildung hat auch realwirtschaftliche Folgen: Die künstlich auf zu niedrigem Niveau gehaltenen Zinsen veranlassen Investoren zu vermehrten Investitionen in (unter normalen Zinsbedingungen) unrentable Projekte. Konsumenten überschätzen den Wert ihrer Vermögensobjekte und neigen zu überhöhten Konsumausgaben.
Das Platzen der Blasen zeigt den Haushalten und Unternehmen, dass sie den Wert der Vermögensobjekte falsch eingeschätzt haben und offenbart die Fehlerhaftigkeit mancher der zuvor getätigten Investitionen und Kauf- oder Anlageentscheidung. Diese Einsicht zieht einen Anpassungsbedarf an die neuen Gegebenheiten nach sich: Der Schuldenstand muss verringert und das Kapital in die beste Verwendung gelenkt werden. Letzteres ist mit einem Abbau von Kapazitäten in bestimmten Branchen verbunden, der konjunkturdämpfend wirkt, da der Aufbau neuer Strukturen erst mit zeitlicher Verzögerung erfolgen kann.
Der konjunkturelle Abschwung nimmt somit den Charakter einer Anpassungs- und Restrukturierungsrezession an, in der die Wirtschaft einen unverzichtbaren Gesundungsprozess durchläuft. Einen Überblick über die Zusammenhänge aus marktprozesstheoretischer Sicht liefert Abbildung 2.
Abbildung 2: Die Entstehung der Krise aus marktprozesstheoretischer Sicht
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Aus wirtschaftspolitischer Sicht impliziert die Betrachtung der Wirtschaftskrise als Anpassungsrezession, dass sie (a) auch durchlebt werden muss. Die Restrukturierung benötigt Zeit und ihre Behinderung verzögert die erforderlichen Maßnahmen allenfalls. (b) Im Rahmen der Restrukturierung anfallende soziale Härten sollten abgefedert werden, ohne den Anpassungsprozess zum Erliegen zu bringen. (c) Maßnahmen expansiver Konjunkturpolitik sind nur insoweit sinnvoll, als sie konjunkturelle Selbstverstärkungseffekte verhindern. (d) Grundsätzlich gilt das Primat der Preisstabilität, da Inflation den Marktprozess in seiner Funktionsfähigkeit stark beeinträchtigt. Demzufolge wird das durch die Geldpolitik bereits aufgebaute Inflationspotenzial schon jetzt als reale Bedrohung wahrgenommen. (e) Die Regulierung des Finanzsektors muss reformiert werden. Dabei ist von zentraler Bedeutung, dass alle an den Finanzmärkten aktiven Akteure zumindest teilweise für ihre Entscheidungen haften. Solange anderenfalls Aktionäre, Bankmanager, Wertpapierhändler und Finanzminister Gewinne privatisieren, Verluste aber sozialisieren können, ist auch zukünftig mit Finanzkrisen zu rechnen.
3. Ein Vergleich
Aus theoretischer Sicht fallen vor allem drei zentrale Unterschiede auf: (1) Während die eher keynesianisch ausgerichteten Ökonomen die Hauptursache oftmals im übermäßigen Sparen einiger Nationen und den daraus resultierenden Außenhandelsungleichgewichten sehen, betonen marktprozesstheoretisch ausgerichtete Ökonomen die expansive Geldpolitik in Vergangenheit und Gegenwart. (2) Im Gegensatz zu den Keynesianern weisen marktprozessorientierte Ökonomen der Krise auch eine allokative Funktion zu. (3) Keynesianer konzentrieren sich in ihrer Argumentation auf kurzfristige Effekte, während prozessorientierte Ordnungsökonomen eine eher mittelfristige Betrachtung vornehmen.
Gerade im Hinblick auf die Entstehung der Krise stellen sich unmittelbar Fragen an den Populär-Keynesianismus Krugmanscher Prägung: Wenn das Hauptproblem im übermäßigen Sparen und den Exportüberschüssen der Überschussländer liegt, so müssten diese auch selbst von ihrer Sparneigung betroffen sein. Wieso trifft das nicht zu? Wie konnten gerade zu Zeiten hoher Außenhandelsdefizite (2004 – 2007) auch die Defizitländer stark wachsen? Könnte man den Zusammenhang nicht auch vollständig umdrehen in dem Sinn, dass das hohe Wirtschaftswachstum der Defizitländer die Güter anderer Länder ins eigene Land „saugen“ und damit ihrerseits die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte erzeugen?
Die keynesianischen Politikempfehlungen versprechen zwei Chancen: die kurz- bis mittelfristige Vermeidung von Arbeitslosigkeit und die in denselben Fristen erhofften höheren Einkommen. Eine solche Aussicht ist nicht gering zu schätzen, wird aber relativiert, wenn das Wirtschaftswachstum bereits wieder angesprungen ist. Da Letzteres für Deutschland inzwischen zutrifft, sind die Chancen der expansiven Politik mit nur begrenzter Wahrscheinlichkeit und nur in sehr begrenztem Umfang realisierbar.
Die keynesianischen Politikvorschläge beinhalten auch Risiken: In der kurzen Frist ist vorrangig die Verlangsamung der Restrukturierung der Wirtschaft zu nennen. Mittelfristig könnten sich die konjunkturellen Erfolge abermals als Scheinblüte erweisen. Mittel- bis langfristig besteht die sehr ernst zu nehmende Gefahr des Auslösens einer inflatorischen Eigendynamik. Die in diesem Jahr durchgeführten Maßnahmen der Europäischen Zentralbank zeigen, dass die Gefährdung der Preisstabilität alles andere als theoretischer Natur ist. Gab es bei der Einführung des Euros noch den vermeintlichen Stabilitätskonsens, so findet heute bereits ein offener Machtkampf der Stabilitätskulturen statt. Langfristig droht schließlich die Handlungsunfähigkeit des Staates durch eine ausufernde Staatsverschuldung.
Die Chancen und Risiken der marktprozessorientierten Wirtschaftspolitik sind im Wesentlichen das Spiegelbild der keynesianischen Politikmaßnahmen. Fasst man die Chancen und Risiken der keynesianischen Politikmaßnahmen zusammen, so übertreffen die Risiken einer expansiven Geld- und Fiskalpolitik die damit verbundenen Chancen derzeit deutlich. Dies gilt insbesondere für ein bereits im Aufschwung befindliches Deutschland, dessen Arbeitslosigkeit inzwischen wieder unter die Grenze von drei Millionen Erwerbslosen gesunken ist.
Literatur
Krugman, Paul und Robin Wells (2010): The Way Out of the Slump, in The New York Review of Books, Oktober 2010, abgerufen am 21.11.2010 unter.
Hinweis: Dieser Beitrag erscheint in seiner Langfassung demnächst in der Fachzeitschrift WiSt.
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