Seit dem 1. Mai dieses Jahres können Bürger aus den mittel- und osteuropäischen Mitgliedsländern der EU (MOL) – mit Ausnahme von Rumänien und Bulgarien, die zum 1. Januar 2014 folgen – nach Deutschland kommen und ungehindert als abhängig Beschäftigte arbeiten. Die Grundlage hierfür ist die in Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) garantierte Arbeitnehmerfreizügigkeit. Anders als Großbritannien, die Niederlande, Schweden, Dänemark und Irland hatte Deutschland für einen Gesamtzeitraum von sieben Jahren – gerechnet ab dem Beitrittszeitpunkt der MOL am 1. Mai 2004 – eine Ausnahmeregelung in Anspruch genommen, die die Arbeitnehmer-freizügigkeit und damit einen Teil des europäischen Binnenmarktes außer Kraft setzte, der insgesamt die vier Grundfreiheiten: freier Warenverkehr, freier Dienstleistungsverkehr, Freizügigkeit des Personenverkehrs – hier in Form der Arbeitnehmerfreizügigkeit – und den freien Kapitalverkehr umfasst. Grund dafür war die Befürchtung einer starken Belastung des deutschen Arbeitsmarktes durch emigrationswillige EU-Neubürger – und dies angesichts einer zu diesem Zeitpunkt hohen Zahl an Arbeitslosen in Deutschland (die Arbeitslosenquote betrug im Januar 2004 12,2 Prozent und war in den neuen Bundesländern mit 20,8 Prozent noch deutlich höher). Doch diese Übergangszeit ist nun abgelaufen, so dass sich die Frage nach dem Ausmaß und den Auswirkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit (erneut) stellt.
Das Ausmaß der Arbeitskräftewanderung richtet sich zunächst einmal nach der Lohndifferenz zwischen Deutschland und den entsprechenden MOL, die dann am größten ist, wenn Arbeitswillige in ihrem Heimatland arbeitslos sind. Dieser Anreiz ist sicherlich nach wie vor gegeben, aber er ist im Verhältnis zu 2004 deutlich gesunken. Grund hierfür ist der von Beginn der Mitgliedschaft an – weitgehend – freie Kapitalverkehr, der zu Direktinvestitionen westeuropäischer Firmen in den MOL geführt hat. Diese Direktinvestitionen haben den Arbeitsmarkt in den betroffenen Ländern belebt und dort über einen Anstieg der Arbeitsnachfrage zu deutlich höheren Löhnen und einer verbesserten Beschäftigungssituation geführt. Ferner wird das Ausmaß der Wanderung (negativ) von Wanderungskosten wie etwa Sprachbarrieren, Probleme bei der Anerkennung von Bildungsabschlüssen, sozialen und kulturellen Faktoren beeinflusst. Ein weiterer Teil immigrationswilliger Arbeitskräfte aus den MOL arbeitet zudem bereits in Deutschland – aber nicht als Arbeitnehmer, sondern als (Schein-)Selbständige. Da die Dienstleistungsfreiheit unmittelbar mit dem Beitritt im Mai 2004 gewährleistet wurde, ließ sich die bis 2011 ausgesetzte Arbeitnehmerfreizügigkeit auf diese Weise (zum Teil) schon vorher umgehen.
Die verbleibenden Arbeitskräftewanderungen (Abwanderungen in den MOL, Zuwanderung in Deutschland) werden die Löhne in den MOL (weiter) ansteigen lassen, während sie in Deutschland unter (Konkurrenz-)Druck geraten. Ist der Faktor Arbeit homogen (gleiche Qualifikationen) und liegen keine staatlichen oder „natürlichen“ Wanderungsbeschränkungen beziehungsweise –kosten vor, dann könnte es im Grenzfall längerfristig zu einem Ausgleich der Lohnniveaus kommen. Sind die zuvor angegebenen Bedingungen hingegen nicht (komplett) erfüllt, wird eine mehr oder weniger große Lohndifferenz zwischen Ost und West verbleiben, ohne dass dies weitere Arbeitskräftewanderungen auslöst.
Der wanderungsbedingte Wettbewerbsdruck auf den europäischen Arbeitsmärkten führt in den MOL dazu, dass sich die Zahl der Arbeitskräfte reduziert und damit der Lohn tendenziell steigt – zum Vorteil der dort verbliebenen Arbeitskräfte. In Deutschland führt das erhöhte Angebot an Arbeitskräften hingegen zu tendenziell sinkenden Löhnen, die den Faktor Arbeit und damit auch die Produktion verbilligen. Sinkende Löhne könnten zwar insgesamt zu einer erhöhten Nachfrage nach Arbeit von Seiten der Unternehmen führen, die allerdings mit einer teilweisen Substitution von deutschen durch mittel- und osteuropäische Arbeitnehmer verbunden sein wird. Dies wird umso eher der Fall sein, je weniger es gelingt, das erhöhte Arbeitsangebot durch einen – wachstumsbedingten – Anstieg der Arbeitsnachfrage zu kompensieren.
Die zuvor erläuterten (drohenden) Arbitragewirkungen versucht man nun seit einiger Zeit in Deutschland durch (zunehmende) Mindestlohnvorschriften abzuschwächen. Dies geschieht im Rahmen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (BGBl. I 2009, S. 799), das Mindestlöhne für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in bestimmten Branchen Deutschlands verbindlich machen kann – unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seinen Sitz im In- oder Ausland hat. Das Gesetz orientiert sich somit am Arbeitsortprinzip. Da für die Arbeitnehmerfreizügigkeit das Prinzip der Nichtdiskriminierung (Gleichbehandlung von In- und Ausländern) gilt, führen in Deutschland vereinbarte Mindestlöhne dazu, dass diese Löhne auch an ausländische Arbeitskräfte gezahlt werden müssen, obgleich diese – vor dem Hintergrund der Bedingungen in den Heimatländern – auch zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten bereit wären. Mindestlöhne führen folglich dazu, dass Wettbewerbs-vorteile ausländischer Arbeitskräfte künstlich reduziert oder ganz zunichte gemacht werden und damit das Ausmaß der Wanderungsbewegungen entsprechend reduziert wird. In Großbritannien hat dies in den Jahren nach 2004 dazu geführt, dass zwar nur etwa zwei Prozent der britischen Arbeitnehmer den landeseinheitlichen Mindestlohn erhielten, im Gegensatz dazu allerdings ein erheblicher Teil der ausländischen (zumeist polnischen) Arbeitnehmer. Die Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften und der mögliche Verdrängungseffekt bei britischen Arbeitnehmern wären somit ohne Mindestlohn möglicherweise noch höher gewesen.
Unproblematisch(er) ist hingegen der Teil des Arbeitsmarktes, auf dem eine Überschussnachfrage nach Arbeitskräften besteht – inländische Arbeitskräfte also nicht in ausreichenden Maß verfügbar sind. Dies gilt sowohl für die aktuelle Situation in einzelnen Segmenten (Facharbeiter, Ingenieure usw.) als auch für demographisch bedingte Mangelsituationen ab etwa 2025. In diesen Bereichen führt die Immigration nach Deutschland gerade dazu, dass auch künftig ein angemessenes Wirtschaftswachstum realisiert werden kann. Das erfordert aber auch, dass es gelingt, entsprechend qualifizierte Arbeitskräfte für eine Arbeitsaufnahme in Deutschland zu gewinnen. Ähnliche demographische Entwicklungen in den MOL werden ferner dazu führen, dass aufgrund der Angebotsverknappung die Arbeitslosigkeit dort zunehmend abgebaut wird und zudem die Löhne (weiter) steigen werden, was wiederum Wanderungsbewegungen entgegenwirkt.
Im Gegensatz dazu wäre eine Immigration aufgrund unterschiedlich hoher Sozialstandards mit erheblichen Kosten für die deutsche Volkswirtschaft verbunden. Eine solche Sozialarbitrage ist jedoch mit erheblichen „Anlauf“-Kosten für die Betroffenen verbunden, da ein Anspruch auf Leistungen erst nach fünf Jahren Aufenthalt in Deutschland entsteht. Das Recht, sich länger als drei Monate in einem anderen Mitgliedsland aufzuhalten setzt gemäß Richtlinie 2004/38/EG die „Ausübung einer abhängigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit oder Nachweis ausreichender Mittel und einer Krankenversicherung [voraus], so dass während des Aufenthalts keine Sozialleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch genommen werden müssen …, [die] Absolvierung eines Studiums … oder die betreffende Person ist Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der die oben genannten Bedingungen erfüllt.“ Hält sich ein Unionsbürger rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmeland auf, erwirbt er das Recht auf Daueraufenthalt. Diese Zeit muss folglich zunächst finanziell – möglicherweise auch durch Schwarzarbeit – überbrückt werden, bevor Ansprüche entstehen. Aufgrund dieser Restriktionen erscheint Sozialarbitrage im großen Stile aber eher unwahrscheinlich.
Fasst man die zuvor angestellten Überlegungen zusammen, so sind Lohndruck und Verdrängungseffekte als Folge der Arbeitnehmerfreizügigkeit gegenüber den MOL in Deutschland in erster Linie im Bereich gering qualifizierter Arbeitskräfte zu erwarten. Der Druck auf diesen Teil des deutschen Arbeitsmarktes hat sich jedoch in den vergangenen sieben Jahren der Übergangszeit durch neue Beschäftigungsmöglichkeiten und höhere Löhne in den MOL deutlich reduziert. Im Bereich mittel und hoch qualifizierter Arbeitskräfte wird es keine gravierenden Anpassungsprobleme geben, da es dort eher eine Überschuss-nachfrage am deutschen Arbeitsmarkt gibt, die in den kommenden Jahren noch zunehmen wird. Auch die Gefahr der Sozialarbitrage scheint aufgrund der bestehenden Regelungen weitgehend gebannt, so dass man insgesamt den kommenden Entwicklungen an den deutschen Arbeitsmärkten und im Sozialsystem – vor dem Hintergrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai 2011 – gelassen entgegenblicken kann.
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In der Tat gilt der letzte Satz, das Grosse und Ganze betrachtend, mit ziemlicher Sicherheit. Lediglich ist es so, dass diejenigen Individuen, die zurzeit im zukünftig wohl stärker umkämpften Niedriglohnsektor beschäftigt sind, wohl vorrangig ihr Einzelschicksal im Blicke haben – lautet es bald Arbeitslosigkeit, so ist deren Sorge verständlich. Betrachtet man insbesondere die Wählerzahlen der linken Parteien in Deutschland, so gibt es anscheinend einige derer, denen die besagte Sorge nicht genommen werden konnte. Und letzten Endes ist es wohl auch zu fragen, was aus der Sicht eines Freisinnigen für ebendiese Individuen getan werden könnte – die Einführung von Mindestlöhnen ist es sicher nicht.